Helmut Kohl erzählte hinterher gern, wie er mit Michail Gorbatschow auf einem Mäuerchen über dem Rhein saß, am Rand des Bonner Kanzlerbungalows, während „unten ab und zu Liebespaare vorbeigegangen sind“. Er und der Gast aus Moskau hätten sich gemeinsam erinnert, wie ihr Leben verlaufen sei. In diesem Gespräch will Kohl sich zu einer kunstreifen Metapher aufgeschwungen haben: Wie den Rhein keine Absperrung hindern würde, sich den Weg zum Ozean zu bahnen, so unaufhaltsam laufe der Fluss der Geschichte auf die deutsche Einheit hinaus. Das war im Juni 1989, als Gorbatschow noch nicht im Traum an die Wiedervereinigung dachte. Kohl konnte vor allem zufrieden sein, dass sich ein freundschaftlicher Umgang zwischen ihm und Gorbatschow entwickelte, was auch dieser bestätigte.
Stand doch ihr Verhältnis zunächst unter einem denkbar schlechten Stern, nachdem Kohl den Generalsekretär 1986 in einem Zeitungsinterview mit Joseph Goebbels verglichen hatte. Seit 1987 war jedoch nicht mehr zu übersehen, dass die Entspannungssignale aus Moskau keine bloße Propaganda waren. Die sowjetische Bereitschaft zur asymmetrischen Abrüstung machte das sehr deutlich. Umgekehrt musste Gorbatschow nach der Bundestagswahl 1987 die Hoffnung aufgeben, er könne seine Politik des Gemeinsamen Europäischen Hauses mit einem SPD-Kanzler verhandeln. Für erhoffte Finanzhilfen zur „Perestroika“, dem innersowjetischen Umbauprogramm, war weiterhin die Kohl-Regierung zuständig, die nun auch ihrerseits Signale aussandte. Kurz vor Gorbatschows Bonn-Besuch schloss sie sich in der SNF-Frage, betreffend nukleare Kurzstreckensysteme in Westeuropa, der sowjetischen Position an und verlangte eine mindestens teilweise Eliminierung. Besonders Washington und London weigerten sich entschieden, darüber mit Moskau zu verhandeln. Ende Mai beim NATO-Gipfel setzte Kohl aber durch, dass solche Verhandlungen zugesagt wurden.
Für Gorbatschow hatte die Abrüstungsfrage zum Zeitpunkt seines Bonn-Besuchs absolute Priorität, da er versuchen musste, aus dem viel zu teuren militärisch-industriellen Komplex Mittel für die Perestroika abzuzweigen. Der Plan des US-Präsidenten Ronald Reagan, die Sowjetunion „totzurüsten“, war aufgegangen. Dort wussten alle Schattierungen der KPdSU, dass die Ökonomie reformiert werden musste – dafür war Gorbatschow 1985 an die Spitze der Partei getreten. Namentlich in der beginnenden Computerisierung der Ökonomie, in Osteuropa „wissenschaftlich-technische Revolution“ genannt, hatte die UdSSR mit dem Westen nicht Schritt gehalten. Um aufzuholen, brauchte man Einsparungen beim Militär, also Abrüstung, dafür außenpolitische Entspannung als Flankenschutz und obendrein westliche Kredite. Im Zuge dieses Projekts wagten Gorbatschow und seine Mitstreiter in der Partei- und Staatsführung einen folgenreichen Schritt: Sie gaben dem Westen bekannt, dass sie nunmehr Menschheitsfragen über Klassenfragen stellen würden. Das war ernst gemeint. Im Juli 1988 sprach Außenminister Schewardnadse vor Mitarbeitern seines Ministeriums vom „Vorrang allgemein-menschlicher Werte“, woraufhin viele protestierend den Saal verließen.
War Gorbatschow überhaupt noch Kommunist? Ausgerechnet das regressivste Element des traditionellen Kommunismus, den Glauben an die Geschichte, behielt er jedenfalls bei. Gern sprach er deshalb vom „Leben“ wie von einem Subjekt, sein bekannter Ausspruch vom Oktober 1989 in Ostberlin – „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ -, ist nur ein Beispiel von vielen. Er glaubte ja noch, „das Leben“ habe ein für allemal den Sozialismus etabliert. Deshalb konnte er sorglos den Staaten des Warschauer Pakts eine „Freiheit der Wahl“ ihres Weges zugestehen, von dem er annahm, das werde selbstverständlich ein sozialistischer Weg bleiben, und hoffen, das Zugeständnis werde auch die anderen osteuropäischen Parteiführer zur Perestroika veranlassen. Grundsätzlich glaubte er aber auch, ein „objektives Gesetz“ halte „die Welt ständig in Bewegung“, deshalb könnten nicht „irgendwelche Zustände ewig konserviert werden“, wie später in seinen Memoiren zu lesen.
