Vor 30 Jahren, am 4. März 1991, wurden die Verträge, in denen die internationalen Aspekte der Vereinigung beider deutscher Staaten geregelt waren, im Obersten Sowjet ratifiziert. Der Oberste Sowjet war die Legislative der Sowjetunion, die sich Ende 1991 auflöste. Viel spricht dafür, dass die Abkommen dort gescheitert wären, wenn sich Valentin Falin, als führender Deutschlandexperte der KPdSU deren wichtigster Gegner, vor der Beschlussfassung zu Wort gemeldet hätte, was er nicht tat. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow bedankte sich hinterher bei ihm.
Interessant ist das Verhältnis der beiden Männer vor allem wegen der verschiedenen Institutionen, die sie vertraten. Zu Gorbatschows „Perestrojka“, dem Plan, die sowjetische Ökonomie und Politik umzubauen, gehörte von Anfang an die Trennung von Staat und Partei, zu deren Generalsekretär er 1985 gewählt worden war. Ein erster Schritt dazu war 1988 die Reform des Zentralkomitees der KPdSU, das entscheidend geschwächt wurde. So fanden sich die bis dahin drei Internationalen Abteilungen des ZK zu einer zusammengelegt und einer Kommission untergeordnet, die von dem Gorbatschow nahestehenden Politbüromitglied Alexander Jakowlew geführt wurde. Leiter der zusammengelegten Abteilung als solcher wurde Falin, den Gorbatschow mit dieser Konstruktion nicht nur kontrollieren ließ, sondern auch als für ihn besonders wichtigen Parteikader herausstellte.
Falin war zusammen mit Egon Bahr Architekt des für Willy Brandts Ostpolitik grundlegenden Moskauer Vertrags von 1970, dann von 1971 bis 1978 sowjetischer Botschafter in Bonn gewesen. Lange war sein Rat für Gorbatschow mindestens so wichtig wie der des deutschlandpolitisch unerfahrenen Eduard Schewardnadse, den er zum Außenminister gemacht hatte. Dies änderte sich mit dem 28. Parteitag der KPdSU in der ersten Julihälfte 1990, auf dem die Partei durch ihren eigenen Generalsekretär vollständig entmachtet wurde: Falin stieg zwar ins Sekretariat des ZK auf, aber zur Vorbereitung und als Teilnehmer des sich anschließenden Gipfels mit Kanzler Helmut Kohl am 14. bis 16. Juli in Moskau und Archys war er nicht mehr hinzugezogen.
Die sowjetische Deutschlandpolitik der Jahre 1989/90 lässt sich in zwei Etappen zerlegen. In der ersten ging es um die Frage, ob die UdSSR die deutsche Vereinigung zulassen würde, in der zweiten um die NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands. In der ersten Etappe hat man oft den Eindruck, dass Falin den Entschlüssen Gorbatschows politisch vorauseilte. Über die Instabilität der Verhältnisse in der DDR machte er sich entschieden weniger Illusionen als der Generalsekretär, auch weil er gute Kontakte bis ins SED-Politbüro hinein pflegte. So hatte er schon 1987 vorgeschlagen, eine deutsch-deutsche Konföderation anzustreben und den dahin führenden Prozess selbst in Gang zu setzen, falls die Deutschen es nicht taten. Damals fand ein solches Vorhaben bei Gorbatschow keine Zustimmung, was sich aber vermutlich Ende November 1989 änderte, als er Nikolai Portugalow, seine „rechte Hand“ im ZK, nach Bonn zum Gespräch mit Kohls Berater Horst Teltschik sandte, um die deutschlandpolitische Linie der Bundesregierung zu sondieren und wohl auch zu beeinflussen. Indem Portugalow das Thema Konföderation von sich aus ansprach, „elektrisierte“ er seinen Gesprächspartner, der zwei Tage später den „Zehn-Punkte-Plan“ veranlasste, den wohl wichtigsten Impuls von Helmut Kohl im Vorfeld der Vereinigung. Jener Plan postuliert als Ziel „konföderative Strukturen“, über die hinauszugehen Falin und Gorbatschow, um die DDR zu erhalten, gern vermieden hätten.
