Einen Monat bestand sie, die Anfang Mai 1980 gegründete „Freie Republik Wendland“ der Atomkraftgegner nahe Gorleben, dem Abfall-, Zwischen- und möglichen Endlager von Atommüll. Die Menschen im Landkreis Lüchow-Dannenberg erinnern sich noch daran. Es ist nicht nur Erinnerung, denn eine Lösung des Konflikts, der damals einen ersten Höhepunkt erreichte, ist auch heute nicht abzusehen. Nach dem Atommüll-Endlager wird nämlich immer noch gesucht, und das Salzbergwerk Gorleben ist nach wie vor – trotz seiner Mängel, die immer bekannt waren – der Favorit der Politiker; sie leugnen das zwar, doch hinreichend viele Indizien belegen es.
Kernkraftwerke sollten die Antwort auf die von der OPEC in den 1970er Jahren beschlossene Ölpreiserhöhung sein, obwohl ihr Bau und Betrieb für die Republik – von der späteren Stilllegung und den sich auf Zigmillionen Jahre erstreckenden Folgen ganz zu schweigen – selbst nicht gerade ein Schnäppchen war. Schon wegen des strahlenden Mülls hätten sie gar nicht erst gebaut werden dürfen. Und wenn doch, durfte der Müll nicht unter Gorleben gelagert werden, das in ersten Überlegungen geeigneter Orte ganz hinten rangierte. An den Kriterien gemessen, die vorgegeben wurden, erreichte der dortige Salzstock 32 von 266 Punkten. Für den Ort sprach allerdings, dass nicht viele Menschen in der Umgebung wohnten und die ganze Gegend, als an die DDR grenzendes Randgebiet, nicht sehr bekannt war; man glaubte, hier sei nicht viel Protest der Bürger zu erwarten. Dass die Stelle, wo die Anlage gebaut werden sollte, bewaldet war, störte deshalb nicht weiter, weil Gott ein Einsehen hatte und sie 1975 abbrennen ließ, zeitgleich mit anderen Waldstücken, die ebenfalls als Standorte im Gespräch waren. Wer sonst als Gott sollte den Brandstifter gesandt haben? Dass es einen gab, steht fest, mehr leider nicht.
Die Menschen wollten nicht tatenlos zusehen. Auf der abgebrannten Fläche entstehen vom 3. Mai 1980 an über Hundert Hütten aus Holz und Lehm sowie eine Infrastruktur, die nichts zu wünschen übrig lässt: Sauna, Freundschaftshaus, öffentliche Küche, Gewächshäuser, ein Frisiersalon, ein Passamt, ein Radiosender und sogar eine Pony-Reitanlage für Touristen. Der Tiefbrunnen des Ortes, in dem tausend Menschen leben, wird mit Wind-, die Warmwasseranlage mit Solarenergie betrieben. Ein Sprecherrat wird gewählt, Entscheidungen trifft ein regelmäßig tagendes Plenum. An den Wochenenden kommen bis zu 5.000 zu Besuch, darunter Gerhard Schröder, damals Juso-Bundesvorsitzender, mit 300 Delegierten des Juso-Bundeskongresses, der gerade in Hannover tagt, auch Liedermacher wie Wolf Biermann und andere Prominente. Es gibt Vorträge, Lesungen, Rockkonzerte, Puppentheatervorstellungen und natürlich Lagerfeuer. Dass das Dorf geräumt werden würde, ist allen klar. Die überwiegende Mehrheit spricht sich für passiven Widerstand bei der absehbaren Polizeiaktion aus und alle, auch die wenigen Militanten, werden sich daran halten.
