1
Wie ist das Kapital entstanden? Diese Frage wird uns einige Blog-Notizen hindurch beschäftigen. Wir sahen zuletzt, der Historiker Braudel fragt konkreter nach der Entwicklung des Kaufmannskapitals. Wie konnte es beste Handelsbedingungen auf dem Weltmarkt und zudem noch auf einem großen Binnenmarkt erlangen? Braudel zeigt, dass der englische im 18. Jahrhundert groß und homogen wurde und dass gerade England die Macht hatte, weltweit "freien Handel" zu erzwingen. Natürlich ist Kapital erst fertig, wenn dem Kaufmannsvermögen Arbeitskraft als kaufbare Ware entgegentritt. Die muss also vorher "freigesetzt", das heißt für sich isoliert worden sein, zum Beispiel durch Enteignung von Bauernland. Braudel weiß es und sagt es, aber sein Forscherinteresse gilt mehr der Häufung des Kaufmannsvermögens. Er fragt auch, unter welchen Bedingungen die Kaufleute nichts hindert, ihr Vermögen beliebig einzusetzen.
Seine Antwort: In Europa konnten "Familien" als solche sehr stark werden. Nicht nur Kaufmannsfamilien, aber auch sie. Denn große Vermögen kommen nicht in einem Menschenleben zusammen, sondern wenn sie vererbt und wieder vererbt werden und die Erben eine schon große Reichtumsbasis noch mehr vergrößern. Was ist nun die Bedingung für starke Familien, und warum finden wir sie gerade in Europa? Weil hier der Staat schwächer war als woanders, antwortet Braudel. Schwacher Staat, starke Familien. Natürlich denkt er zuerst an Adlige, den Feudalismus, der aus der Auflösung des starken Weltreichs der Römer resultierte. Es dauerte ja lange genug, betont er, bis die Kaufleute aufhörten, nur in den Adelsstand aufrücken zu wollen. So lange begnügten sie sich, ihren Reichtum nur als Hebel zur Nobilitierung einzusetzen. Erst als sie merkten, wie stark der Hebel wirklich war, trieben sie Familienpolitik im Interesse des eigenen Kaufmannsstandes.
Das ist so weit plausibel. Die Antwort gewinnt noch, wenn wir hören, wie Braudel den Feudalismus charakterisiert: nicht nur ökonomisch, sondern vor allem politisch. Gut, Feudalismus ist Lehnsvergabe, und für die Belehnung wird eine Gegenleistung verlangt, die in ökonomischen Gaben bestehen kann. Das Geflecht der reziproken Leistungen ist im Einzelnen aber ziemlich komplex, so dass man sich bald fragt, was es nützen soll, verschiedenste Verhältnisse unter dem einen Namen "Feudalismus" zusammenzufassen.
Wenn wir indessen politisch herangehen, tritt eine Eigenschaft, die nie fehlt, sehr klar hervor: Im Feudalismus sind die Hoheitsrechte nicht auf der Ebene des Reichsoberhaupts konzentriert. Sondern vieles liegt ganz offiziell bei den Feudalherren. Sie sind bewaffnet, können Verträge mit reichsauswärtigen Mächten eingehen - so mag ein deutscher Kurfürst nach der polnische Krone greifen -, sie haben Gerichtshoheit und prägen gar Münzen. Es sind vor allem diese Umstände, die Braudels Frage nach starken Kaufmannsfamilien fruchtbar erscheinen lassen. Denn sie bedeuten, dass diese Familien nicht in Allem mit einem Gesamtreich rangen, sondern vielfach nur mit der Politik einzelner Adelsfamilien. Das war einfacher. Einzelne Adelsfamilien waren nie so wohlhabend, dass es ihnen nicht gefallen hätte, mit Hilfe von Kaufleuten noch wohlhabender zu werden. Dann machten sie leicht Zugeständnisse, zu denen sich ein Gesamtreich nicht herabließ.
Braudels Erklärung ist nicht lückenlos, aber die Lücken sind gut platziert, so dass wir durch sie vorankommen. "Schwacher Staat, starke Familien" war der Ausgangspunkt. Zwei Einwände drängen sich auf, erstens: Hat er nicht auch gesagt, dass England stark sein musste, um den Binnenmarkt homogenisieren und gar der Welt etwas aufzwingen zu können? Umgekehrt zweitens: Ist ein Reich wirklich schon dadurch schwach, dass es nicht alle Hoheitsrechte auf der zentralen Reichsebene konzentriert?
2
Zur Beantwortung ist Braudels Vergleich von Europa und Japan instruktiv. Außer Europa, schreibt er, war nur Japan über lange Zeit eine feudalistische Gesellschaft. Und so sei es nur Europa und Japan leicht gefallen, zur kapitalistischen Produktionsweise überzugehen. Das scheint mir nicht zu Ende gedacht. Der Kapitalismus entsteht doch nicht, weil nur nichts hindert, dass er entstehen kann, und dies daher leicht fällt, sondern er entsteht, weil es positive Gründe gibt, die auf seine Entstehung hinauslaufen. Wie Hegel schrieb: Erst wenn alle Bedingungen einer Sache gegeben sind, tritt sie in die Existenz. Der bloße Wegfall von Hindernissen ist eine negative Bedingung, die allein nicht hinreichen kann.
