Die letzte Wahl der DDR-Volkskammer war für die Bürgerrechtsbewegung eine herbe Enttäuschung. Nur eine Gruppe konnte sich freuen, jene, die sich Demokratischer Aufbruch (DA) nannte. Sie war mit der Ost-CDU, der früheren Blockpartei der DDR, und der Deutschen Sozialen Union (DSU), die der CSU nahestand, unter dem Schirm einer „Allianz für Deutschland“ angetreten, die mit 48 Prozent der Stimmen deutlich siegte. Das Bündnis 90 hingegen, zu dem sich Demokratie Jetzt (DJ), das Neue Forum (NF) und die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) zusammengeschlossen hatten, wie die Vereinigung von DDR-Grünen und Unabhängigem Frauenverband (UFV), kamen zusammen nur auf 4,9 Prozent.
Wenn man bedenkt, wie wichtig diese Gruppen dafür waren, was man schon damals eine „friedliche Revolution“ nannte, dann kann das Wahlverhalten der DDR-Bevölkerung als undankbar erscheinen. Aus dieser Opposition hatten sich doch die Aktivisten der Revolution rekrutiert. Sie waren als Organisatoren hervorgetreten, hatten Friedfertigkeit propagiert und viel dazu beigetragen, dass es im Herbst 1989 und in den Monaten danach dabei blieb. Vor der wichtigen zweiten Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober, als die Friedlichkeit auf der Kippe stand, wurde ein „Appell zur Gewaltlosigkeit“ in 25.000 Exemplaren verteilt. Auf der ersten am 25. September war „Neu-es Fo-rum zu-las-sen“ skandiert worden.
Dessen Gründung am 9./10. September sowie von Demokratie Jetzt am 12. September 1989 waren praktisch mit der endgültigen Öffnung der ungarischen Grenze am 11. September zusammengefallen. Die Gründer des Neuen Forums veröffentlichten den Aufruf . Er spricht von der notwendigen „Umgestaltung unserer Gesellschaft“ und klagt dafür einen „öffentlichen Dialog“ ein, an dem alle nachdenkend teilnehmen sollen; konkrete politische Forderungen werden nicht erhoben. Der Aufruf liegt in vielen Kirchen aus und wird massenhaft unterzeichnet. Schnell entsteht ein Netzwerk mit Strukturen im ganzen Land – es gibt Arbeitsgruppen, Veranstaltungen, täglich Demos.
Demokratie Jetzt ging aus einem Arbeitskreis der Berliner Evangelischen Bartholomäus-Gemeinde hervor, der schon 1987 an die Synode der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg appelliert hatte, sie solle für Reisefreiheit und andere Forderungen eintreten. Der Aufruf zur Gründung enthält Gedanken zum demokratischen Wandel von Staat und Wirtschaft, zur Entkopplung von Staat und Gesellschaft, zur ökologischen Umgestaltung. Ende Oktober 1989 gab es eine Unterschriftenaktion zur Änderung von Artikel 1 der DDR-Verfassung, der den Führungsanspruch der SED festschrieb. Die Initiative Frieden und Menschenrechte entstand bereits im Januar 1986, organisierte Veranstaltungen in kirchlichen Räumen und befand sich ständig im Nahkampf mit der Staatssicherheit, es gab Verhaftungen, Hausarrest und Ausbürgerungen. Im März 1989 gab die Initiative ihre DDR-weite Ausdehnung bekannt. Am 28. Oktober fand im Ostberlin das erste Treffen der Gesamtorganisation statt, die jedoch nicht die Mitgliederzahl anderer Gruppen vorweisen konnte. Die Grüne Partei kam erst am 24. November 1989 zustande, hatte aber einen Vorläufer im 1988 gegründeten Grün-Ökologischen Netzwerk „Arche“ in der Evangelischen Kirche. Dadurch standen bereits viele Umweltaktivisten in Kontakt, es gab Regionalgruppen, deren Sprecher sich regelmäßig trafen, und Projektzirkel, die ökologische Untersuchungen erstellten.
Im April 1989 kündigte die „Arche“ an, sie werde an der nächsten Volkskammerwahl mit eigener Liste teilnehmen. Sie begann insofern wie andere Gruppen als Bürgerbewegung, setzte dann aber auf parteiförmige Strukturen und geriet in einen Gegensatz zu anderen Teilen der Opposition. Anfangs war die „Arche“ in der „Umweltbibliothek“ heimisch, die 1986 in den Kellerräumen der Berliner Zionskirche eingerichtet worden war und auch von der Friedens- und Menschenrechtsbewegung als Treffpunkt genutzt wurde. Die Mehrheit derer, die sich dort zusammenfanden, beharrte auf basisdemokratischen Strukturen, so dass die Gründung der „Arche“ zu deren Ausschluss führte. Das Parteikonzept erschien den meisten durch die SED als unwiderruflich diskreditiert.