Beim Treffen eines von Falin angeregten Krisenstabs in Moskau am 26. Januar 1990, der den Übergang von der ersten zur zweiten Etappe der sowjetischen Deutschlandpolitik dieser Jahre markiert, gingen alle Beteiligten bereits davon aus, dass die Vereinigung nicht mehr zu stoppen sei. Gegen eine NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands jedoch verwahrten sich Falin wie Gorbatschow entschieden, während dessen sicherheitspolitischer Berater, Anatoli Tschernjajew, diese bereits befürwortete. In den folgenden Monaten mussten Gorbatschow und sein Außenminister zur Kenntnis nehmen, dass die USA die deutsche Vereinigung gerade um einer Stärkung der NATO willen unterstützten. Auch Kohl wollte die NATO-Mitgliedschaft, und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte er sie unter dem Druck der USA hinnehmen müssen. Der Ende 1988 gewählte Präsident George Bush senior erklärte öffentlich, nicht einmal eine verminderte NATO-Mitgliedschaft nach dem Vorbild Frankreichs, das dem Bündnis politisch, aber nicht militärisch angehörte, sei mit ihm zu machen. Intern machte er klar, dass es für die USA als Sieger im Kalten Krieg keinen Grund gab, der Sowjetunion über Gebühr entgegenzukommen.
Gorbatschow erkannte, dass er über keinerlei Trümpfe verfügte. Im Mai 1990 hatten die USA, Großbritannien und Frankreich der deutschen Bitte entsprochen, in den nächsten Bundestag auch Westberliner Abgeordnete mit allen Rechten wählen zu lassen. Sie signalisierten so die Bereitschaft, ihre Rechte als Siegermächte des II. Weltkrieges notfalls einseitig zu kündigen. Damit würden auch die sowjetischen Siegerrechte nutzlos, die Sowjetunion hätte nicht einmal mehr Bedingungen für ein NATO-Deutschland in die laufenden Verhandlungen einbringen können. Im Monat darauf sprachen sich auch Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei für die deutsche NATO-Mitgliedschaft aus. So einigte sich denn Gorbatschow mit seinen Beratern, beim Kohl-Besuch vom 14. bis 16. Juli nur noch auf wenigen Zugeständnissen zu beharren, die er auch erhielt: Sonderstatus für das DDR-Territorium – keine Stationierung von Atomwaffen –, Obergrenze für die Mannschaftsstärke der Bundeswehr.
Falin hatte Gorbatschow vorher beschworen, auf der Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft, die über den französischen Status hinausging, zu bestehen, auch müssten aus ganz Deutschland alle Atomwaffen abgezogen werden. Hinterher war er empört und bescheinigte Gorbatschow politischen „Masochismus“. Dabei wusste er selbst und schrieb es in seinem Buch Politische Erinnerungen, dass für die USA „Deutschland in der NATO ein Axiom“ war, ja, dass es ohne Deutschland eine NATO gar nicht geben könne. Man hat den Eindruck, dass Falin die Realität der sowjetischen Ohnmacht nicht ertrug und deshalb einen Schuldigen, Gorbatschow, postulierte. Bei der Abstimmung im Obersten Sowjet verhielt er sich aber loyal, weil er genau wusste und dies aussprach, dass eine Verweigerung der Verträge alles nur noch schlimmer gemacht hätte.
Sein Buch zeugt von großer Verbitterung gegen Gorbatschow, die aber nicht als berechtigt erscheint. Gorbatschows Strategie hatte darin bestanden, sich auf den Umbau der Sowjetunion zu konzentrieren und dafür die außenpolitischen Bedingungen zu schaffen. Ganz zuletzt noch hatte er einen neuen Unionsvertrag aushandeln können, doch der poststalinistische Flügel der KPdSU verhinderte dessen Inkrafttreten, indem er am 19. August 1991, dem Vortag der Unterzeichnung, einen dilettantischen Militärputsch versuchte. Der wiederum lieferte Boris Jelzin, dem Präsidenten Russlands und Anführer der antikommunistischen „Reformer“, den Vorwand, Russland zu verselbstständigen und dort die KPdSU zu verbieten.
Mit „Reformern“ wie Jakowlew hatte Gorbatschow selbst zusammenarbeiten müssen, um sich seiner poststalinistischen Gegner zu erwehren; Jakowlew, der gleich nach dem Kollaps der Sowjetunion seine „Einsicht“ zum Besten gab, der Sozialismus sei unwissenschaftlich, da es in der Natur keine Gerechtigkeit gebe und also auch in der Gesellschaft keine geben könne. Fast ist man geneigt zu sagen: Gorbatschow hatte nur einen Verbündeten, nämlich Falin. Aber die Last des historischen Augenblicks erdrückte die Beziehung der beiden Männer.
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