Lange haben sie sich vorbereitet. Die niedersächsische Landesregierung unter Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) entscheidet sich am 22. Februar 1977 für den Standort – nur einen Tag später gibt es im Landkreis die erste Demo dagegen, 1.500 Menschen stark. Von der Vorstellung, es werde nicht viel Protest geben, muss man sich verabschieden. Nicht nur aus Hamburg, Hannover, Hildesheim – auch aus Norwegen und anderen Ländern sind sie angereist. Am 2. März wird die „Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg“ gegründet, die bis heute den Widerstand koordiniert. Über die veränderte Funktion von Bürgerinitiativen (BI) waren die Politiker nicht gleich im Bilde. Noch am Anfang des Jahrzehnts hatten Sozialwissenschaftler in ihnen räumlich und zeitlich isolierte Gruppen gesehen, die sich gegen eine punktuelle Entscheidung der lokalen Behörde auflehnten. Das war sogar begrüßt worden, da man etwas wie „Frühwarnsysteme“ in den BI glaubte sehen zu können. Politisch gefährlich konnten sie nicht werden, da der Protest nie lange anhielt; die Behörden brauchten im Grunde nur abzuwarten. All diese Einschätzungen übertrug man auf die Grünen, denen jahrzehntelang nachgeredet wurde, sie seien eine „Ein-Punkt-Bewegung“. Man wollte nicht erkennen, dass ein grundlegender gesellschaftlicher Konflikt zu entstehen begann, der sich vorhandener Organisationsformen nur bediente, um sie passend umzufunktionieren. So war die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg nur ein besonders eindrucksvolles Exempel jenes Spruchs, der damals aufkam: „Global denken, lokal handeln.“
Als die BI sich gründete, hatte sie schon gleich Globales zu überlegen. In denselben Wochen nämlich gab es große Demos im schleswig-holsteinischen Brokdorf, gerichtet gegen den dortigen AKW-Bau. Diese Demos, in deren Organisation Mitglieder der maoistischen K-Gruppen den Ton angaben, führten zu bürgerkriegsähnlichen Szenen. Die Polizei ging mit aller Härte gegen sie vor. Es war auch die Zeit, in der die „Rote Armee Fraktion“ ihre Terroranschläge verübte; die Todesnacht von Stammheim, wo deren Führung einsaß, am 18. Oktober 1977 stand nahe bevor. Als in Gorleben am 12. März desselben Jahres schon 20.000 demonstrierten, hatten die Organisatoren überlegt, dass es sinnlos war, gewaltsam zu kämpfen.
Sie gehen den entgegengesetzten Weg, bauen am Ort der geplanten Probebohrung einen Kinderspielplatz. Die „Freie Republik“ kündigt sich schon an. Zwischen Mitte Juli und Mitte August veranstalten sie ein Internationales Sommercamp, am 2. November ein Kinderfest. Doch der Kinderspielplatz wird zwei Tage später abgerissen, weil er „das Landschaftsbild verunstaltet und die Landschaft zersiedelt“, so die Bezirksregierung. Wie auch immer, die BI hat ihre Linie gefunden: Zusammen mit dem Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) ruft sie im Juni 1978 zu dezentralen, gewaltfreien Aktionen „mit Verhinderungscharakter“ auf. Und so wird es gemacht.
Ostern 1980 kommen 3.000 „Gorleben-Frauen“ zu einem internationalen Frauentreffen zusammen, gehen nachts mit Fackeln durch den verbrannten Wald zur Bohrstelle. Am Ostersonntag, als auch Männer und Kinder dabei sind, verliest Rebecca Harms, damals 23 Jahre alt, später Europaabgeordnete der Grünen, eine „Verordnung“ zur „vorläufigen Inbesitznahme“ des Geländes. Die „Verordnung“ entspricht derjenigen, mit der die zur Bohrung vorgesehenen Grundstücke vorübergehend enteignet worden waren. Das ist die Keimzelle der Republik freies Wendland, die einen Monat später gegründet und nach 33 Tagen geräumt wird. 2.000 reisen zum Protest gegen die Räumung an. 10.000 Polizisten sind im Einsatz, mit Raupen und Bulldozern machen sie die utopische Gesellschaft dem Erdboden gleich. Ob sie nochmals zum Leben erweckt werden kann? Von Schülerinnen vielleicht, die sich nicht nur freitags für die Zukunft, für eine neue Lebensweise engagieren wollen?
Der damalige Protest wird heute zumeist auf die Entstehung der Grünen bezogen, die sich am 13. Januar 1980 gründeten. Mit Recht, eine „Grüne Liste Umweltschutz“ war am 16. November 1977 auf niedersächsischer Landesebene gebildet worden. Sie trat bei der Landtagswahl 1978 mit Martin Mombaur aus Gorleben als Spitzenkandidat an und kam da schon auf fast vier Prozent der Stimmen. Oft hört man in diesem Zusammenhang die Einschätzung, die Gründung dieser Partei habe bedeutet, dass die damalige Widerstandsbewegung sich parlamentarisch kanalisieren ließ, weil die Stammheimer Todesnacht sie eingeschüchtert habe. Aber unabhängig von „Stammheim“ hatte sich zuvor schon ein großer Teil der Protestierenden für einen eher symbolischen Widerstand entschieden. Im Grunde knüpften sie an Rudi Dutschke an, der 1968 das „Überschreiten des staatlich konzessionierten Rahmens“ propagiert und in die Tat umgesetzt hatte. Dutschke, der am 24. Dezember 1979 verstarb, hatte bis dahin für die Gründung der Grünen geworben.
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