Warum ist es gerade heute interessant, sich der Erfurter Erklärung aus dem Jahr 1997 zu erinnern? Die Antwort hängt mit einer anderen Frage zusammen: Hoffen wir noch auf die damals in Erfurt geforderte rot-rot-grüne Bundesregierung oder glauben wir nicht mehr, dass sie etwas voranbringen könnte? Doch, gerade heute hätte sie sehr viel politischen Sinn. In der Flüchtlingsfrage ist Angela Merkel als Kanzlerin über das politische Fassungsvermögen der Unionsparteien weit hinausgegangen, bleibt ihnen aber zugleich verhaftet. Zur Bereitschaft, Asylsuchende aufzunehmen und mit Arbeit und Wohnungen zu versehen, müsste nun die Bereitschaft kommen, die Lage deutscher Arbeits- und Wohnungssuchender zu verbessern. Sonst wird die Gesellschaft überfordert. Doch wären dazu Maßnahmen nötig, die mehr den Parteiprogrammen einer rot-rot-grünen als einer schwarz-roten Koalition entsprechen. Den erforderlichen Politikwechsel – allein auf den Feldern Arbeit und Wohnen – könnte nicht allein eine Regierung inszenieren. Sie bräuchte den Unterboden eines gesellschaftlichen Aufbruchs nach links. Die Erfurter Erklärung war das. Man kann in ihr eines der bedeutendsten Dokumente der Linken nach 1990 sehen.
Die Linke war aus der deutschen Vereinigung geschwächt hervorgegangen. Sozialdemokraten und Grüne hatten die Bundestagswahl Ende 1990 deutlich verloren. In den Jahren danach wich die SPD vor den Unionsparteien immer mehr zurück, nahm die Zertrümmerung des Asylrechts hin und den Weg zu NATO-Einsätzen „out of area“. Doch ab 1995 änderte sich die Lage: Nach jener Zwischenzeit, in der die Parteiführer Björn Engholm und Rudolf Scharping die SPD den Unionsparteien hörig gemacht hatten, drängte Oskar Lafontaine Scharping aus dem Amt. Er steuerte einen aggressiven Kurs, hielt zum Beispiel die SPD-Landesregierungen an, unsoziale Vorhaben der schwarz-gelben Bundesregierung im Bundesrat zu blockieren. Lafontaines Weichenstellung war die Hauptursache des rot-grünen Siegs im Bundestagswahlkampf 1998.
Es gab aber noch andere Ursachen. Auch die Erfurter Erklärung ist zu nennen und war ihrerseits Teil einer breit angelegten linken Offensive. So initiierte der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel ebenfalls 1995, als Lafontaine SPD-Chef wurde, das „Bündnis für Arbeit“, an dem sich die Regierung Kohl beteiligen musste und das sie in erhebliche Legitimationsschwierigkeiten brachte. Schon 1994 hatte der SPD-Politiker Reinhard Höppner in Sachsen-Anhalt das „Magdeburger Modell“ begründet, eine rot-grüne Minderheitsregierung, die von der PDS toleriert wurde. Ab 1997 schließlich führten mit Lionel Jospin und Tony Blair zwei sozialdemokratische Politiker die Regierungen in Frankreich beziehungsweise Großbritannien. „Ein erster Ausdruck davon“, lesen wir in einer „Crossover“-Publikation, „war der Amsterdamer EU-Gipfel, auf dem gegen die deutsche konservative Regierung die Aufnahme eines Beschäftigungskapitels in die europäischen Verträge durchgesetzt werden konnte.“ Der Gipfel fand ebenfalls 1997 statt.
„Verantwortung für die soziale Demokratie“
Bei „Crossover“ handelte es sich um eine 1993 begonnene Initiative von Redaktionsmitgliedern dreier linker Parteizeitschriften, die das rot-rot-grüne Spektrum abdeckten. Sie strebte eine ebensolche Koalition an und suchte den „Politikwechsel“ inhaltlich vorzubereiten. Das geschah in einer Reihe von Konferenzen, gewidmet einem „ökologisch-solidarischen New Deal“, der auf den einstigen Freitag-Verleger Willi Brüggen zurückging. Mit viel Engagement war beispielsweise die damalige Juso-Vorsitzende und heutige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles beteiligt.