Der Fall Japan zeigt keinen positiven Entstehungsgrund. Man mag den japanischen Staat schwach nennen, weil die Macht seiner Zentrale beschränkt war. Tatsächlich ähnelt der dortige Feudalismus dem europäischen. Aber hinsichtlich der Behandlung von Kaufmannsfamilien war Japan nicht schwach, sondern im ganzen Land war klar, dass man die Kaufleute an der Kandare hielt und ihnen keine eigene auswärtige Handelspolitik gestattete. Hier waren sich zentrale und dezentrale Machtträger einig. Die Folge war, dass die Kaufmannsfamilien zwar Vermögen akkumulieren, es aber nicht beliebig einsetzen durften. Wenn man nun fragt, warum Japan trotzdem zur kapitalistischen Produktionsweise "leicht überging", so ist die Antwort auch ohne Braudel bekannt: weil es vom Westen gezwungen wurde. Insofern war der japanische Staat allerdings schwach, schwächer nämlich als die westlichen Staaten. Aber das trägt zur Erklärung, weshalb Kapital entstanden ist, nichts bei, weil die Frage offen bleibt, wie es erst einmal den Westen heimsuchen konnte.
Die Vorstellung vom schwachen japanischen Staat führt sogar in die Irre. Es war doch die Stärke dieses Staates, eine bestimmte Stärke und Überlegenheit zum Beispiel über den chinesischen Staat, die ihn zur schnellen Übernahme des Kapitalismus befähigte. Braudel sieht das nicht. Er betont, dass es unter dem chinesischen kaiserlichen Regiment viel weniger Freiräume gab als in Japan. Aber gerade weil japanische Großgrundbesitzer mächtiger waren als chinesische, konnte Japan auf den westlichen Druck mit größerer Stärke reagieren. Muss nicht jeder fasziniert sein, der sieht, wie zum rechten Zeitpunkt aus der dezentralen japanischen Elite Politiker hervortraten, die erkannt hatten, dass Japan nur durch schnelle Übernahme westlicher Modelle - wozu sie übrigens das Staatsmodell des preußischen Militarismus zählten - vor dem Schicksal Chinas bewahrt bleiben konnte? Auch wie sie in wenigen Jahrzehnten den innerjapanischen Machtkampf gewannen, überwiegend konsensuell, zum geringeren Teil durch Bürgerkriegsmaßnahmen? Diese Übernahme lief auf eben die vollständige Zentralisierung der Macht hinaus, die bis dahin gefehlt hatte. Man wird doch urteilen, dass das schon vorher ein sehr starker Staat gewesen sein muss: so stark, dass er sich viel Dezentralisierung leisten konnte, ohne zu zerfallen; so stark, dass die Intelligenz durch Dezentralisierung gehoben wurde statt nur durch Befehl und Gehorsam.
Wie mir scheint, erklärt sich diese Stärke zum guten Teil aus der japanischen Insellage. England und Japan haben nicht nur die "starken Familien", sondern auch die Insellage gemein. Sie hat in beiden Fällen dazu geführt, dass sich interne Verhältnisse über Jahrhunderte ohne äußere Bedrohung entwickeln konnten. Genau das war der Grund, weshalb England es sich leisten konnte, vom Feudalismus direkt zur parlamentarischen Demokratie überzugehen, und weshalb in Japan der Konsens eine größere Chance hatte als anderswo. Genau deshalb wurden England und Japan so stark. Das Gegenbeispiel sind die Kontinentalreiche, die immer wieder von Nomadenvölkern überrannt wurden, so dass sie ständig versuchen mussten, sich mit Mauern oder einem Limes zu verteidigen. Der stärkste Limes ist aber die zentralisierte Macht. Man ist stark durch Zentralisierung statt durch Freiheit, wenn man gezwungen ist, Nomaden abzuwehren.
Für die Staaten des westlichen Kontinentaleuropa war es ein Glück, dass die Mongolen in Russland halt machten, doch saßen sie eng genug beieinander, dass Krieg auf Krieg folgte und es auch hier seit dem Beginn der Neuzeit zur immer stärkeren Zentralisierung kam. Da war aber der Kapitalismus noch gar nicht entstanden. In seinem Versuch, zu entstehen, traf er auch hier nicht auf schwache Staaten.
3
Braudels Erklärung ist also in diesem Punkt falsch. Man muss gegen ihn zu erklären versuchen, weshalb in Europa sehr starke Staaten aufkamen, die ihre Stärke nicht zur Unterdrückung, sondern zur Förderung erst des Kaufmannskapitals und später auch des Industrie- und Finanzkapitals einsetzten.
4
Vom Staat hat es überall abgehangen, ob der Kapitalismus entstehen konnte oder nicht. Das bedeutet, man muss erklären, wie es zu einer Staatlichkeit kommen konnte, die aufhörte, den Kapitalismus abzulehnen. Wie Marx betont, hatte sich solche Ablehnung überall von selbst verstanden: "Wir finden bei den Alten nie eine Untersuchung, welche Form des Grundeigentums etc. die produktivste, den größten Reichtum schafft? Der Reichtum erscheint nicht als Zweck der Produktion, obgleich sehr wohl Cato untersuchen kann, welche Bestellung des Feldes die einträglichste, oder gar Brutus sein Geld zu den besten Zinsen ausborgen kann. Die Untersuchung ist immer, welche Weise des Eigentums die besten Staatsbürger schafft. Als Selbstzweck erscheint der Handel nur bei den wenigen Handelsvölkern", Marx nennt die Juden (Grundrisse, Berlin 1953, S. 387), man könnte auch auf die Mongolen verweisen. Die trieben zwar nicht selbst Handel, standen aber den Händlern als Nomadenvolk nahe: Ihr von China bis Europa reichendes Reich wollte durchreisenden Kaufleuten Schutz bieten.