Sein Denken war alles in allem etwas unklar und im Bonner Regierungsapparat saßen Leute, die das auszunutzen verstanden. Was die deutsche Frage anging, nahm Gorbatschow sie zunächst nur als Störfaktor in seiner Vision des Gemeinsamen Europäischen Hauses wahr. Irgendwie vertrug sie sich nicht mit geschlossenen Türen zwischen Ost- und Westberlin, aber das war ein vom „Leben“ noch nicht auf die Agenda gesetztes Problem.
Nachdem Gorbatschow am 12. Juni zum Staatsbesuch eingetroffen war, ging er auf Kohls Satz – in Europa müssten „künstliche Trennungen beseitigt und ihre abstoßenden Symbole, wie die Berliner Mauer, abgerissen werden“ – nicht ein. Die Bundesregierung versprach Finanzhilfen, und es wurden elf Abkommen im kulturellen und ökonomischen Bereich unterzeichnet. Am wichtigsten war eine „Gemeinsame Erklärung“, auf deren Abfassung sich Gorbatschow mit Kohl schon bei dessen Besuch in Moskau im Oktober 1988 geeinigt hatte. Die sowjetische Seite fand sich hier erstmals bereit, die USA und Kanada als Teil des Gemeinsamen Europäischen Hauses zu erwähnen. Zudem stand ihre Zustimmung zum „Recht aller Völker und Staaten“, also auch der DDR und der BRD, „ihre Beziehungen souverän zu gestalten“, in dem Dokument. Mit jener Formulierung waren in Moskau nicht alle einverstanden gewesen. Umgekehrt stimmte erstmals eine westliche Regierung den Prinzipien der neuen sowjetischen Außenpolitik zu, so der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und gemeinsamen Abrüstung. Als Gorbatschow von Bonn aus nach Paris reiste und den französischen Präsidenten Mitterrand zum Abschluss einer ebensolchen Erklärung drängte, lehnte dieser ab.
Auf einer Pressekonferenz noch in Bonn zur Mauer befragt, sagte Gorbatschow, sie könne „verschwinden“, wenn die Voraussetzungen ihrer Entstehung entfallen seien, denn „nichts unter der Sonne ist ewig“. Aus seinem – historisch falschen – Satz, die DDR habe ihre Errichtung souverän beschlossen, glaubte die Bundesregierung eine Distanzierung von ihr herauslesen zu können. Das war verfrüht, denn in Paris angekommen sagte der sowjetische Parteichef, „keinesfalls“ bedeute der Bau des Gemeinsamen Europäischen Hauses „die Ausschaltung dieser oder jener Nation, des einen oder anderen Systems“. Die DDR-Führung war trotzdem beunruhigt. Schon dass Gorbatschow sich vor dem Besuch nicht mit Honecker hatte abstimmen wollen, was dieser dann buchstäblich erzwang, indem er uneingeladen nach Moskau flog, war ein Alarmzeichen. Der Besuch selbst wurde intern kritisiert: Prinzipienlos, „nicht klassenmäßig“ sei Kohls Gast aufgetreten. Auch dass die Bundesdeutschen ihn mit „Gorbi“-Rufen feierten, war ein Problem, es schien nicht zu Honeckers Mahnung zu passen, in Westdeutschland werde „revanchistisch“ gedacht. Das größte Problem bestand darin, dass Gorbatschow in Bonn am Ausmaß der Krise in der DDR vorbeiredete, weil er sie nicht erkannte. Aber darin stand ihm Honecker ja nicht nach. Es gab schon so viele Menetekel: Auch in der DDR hatte Gorbatschow viele Sympathisanten. Man wusste dort, dass im Februar die ungarische KP ihr Machtmonopol aufgegeben hatte. Im März hatten Hunderte in Leipzig mit dem Ruf „Wir wollen raus!“ demonstriert. Anfang Mai führten gefälschte Ergebnisse bei der Kommunalwahl zur offenen Vertrauenskrise zwischen Bürgern und Staat. Ebenfalls im Mai musste sich das SED-Politbüro eingestehen, dass spätestens 1991 die Zahlungsunfähigkeit drohte.
Zur gleichen Zeit begann der Abbau der ungarischen Grenzanlagen. Die DDR-Führung glaubte aber noch, das sei lediglich eine „grenzkosmetische Maßnahme“ der ungarischen Genossen.
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