Der Gedanke an „Crossover“ liegt am nächsten, wenn man die Erfurter Erklärung von 1997 einordnen will, denn auch das ist ein linker Ansatz, der vor allem Inhalte eines Politwechsels benennt und die rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene als Instrument dafür einfordert. Man fand denn auch viele Personen, die zu den Erfurter Initiatoren gehörten, sich im Crossover-Spektrum bewegten und im Freitag schrieben. Doch hatten die Erfurter Teilnehmer allen anderen Ansätzen gegenüber, die genannt wurden, auch eine Besonderheit: Schriftsteller waren besonders stark vertreten. Einer von ihnen, Dieter Lattmann, tat den entscheidenden Schritt, indem er im Dezember 1996 zur Verfassung des linken Manifests aufrief und es dann auch im Wesentlichen formulierte. Als es im Folgejahr veröffentlicht wurde, hatten neben Lattmann auch Daniela Dahn, Günter Grass, Max von der Grün, Stefan Heym, Ulrich Plenzdorf, Erika Runge und Gerhard Zwerenz, dazu Frank Castorf als Intendant der Volksbühne Berlin und Walter Jens als Präsident der Akademie der Künste unterzeichnet. Entfernt konnte man sich an die „Gruppe 47“ erinnert fühlen, die in den 60er Jahren eine Kanzlerkandidatur Willy Brandts unterstützt hatte. Grass und Jens waren schon damals dabei.
Auch andere gewichtige Namen standen unter der Erklärung: Wissenschaftler wie Elmar Altvater, Hans-Jürgen Fischbeck, Rudolf Hickel, Inge Jens, Peter von Oertzen, Norman Paech, Hans Eberhard Richter und Uwe Wesel; Repräsentanten der evangelischen Kirche wie Heino Falcke, Edelbert Richter, Friedrich Schorlemmer und Dorothee Sölle; Gewerkschafter wie Gisbert Schlemmer, Horst Schmitthenner und Frank Spieth. Sollte diese Erklärung nicht Wirkung entfalten? Zumal ihr Inhalt ins Schwarze traf. „Bis hierher und nicht weiter: Verantwortung für die soziale Demokratie“ ist sie überschrieben. Zunächst bringt sie den deutschen „Zustand von gnadenloser Ungerechtigkeit, Sozialverschleiß und fehlenden Perspektiven“ auf den Punkt: „Der kalte Krieg gegen den Sozialstaat hinterlässt eine andere Republik.“ Dann verlangt die Erklärung eine „gerechtere Verteilung der Einkommen und Güter“, wobei besonders „die Dramatik der Lebenssituation in den ostdeutschen Ländern“ hervorgehoben wird. Um das zu erreichen, wird „eine außerparlamentarische Bewegung“ gefordert, die nicht nur an 1989, sondern auch an 1968 anknüpft. Dann die konkreten Forderungen: Verkürzung der Arbeitszeit bei Vollbeschäftigung, Verpflichtung der Erwerbsarbeit auf gesellschaftlichen Nutzen und ökologische Nachhaltigkeit, Einstieg in die ökologische Steuerreform, Solidarausgleich und soziale Mindestsicherung, Einsatz für Reformen der internationalen Wirtschaftsinstitutionen. Es sind Forderungen an eine neue Bundesregierung, und wie am Ende festgestellt wird, kann es nur eine rot-rot-grüne sein.
Keine Wirkung in die Parteien hinein
Wirkung wurde auch tatsächlich erzielt. Die Medien berichteten und debattierten umfassend, von rechts natürlich nur mit Kritik, die sich besonders gegen den Einschluss der PDS richtete, von links teils zustimmend, teils ebenfalls kritisch. In der tageszeitung las man, die Erklärung gehe an der Realität des Landes vorbei. Derweil veranstalteten die Erfurter Diskussionsforen in Gewerkschaftshäusern, Buchhandlungen und kirchlichen Räumen überall im Land einen politischen Gottesdienst und einen Kongress, an dem Jürgen Trittin (Grüne) und Wolfgang Thierse (SPD) teilnahmen. In die Parteien wirkte die Erklärung trotzdem nicht herein. Jedenfalls schien es so. Während die CDU sich in ihrer Rote-Socken-Kampagne bestätigt sah, blieb die Fürsprache in der SPD auf den linken Rand beschränkt. Die Grünen distanzierten sich gar von der Möglichkeit einer Koalition mit der PDS. Doch wer weiß, wozu es gekommen wäre, wenn SPD und Grüne bei der Bundestagswahl 1998 nicht die absolute Mehrheit errungen hätten.
Als beide Parteien dann regierten, gab es keinen Politikwechsel nach links, wie man erwartet hatte, sondern nach rechts. Diese schlimme Erfahrung haben politisch Engagierte bis heute nicht verkraftet. Dennoch, eine Lösung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krise kann wiederum nur – wenn überhaupt – von der Konstellation Rot-Rot-Grün erwartet werden.
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