Im europäischen Absolutismus gilt dann plötzlich Reichtum als offizieller Produktionszweck. Und in England steht nichts über der Wissenschaft, die sich, vom Staat gefördert, im 18. Jahrhundert mit dem Handwerk zusammentut, so dass es zur Industriellen Revolution kommt. Wie konnte das geschehen? Auch noch im europäischen Mittelalter war man weit entfernt gewesen, den Reichtum, statt des Glaubens in diesem Fall, zum Staatszweck und damit erst zum Zweck der gesellschaftlichen Individuen zu erheben. Wenn Marx sich die Frage stellt, ist seine Antwort die, dass eine selbstlaufende Entwicklung der Produktivkräfte die Dämme des Gemeinsinns mit der Zeit notwendig bricht. Das ist jedoch nicht plausibel.
Es will auch von Marx nicht zum Nennwert verstanden werden. Die Produktivkräfte sind nämlich nie getrennt vom Gemeinwesen zu haben. Marx sagt selbst, Entwicklungen der ökonomischen "Basis" müssten erst im "Überbau" bewusst werden, damit die Gesellschaft zu Schlüssen befähigt wird, und nur dort würden solche Schlüsse dann "ausgefochten" (MEW 13, S. 9). Es ist also ein "Bewusstsein" in Rechnung zu stellen, das den Staat erfasst und zum Propagandisten nicht mehr bloß des Glaubens oder Bürgersinns, sondern der Reichtumsvermehrung macht, daneben auch der Wissensvermehrung und, ganz allgemein, der Machtvermehrung über alle Grenzen hinaus.
Das bedeutet, dass zu den Existenzbedingungen des Kapitalismus eine intellektuelle Komponente gehört, deren Kraft man sich nicht riesig vorstellen soll, die aber keinesfalls fehlen durfte. Was sind das für Staaten, die nicht mehr auf sichere Grenzen setzten wie selbst die stolzen Römer (ein Augustus hatte seine Nachfolger gewarnt, das Reich nicht zu überdehnen), sondern auf mehr Reichtum, mehr Wissen und immer mehr Macht? Da muss doch eine intellektuelle Reform stattgefunden haben - eine, die zuletzt den Staat erfasste und umwälzte, so dass er aufgehört hat, das Kapital abzuwehren.
Marx untersucht das so wenig wie Braudel, aber er erfasst die Bedingungen des Problems. Auch Marx weiß, dass der Kapitalismus nicht schon durch großes Vermögen und "freigesetzte" Arbeitskraft entsteht - sonst wäre er schon im alten Rom, im alten China und erst recht im alten Japan entstanden -, vielmehr muss "das auf dem Austausch [...] basierte Gemeinwesen" (Grundrisse, a.a.O., S. 108 f.), der Staat, der sich auf Händler stützt, statt sie klein zu halten, als Medium ihrer Zusammenfügung hinzutreten. Das tut er nicht, solange die Staatsdoktrin stoisch, christlich oder konfuzianisch bleibt.
Es ist dies der Ort, wo wir noch einmal auf Max Weber zurückkommen müssen. Denn der hat behauptet, die zum Kapitalismus führende intellektuelle Reform sei der Calvinismus gewesen.
5
Die Notiz Nr. 24 wird sich nicht scheuen, intellektuell immanent, ja philosophisch immanent zu argumentieren. Es kann zwar jetzt schon versichert werden, dass die "intellektuelle Komponente" selbst wieder auf eine "ökonomische Basis" zurückgeführt werden wird. Aber ich will gar nicht verschweigen, dass ich das im Grunde für ein albernes Spiel halte. Was heißt denn "Bewusstwerdung der Basis im Überbau"? Der Gedanke, der nur "bewusst wird", muss als Gedanke schon vorher da gewesen sein. Man stellt dann fest, dass er mit der Sache, die von ihm benannt wird, mehr oder weniger verträglich ist. Insofern "bestimmt das Sein das Bewusstsein". Wir wollen aber den Gedanken nicht erst dann präsentiert bekommen, wenn er fix und fertig ist, sondern uns seine Herausbildung im Denken verständlich machen.
Wenn ich mich daher für irgendetwas zu entschuldigen habe, dann höchstens für die Abstraktheit meiner Argumente, die allerdings zu erwarten ist. Aber auch hier fällt die Entschuldigung nicht schwer. Denn auch wer die intellektuelle Reform, die zur Entstehung des Kapitalismus beitrug, uninteressiert findet, wird nicht leugnen, dass wir heute wieder eine intellektuelle Reform brauchen, die diesmal aus demselben Kapitalismus herausführen soll. Ja, ich erhoffe von der Erörterung der "intellektuellen Komponente", dass sie, indem sie ein allgemeinstes intellektuelles Prinzip des Kapitals offenbart, auf ein ebenso allgemeines Prinzip der Negation des Kapitals führen wird. Dies Prinzip werden wir als ständiges Kriterium unseres Entwurfs der Anderen Gesellschaft verwenden.
Kommentare 18
Guten Morgen bzw. Gute Nacht! - Gelesen wird später... Gruß von m.
Gibt es das ganze auch in Buchform? Lange Texte oder Fortsezungen lese ich lieber in dieser Version.
Du meinst, Du liest es lieber in Buchversion? Kann ich natürlich verstehen. Aber es ist kein Buch vorhanden (vielleicht wirds eins), es gibt nur die bisherigen 23 "Kapitel".
Ja, genau das meinte ich. Schade, dann muss ich wohl alle bisherigen Folgen ausdrucken und so lesen.
Vielen Dank für diesen interessanten Artikel.
Eine Kleinigkeit gibt es aber zu korrigieren:
----------------------------------------------------
Was sind das für Staaten, die nicht mehr auf sichere Grenzen setzten wie selbst die stolzen Römer (ein Augustus hatte seine Nachfolger gewarnt, das Reich nicht zu überdehnen), sondern auf mehr Reichtum, mehr Wissen und immer mehr Macht?