Die „Arche“ wollte im Neuen Forum mitarbeiten, war aber auch dort wegen ihrer Parteiförmigkeit nicht gern gesehen. Zu den Volkskammerwahlen im März 1990 konnte sie deshalb auch nicht im Rahmen von Bündnis 90 antreten, ging vielmehr, wie gesagt, eine Allianz mit dem Unabhängigen Frauenverband (UFV) ein. Die zerfiel nach der Wahl. Nachdem sie alle acht Mandate gewonnen hatten, weigerten sich die Grünen, dem Frauenverband davon abzugeben. Der UFV war erst im Dezember 1989 und schon in der Absicht, am Zentralen Runden Tisch der DDR teilzunehmen, gegründet worden. Der Verband war ein Sammelbecken verschiedener Frauengruppen, die sich alle von der offiziellen Frauenorganisation der DDR, dem Demokratischen Frauenbund (DFD), abgrenzten. In der nach der Wahl vom 18. März 199o konstituierten Volkskammer konnten die Grünen dann doch mit den anderen Bewegungen eine Fraktion unter dem Namen Bündnis 90/Grüne bilden.
Den Wahlkampf zuvor hatten die großen westdeutschen Parteien dominiert, die wie die CDU-West ihren ostdeutschen Partnern erhebliche finanzielle und organisatorische Hilfe leisteten, obwohl sich der Runde Tisch Anfang Februar 1990 mehrheitlich gegen diese Art der Einmischung ausgesprochen hatte.Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums, urteilte damals, das seien „in die DDR exportierte Westwahlen“ gewesen.
Während auch die SED-PDS als Erbin der bisherigen Macht über erhebliche Mittel verfügte, konnten Bündnis 90 und DDR-Grüne nur auf die sehr bescheidene Hilfe der westdeutschen Grünen bauen, die ja damals nur eine Kleinpartei waren. Sicher ist das ein Grund dafür, dass die Westgrünen, anders als die westdeutschen „Volksparteien“, ihre ostdeutschen Freunde nicht dominieren konnten. Anfang Mai 1990 wurden sie von den DDR-Grünen in einem Offenen Brief dennoch beschuldigt, es gebe bei ihnen „Kräfte“, die eine „Vereinnahmungspolitik“ betrieben. In der Absicht, noch vor dem Dortmunder Parteitag Anfang Juni Vorgespräche zur Vereinigung führen zu wollen, erkannten diese Grünen „den anmaßenden Versuch, die in unserer Partei herrschenden Regeln von Emanzipation und Basisdemokratie auszuschalten“. „Gebranntes Kind scheut’s Feuer!“ schrieben sie, die in den Augen anderer Bewegungen ihrerseits zu SED-ähnlich waren.
Die leninistische Annahme, dass es, um eine Revolution erfolgreich durchzuführen, einer Partei bedarf, ist wahrscheinlich trotzdem richtig und auch auf die „friedliche Revolution“ in der DDR anwendbar. Aber diese Partei bestand damals in der westdeutschen Bundesregierung unter Helmut Kohl, die entschlossen war, den raschen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik herbeizuführen. Dieses Ziel im Blick agierte sie äußerst geschickt. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass sie in den „Massen“ der DDR, einer Mehrheit ihrer Bürger, sehr gut verankert war. Man muss sogar fragen, ob die Friedlichkeit der Revolution nicht eher noch der Kohl-Regierung zu verdanken war, deren Stärke die SED in Schach hielt, als den Flugblättern jener DDR-Aktivisten, die so wenig gewillt waren, sich parteiförmig zu organisieren.
Wenn man das alles berücksichtigt, kann man auch in der geringen westdeutschen Unterstützung für DDR-Grüne und Bündnis 90 nicht den Hauptgrund für deren schlechtes Wahlergebnis sehen. Ihre Vertreter hatten ja gerade noch am Runden Tisch gesessen oder sogar dem Kabinett von Hans Modrow angehört. Sie waren auch ohne viel Westgeld bekannt genug. Aber sie orientierten weniger entschlossen oder gar nicht auf die „Wiedervereinigung“: Das war entscheidend.
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