----------------------------------------------------
Meines Wissens waren die Reiche bzw. Herrscher, die trotz bereitstehender Machtmittel auf eine (sinnvolle) Expansion ihres Einflussgebiets verzichteten, in der Weltgeschichte eher die Ausnahme. Wer die Chance dazu hatte, der expandierte in der Regel.
Oftmals war das auch allein schon aus Gründen des Selbstschutzes geboten. Denn was man sich heute selbst nicht unter den Nagel riß, konnte schon morgen der Aufrüstung eines konkurrierenden Nachbarn dienen.
Danke für das Interesse! Über den kritischen Einwand werde ich nachdenken. Der angeführte Satz ist mindestens schlecht formuliert. "Immer mehr Macht" ist zu blaß für das, was ich sagen wollte, die Wendung soll ja die vorausgegangene Wendung "Machtvermehrung über alle Grenzen hinaus" synonym wiederholen. Und dies soll man sich, wie am Ende deutlich wird, als das Ergebnis einer "intellektuellen Reform" vorstellen, d.h. das ist tendenziell eine Vermehrung um der Vermehrung willen, und dies bewußt.
Sehr mißverständlich ist "Staaten, die nicht mehr auf sichere Grenzen setzen", weil sich das anhört wie "Staaten, die nur verteidigen und nie Angriffskriege führen". Der Ausdruck meint aber "Expansion aus Gründen des Selbstschutzes" mit. Überhaupt muß man über die Gründe historischer Angriffskriege sprechen, um den Unterschied zum unendlichen Expansionswillen herausarbeiten zu können. Nomadenvölker haben z.B. teils ihre Tiere immer woanders weiden lassen (müssen), teils wollten sie an den Hochkulturen teilnehmen. Ein etwas anderer Fall sind alte Handelsvölker, wozu ja das Marx-Zitat. Wo der Handel in einem Staat zum Selbstzweck wurde, war schon damals sehr viel mehr Expansionsselbstlauf zu erwarten. Siehe Karthago. Interessant ist, daß die alten Römer sich vor den Kriegen mit Karthago keineswegs übers ganze Mittelmeer ausdehnen wollten, aber durch diese Kriege wurden sie selbst Karthago. Aber selbst im Caesaren-Rom blieb neben der Händlergesinnung die Doktrin des Bürgersinns, der Tugend usw. in Geltung und sorgte für ein gewisses Begrenztheitsbewußtsein, das, wie gesagt, schon von Augustus auch in Worte gefaßt wurde.
Wir leben auf einem völlig anderen Planenten, wenn Nazis singen "Wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt". Hannah Arendt verallgemeinert: "ein politisches Ziel, bei dem die [NS-] Bewegung an ihr Ende kommen würde, gibt es überhaupt nicht", dasselbe erscheint bei Ian Kershaw als empirisches Forschungsergebnis: "Die Erhaltung der Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung verlangte die Fortsetzung der Expansion, die Eroberung neuer Territorien, das Aufstellen neuer Ziele, den unaufhörlichen Einsatz für das Tausendjährige Reich. Den Visionen sollten keine Grenzen gesetzt werden; die Suche nach den letzten Dingen durfte nicht permanent durch konventionelle territoriale Regelungen eingeschränkt werden. [...] Solche Überlegungen dominierten Hitlers Gedanken."
Die Frage ist, ob man diese Denkweise für NS-einmalig hält oder in ihr nur eine letzte Zuspitzung einer jahrhundertelangen Entwicklung sieht. Mindestens daß Napoleon nun auch noch Rußland angreifen mußte, geht doch wohl sehr stark in diese Richtung. Und eine gewisse Macht-Verunendlichung läßt sich schon vorher im Absolutismus bemerken, wozu Foucault geschrieben hat. Natürlich wollte ich über all das noch schreiben (über das Prinzipielle daran), damit kann ich meine schwache Formulierung hier in Nr. 23 vielleicht ein bißchen rechtfertigen, sie ist eben nur vorgreifend.
Lieber Michael,
leider verfolge ich deine Darlegungen aus Kapazitätsgründen nicht immer mit der Konzentration, die sie verdienen, bemühe mich jedoch, zumindest kursorisch "dabei" zu sein und habe auch gelegentlich, wie hier, einige, zumal kategoriale, Korrekturen anzumerken, wenn du erlaubst.
Tatsächlich sind wohl die Begrifflickeiten nicht allenthalben einheitlich, jedoch scheint mir hier einiges präzisionsbedürftig. Ich lasse mich da aber ebenfalls gerne korrigieren.
1. Du schreibst:
"Gut, Feudalismus ist Lehnsvergabe, und für die Belehnung wird eine Gegenleistung verlangt, die in ökonomischen Gaben bestehen kann."
Feudalismus ist nicht in erster Linie Lehnsvergabe, sondern, wie der Name sagt, Feudalwirtschaft. Das Lehenswesen ist eine Spezialität, es betrifft die Beziehungen des (Fürsten) Königs zu den Rittern. Sie stellen eine besondere Schicht von Aufsteigern, zumal aus dem Bauerntum, in die adelige Klasse dar.
Der klasssische Stammesadel, umfasst die Freiherren (Barone) und Grafen und ist gekennzeichnet durch originäres Eigentum an Grund und Boden, das aus der Zeit der Völkerwanderung durch die herzogliche Verteilung der eroberten Gebiete an die "Freien" Gefolgsleute erworben und vererblich ist. Es wird bewirtschaftet von unfreien ("hörigen") Bauern, die dafür zu Abgaben verpflichtet sind, "ökonomischen Gaben", wie du sagst. Daneben gibt es die adeligen Domänen, die von "Leibeigenen" bewirtschaftet werden, landlosen unfreien Bauern, die auf dem adeligen Sitz leben.
Die Ritter sind dagegen das militärische Personal der Fürsten. Diese haben keine stehenden Heere, sondern belehen (beleihen) Kriegsleute mit Burgen und dem dazugehörigen Landbesitz dafür, dass diese ihnen den Treueeid schwören und bei Bedarf sich zu einem Eroberungs- oder Verteidigungsheer sammeln. Die Abgaben der Bauern, die auf dem ritterlichen Grundbesitz (nicht: Eigentum!) wirtschaften, sind der Sold, den sie für ihre militärischen Dienste erhalten. Erst im späten Mittelalter werden die Lehnsgüter nach und nach erblich, und die Ritter steigen zu einer eigenen, mächtigen adeligen Schicht auf, dem "Reichsritterstand".
Dem Aufstieg folgt jedoch der (ökonomische und politische) Abstieg, bedingt durch die Erfindung des Schießpulvers. die Musketen durchschießen die Ritterrüstungen glatt, und die Fürsten rekrutieren statt der Ritter stehende Landsknechtsheere.
Interessant jetzt die Verbindung zu deinen Kaufleuten: die dergestalt "arbeitslosen" Ritter spalten sich in zwei Gruppen auf, in die "Raubritter", deren Existenzgrundlage der Überfall auf die Kaufmannskarawanen ist, und in diejenigen, die als Begleitpersonal von eben diesen Kaufleuten angeheuert werden, um die Karawanen vor den Raubrittern zu schützen.
Es gibt jedoch neben den Kriegsleuten auch andere Schichten, die in den so genannten ritterlichen "Dienstadel" drängen und gelangen. Eine davon sind die Minnesänger. Sie sind im Prinzip bäuerlicher Abstammung, werden aber, wenn sie die besondere königliche oder herzogliche Gunst genießen, mit einem Rittergut belehnt, dadurch in den Adelsstand erhoben und wirtschaftlich unabhängig. Walther von der Vogelweide ist einer, dem das gelingt. Er schreibt daraufhin ganz begeistert ein Gedicht: Ich hân mîn lêhen, al die werlt, ich hân mîn lêhen - Ich habe mein Lehen, alle Welt, ich habe mein Lehen!
www.pohlw.de/literatur/sadl/ma/wal-leh.htm
Die Namen: Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg usw. sind aber Herkunftsbezeichnungen, keine Adelsprädikate, wie das "von" der Baronen und Grafen.
Interessant ist, dass neuere Forschungen die Situation der Minnesänger materialistischer einschätzen, als es die traditionell idealistischen Deutungen taten, die noch auf die Vorstellungen der Romantiker vom hehren Mittelalter fußten. So wird die verehrte und angebetete höhergestellte Frau, die in den Liedern besungen wird, als Sinnbild eben für den sehnlichst angestrebten und schier unerreichbaren Adelsstand gedeutet.
Im übrigen waren die Minnesänger wohl gebildete Leute, was damals hieß: sie konnten lesen und schreiben. Das konnten ansonsten vorwiegend die Mönche, und diese unbewaffneten "Litterati" waren in der ritterlichen Gesellschaft ein verachteter Stand. Darauf gründet die Vorstellung, die Minnesänger hätten an den ritterlichen Höfen ihre Lieder spontan gedichtet und frei vorgetragen. Tatsächlich hat man kleine Satteltaschenbücher gefunden, in welchen Liedertexte standen. Das bestätigt die Annahme, dass die Minnesänger ihre Bildung vor den Rittern geheim hielten, um als ihresgleichen von ihnen anerkannt zu werden, vor dem Vortrag jedoch aus den Textbüchern die scheinbar spontan gedichteten, aber kunstvollen und zum Teil recht umfangreichen Lieder auswendig lernten.
Soweit erst einmal mein etwas ausschweifender Kommentar zum Lehnswesen und Feudalismus.
Grüße
oranier
2.
"Im Feudalismus sind die Hoheitsrechte nicht auf der Ebene des Reichsoberhaupts konzentriert. Sondern vieles liegt ganz offiziell bei den Feudalherren. Sie sind bewaffnet, können Verträge mit reichsauswärtigen Mächten eingehen - so mag ein deutscher Kurfürst nach der polnische Krone greifen -, sie haben Gerichtshoheit und prägen gar Münzen".
Bewaffnet waren im Mittelalter alle freien Männer, außer, glaube ich, die Mönche und auf jeden Fall Juden. die hatte der König nach den Pogromen während der Kreuzzüge unter seinen persönlichen Schutz gestellt, gegen Steuerzahlungen, versteht sich, und sie durften seitdem keine Waffen tragen, was ihnen nachhaltig den Ruch der Feigheit einbrachte.
Es gab im Mittelalter keinen Staat im modernen Sinne, sondern das Staatswesen bestand aus einem hierarchischen System von persönlichen Abhängigkeiten. Die Gerichtsbarkeit unterlag den Feudalherren in abgestufter Form, bis hinunter zu den Baronen. Die konnten natürlich keine Verträge mit auswärtigen Mächten abschließen. Hier muss man grundsätzlich unterscheiden zwischen dem niederen und mittleren Adel und hochadeligen dynastischen Herrscherhäusern, denen auch als Territorialfürsten das Münzrecht vorbehalten blieb, soweit ich weiß.
In Frankreich und England war es herrschenden Dynastien gelungen, seit dem 10. Jh. ein Erbkönigtum zu etablieren. In Deutschland wurde dies von den mächtigen Reichsfürsten verhindert. der König war ein "Primus inter Pares", ein Erster unter Gleichen, der jeweils von den sieben Kurfürsten (= Wahlfürsten) aus ihren Reihen gewählt wurde. das waren die mächtigsten Erzbischöfe und Herzog sowie der Träger der böhmischen Krone, die auch zum Reich gehörte und der Pfalzgraf am Rhein. Diese herrschten nahezu unbeschränkt über ihre territorialen Fürstentümer, seit dem 17. Jh. hatte der Kaiser außerhalb seines herzoglichen Erblandes praktisch nur noch Schlichtungs- und repräsentative Funktionen.
Durch die Heiraten der hochadeligen Dynastien quer durch Europa kam es dann zustande, dass Reichsfürsten auch Regentschaften außerhalb des Reiches erbten. Besonders das österreichische Haus Habsburg, aus dem über Jahrhunderte auch der gleichwohl jeweils neu zu wählende Kaiser stammte, tat sich darin hervor. Es galt dort der Wahlspruch: "bella gerant alii, tu felix austria nube!" - die anderen mögen Kriege führen, du. glückliches Österreich, heirate!
Auf diese Weise herrschte, nachdem die Habsburger die spanische Krone geerbt hatten, Karl V. durch die lateinamerikanischen Kolonien über "ein Reich, in dem die Sonne nicht untergeht".
Georg Friedrich Händel ging Anfang des 18. Jh. von Hannover nach London, weil er sich angeblich mit dem Hannoverschen Kurfürsten nicht verstand, hatte dann aber das Pech, dass dieser kurze Zeit darauf als Georg I. den englischen Thron bestieg. Spätestens, nachdem Händel seine "Wassermusik" für den König komponiert und in einem großartigen Lichter- und Musikfest auf der Themse zur Aufführung gebracht hatte, herrschte aber Frieden zwischen den beiden und der König verdoppelte Händels Gehalt.
Hundert Jahre später hat dann das Industriekapital endgültig die Macht und Vorherrschaft über das Königtum gewonnen, womit wir dann zu deinem Thema im engeren Sinne zurückgekommen wären.
Vielen Dank für die weiterführende Kritik. Ich antworte im Lauf des Tages oder morgen, wobei ich versuchen werde, das zu verteidigen, was mir wichtig ist: daß es den Feudalismus auszeichnet, daß die Hoheitsrechte nicht auf der Ebene des Reichsoberhaupts konzentriert sind. Nebenbei gefgllt es mir, daß Dir bei all dem die Kunst so nahe ist, Walther von der Vogelwide und Händel.
"zu verteidigen, was mir wichtig ist: daß es den Feudalismus auszeichnet, daß die Hoheitsrechte nicht auf der Ebene des Reichsoberhaupts konzentriert sind".
Gegen mein Posting musst du das aber nicht verteidigen, da herrscht doch völliger Konsens:
"Es gab im Mittelalter keinen Staat im modernen Sinne, sondern das Staatswesen bestand aus einem hierarchischen System von persönlichen Abhängigkeiten. Die Gerichtsbarkeit unterlag den Feudalherren in abgestufter Form, bis hinunter zu den Baronen."
Wenn du das, im Zusammenhang mit der zunehmenden und nach dem Westfälischen Frieden praktisch vollendeten Souveränität der Territorialfürsten nicht geradezu als differenzierende Bestätigung deine Aussage empfindest, wäre ich natürlich daran interessiert, es zu vernehmen.
Doch, stimmt, ich empfinde es so. Das andere, wie gesagt, morgen.
Lieber Michael Jäger,
danke für diesen Beitrag. Ich werde die 23 Kapitel ausdrucken und hoffe auf Dein Buch.
Danke auch an meinen Freund und Community-Wüterich oranier für seine weiterbildenden Ergänzungen.
Herzliche Grüße
weinsztein
Gestern war heute morgen.
Ich antworte bestimmt noch, manchmal kann man über die Zeit nicht so verfügen, wie man möchte. Und wahrscheinlich werde ich Dir dann einfach recht geben. Ich kann Dir ja einen Brief schreiben auf Deiner Seite, um Dich auf den Eintrag aufmerksam zu machen. Heute abend komme ich aber wieder nicht dazu, höchstens vielleicht um Mitternacht.
Lieber Oranier, bitte nochmals um Entschuldigung, daß meine Antwort so lange auf sich hat warten lassen. Deine Ausführungen betreffen Bemerkungen von mir, die ich aus dem Gedächtnis niedergeschieben habe, ich mußte erst Zeit finden, die Bücher in die Hand zu nehmen, aus denen ich mich mal unterrichtet hatte, usw.
Das, worum es mir ging, bestätigst Du, darüber freue ich mich. Ich hatte tatsächlich nur unterstreichen wollen, daß im Feudalismus die Hoheitsrechte teilweise dezentralisiert sind, mit der nicht zuletzt an Marxisten sich wendenden Zuspitzung, daß es zu kurz gegriffen wäre, Feudalismus nur ökonomisch zu definieren – daß das "Ökonomismus" wäre – statt auch politisch. Du in Deiner Perspektive würdest anscheinend nicht so zuspitzen, denn obwohl Du meine Aussage bestätigst, hebst Du ja als das für Dich Wichtigste hervor, daß Feudalismus "in erster Linie Feudalwirtschaft und nicht Lehnsvergabe" sei. Wenn ich gemeint hatte, am besten könne man Feudalismus anhand der Dezentralisierung der Hoheitsrechte identifizieren, war das in gewisser Weise die gerade umgekehrte Auffassung, daß man nämlich den Blick vor allem auf eine bestimmte Eigenart und Konsequenz des Lehnsrechts zu werfen habe. Es ist aber wohl überhaupt nicht gut, die beiden Ebenen gegeneinander ausspielen und eine Rangordnung zwischen ihnen herstellen zu wollen. Die Formulierung "Feudalismus ist Lehnsvergabe" werde ich daher jedenfalls ändern, dergestalt etwa vielleicht, daß "Feudalismus mit Lehnsvergabe immer einhergeht", daß dies aber nur ein Element von mehreren einer Gesamtdefinition sein kann.
Im Einzelnen habe ich gefunden, daß ich meine Formulierung, daß "Feudalherren Verträge mit auswärtigen Mächten eingehen können", nicht zu korrigieren brauche. In der Verfassungspolitik der Staufer z.B. war es ausdrücklich festgestellt, daß die Reichsfürsten keine Bündnisse gegen Kaiser und Reich eingehen durften, d.h. andere Bündnisse durften sie eingehen. Es war "nicht [verboten], Lehen auswärtiger Fürsten zu nehmen, was besonders häufig im Westen des Reiches vorkam. Reich und Staat hatten dem Werben Frankreichs und Englands um die deutschen Fürsten durch die neue geldwirtschaftliche Form der Kapital- und Rentenlehen nichts entgegenzusetzen" (Gebhardt I, Stuttgart 1954, S. 648). Zu dieser Zeit durchdrangen sich übrigens bereits Lehnsrecht und Territorialisierung, man kann nicht beides sauber auf zwei verschiedene Epochen verteilen, am wenigsten in Deutschland: Kaiser Barbarossa "anerkannte [...] offiziell die Territorialisierung aller staatlichen Macht und ihre Dezentralisation, vielleicht in der Hoffnung, durch straffe Anwendung des Lehensrechts alle diese Gebiete einmal wieder dem Reich einzugliedern" (S. 647).
Auch die Formulierung: "Für die Belehnung wird eine Gegenleistung verlangt, die in ökonomischen Gaben bestehen kann", darf ich aufrechterhalten. Denn ich lese z.B. bei Le Goff (Das Hochmittelalter, Ffm. 1965, S. 66 f.): "Durch den Lehensvertrag verpflichtet sich der Vasall, seinem Herrn Hilfe und Rat zu geben. Die Hilfe war meistens Militärhilfe, aber in England verlangten die Könige von ihren Vasallen seit der zweiten Hälfte des 12. Jh.s eine finanzielle Angabe anstelle des persönlichen Dienstes."
Daß leibeigene Bauern u. dgl. keine feudalen Vasallen sind, weiß ich natürlich. Aber gerade wenn man sich klar macht, daß der Feudalismus nicht nur ein Rechtssystem, sondern auch ein Wirtschaftssystem ist, kann sich die Frage stellen, hat sich mir jedenfalls gestellt, ob nicht zwischen dem eigentlichen feudum und der Art, wie Bauern Besitz gegeben wird, der nicht ihr Eigentum wird, und sie dafür dem Herrn Dienste leisten müssen, eine Strukturanalogie besteht, die historisch ganz unverwechselbar ist. In diesem Zs. ist die spätrömische Entwicklung zum Colonen interessant: Um der Steuerlast zu entkommen, "übergaben freie Bauern oder ganze Dörfer ihren Besitz den Grundherren und erhielten ihn, häufig etwas vergrößert, als Pächter zurück, mit der Gegenleistung eines Schutzes durch den Grundherrn" (F. G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, Ffm. 1968, S. 82); im Zuge dieser Entwicklung wird "das Gut [...] der neue Wirtschaftsschwerpunkt. Die große Grundherrschaft (die in manchen wirtschaftlichen Elementen und auch im Lebensstil gewisse 'feudale' Züge trug) erscheint daher seit dem 4. Jh. immer mehr als dominierender Faktor in den weiten Landgebieten des gesamten Imeriums." (S. 86) Vielleicht ist es ja richtig zu sagen, neue Ausbeutungsverhältnisse dieser Art seien die "ökonomische Basis" und das feudum der Vasallen der dazugehörige, etwas später dazukommende "Überbau", weshalb eben beides auf einer bestimmten Abstraktionsebene als die gleiche Struktur erscheint. Aber ich will und kann mir darüber kein Urteil erlauben, äußere nur meine Meinung und will wirklich nicht so tun, als sei ich auf diesem Gebiet ein Fachmann.
Lieber Michael,
ich wollte keineswegs einen Zeitdruck auf dich ausüben, das wäre ein grobes Missverständnis, sondern der Hinweis auf "morgen" war nichts als eine kleine freundliche Spitze.
Und, wenn ich an etwas hier im Blog als letztem interessiert bin, dann daran, dass man mir einfach Recht gibt.
Im Gegenteil, ich bin hier entgegen mancherlei Unkenrufen ausgesprochen an einem Austausch interessiert, bei dem auch ich mein Denken präzisieren und mein Wissen erweitern kann, und versuche einen solchen allenfalls durch Kritik zu provozieren, die mir insofern nicht Selbstzweck ist.
Insofern bedanke ich mich ausdrücklich für deine ausführliche Antwort unten und mache dir ein Kompliment dafür: sie ist genau so, wie ich sie mir für eine produktive Diskussion wünsche.
Daher verdient und erhält sie eine ebenfalls ausführliche Entgegnung von mir, zu der ich allerdings erst morgen (!) kommen werden.
Liebe Grüße
oranier
Lieber Michael,
ein Fachmann bin ich auf dem Gebiet auch nicht, hole auch, was ich überhaupt im Blog schreibe, nur aus der Tasche, wogegen du ja jedenfalls für deine Antwort Literatur zu Rate ziehst.
"Strukturanalogie" ist ein sehr passender Ausdruck für den Unterschied zwischen Lehswesen und Feudalabhängigkeit. Auch ich sah die beiden Erscheinungen nicht im kontradiktorischen Gegensatz, sondern als spezifische Differenzen unter einem gemeinsamen Oberbegriff, den man Feudalwesen nennen könnte.
Zu deinem ersten Hinweis auf die Verträge von Feudalherren mit ausländischen Mächten: Zwischen Reichsfürsten und Feudalherren besteht ein fundamentaler Unterschied, auf den ich, glaube ich, hingewiesen habe. Zwar besitzen die Reichsfürsten natürlich auch herrschaftliche Güter und sind insofern Feudalherren, jedoch gerade für deinen Gedankengang erscheint mir wichtig, dass "Reichsfürst", in moderner Analogie gesprochen, ein politisches Amt ist. Die Fürsten sind im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation kleine Souveräne, die Versuche der Kaiser, die Macht zu zentralisieren, können spätestens seit dem Sieg des Papstes im "Investiturstreit" des 11. Jh. als gescheitert angesehen werden, seit dem Ende des 30-jährigen Krieges ist das Reich nur noch ein loser Staatenbund souveräner Fürsten. Dein Zitat aus Gebhardt fasst das sinnfällig und prägnant zusammen.
Für Feudalherren niedererer Rangordnung, für Grafen, die keine Reichsgrafen (= Fürsten) sind und Freiherren, dürfte das Vertragsprivileg kaum gelten. Deshalb würde ich, es sei denn, du fändest andere Belege, lieber von "Fürsten" als von "Feudalherren" sprechen. Mehr wollte ich mit der Differenzierung nicht ausdrücken.
Überhaupt müssen wir natürlich im Bewusstsein halten, dass alles, was wir oder deine Gewährsleute zusammenfassend über die Verhältnisse schreiben, idealtypisch ist. Dabei gilt es unterschiedliche aspekte zu berücksichtigen.
1. Der "Feudalismus" beschreibt einen Zeitabschnitt von nicht weniger als tausend Jahren und ist natürlich, bei aller Beständigkeit der Verhältnisse, alles andere als statisch. D. h. aus ursprünglichen Lehensverhältnissen gehen souveräne Herrschaften hervor, auf die der ehemalige Lehnsherr nur noch bedingten Einfluss hat usw..
Man kann die Verwicklungen der Machtverhältnisse im einzelnen z.B. exemplarisch studieren an den Auseinandersetzungen zwischen dem Welfenherzog Heinrich dem Löwen und dem von dir erwähnten Kaiser Barbarossa um das Herzogtum Bayern. Das scheint zu der Zeit noch kaiserliche Domäne zu sein, mit der Barbarossa letztlich den Sachsenherzog belehnt, um diesen mächtigen Reichsfürsten, dessen Vorfahren sich schon mit dem Kaiser angelegt hatten, endgültig zu befrieden.
2. Das zeitweilige Machtgleichgewicht zwischen Kaiser und Territorialfürsten, das letztlich zur Vorherrschaft dieser ausschlägt, ist spezifisch für das Reich. Die Könige in England und Frankreich können umgekehrt mächtige Zentralgewalten etablieren, was einen entsprechenden Einfluss auf das Beziehungsgefüge der herrschenden Klasse hat.
3. Diese beiden Aspekte beschreiben jedoch zunächst die Verhältnisse auf der politischen Ebene. Wobei wir uns vergegenwärtigen müssen, dass die Rede von politisch- staatlicher und ökonomischer Herrschaft als zwei getrennten Bereichen eine Sicht mit Hilfe moderner Kategorien ist. Man beschreibt, sagt Marx, die Anatomie des Affen von der Anatomie des Menschen aus und nicht umgekehrt, und das, obwohl diese aus jener entstanden ist. Will sagen, die zeitgenossen würden die analytische Trennung gar nicht verstehen, da alle Bereiche der Herrschaft vollkommen und unlösbar miteinander verwoben waren.
4. In das beschriebene System drängen allerdings, das ist auch in deinen Texten angesprochen, zwei neu aufkommende Erscheinungen hinein, die durchaus miteinander zusammenhängen: die aufkommende Geldwirtschaft und die Herausbildung der territorialen Flächenstaaten anstelle des hierarchischen Feudalstaates.
a) Die Geldwirtschaft entsteht ab dem 12./13. Jh. im Zusammenhang mit dem steigenden Luxusbedarf des Adels und dem Fernhandel, der diesen zu befriedigen sucht. Anstelle des klassischen zweiseitigen Verhältnisses zwischen Adel und Bauern, die Abgaben in Form von Fronarbeit und Naturalien leisten, entsteht ein Dreiecksverhältnis zwischen Stadt, Bauerngut und Ritterburg. Die Feudalherren verlangen nun zusätzlich Geldabgaben von den Bauern, die das Geld durch Verkauf ihrer Produkte auf dem städtischen Markt erwirtschaften, und die Adeligen erwerben für das Geld Luxusgüter bei den städtischen Fernhandelskaufleuten.
b) Dadurch bildet sich eine reiche Kaufmannschicht als bürgerliche Klasse heraus, die, zu schwach noch für eine Revolution gegen den Adel, auf politische Teilhabe drängt. Das Ergebnis ist die tendenzielle politische Entmachtung des Adels durch die Fürsten in den absolutistischen Territorialstaaten, der seine sozialen Privilegien samt Ämtern auf den Fürstenhöfen erhält, seine politischen Funktionen aber abgibt an juristisch ausgebildete bürgerliche Beamte, die praktisch den Staat organsieren.
Im Absolutismus kehrt sich auf diese Weise die gegliederte feudale Hierarchie wieder um in eine eindeutige, nunmehr moderne staatliche Zentralgewalt. Dem Absolutismus liegt insofern ein Klassenkompromiss zwischen Adel und Bürgertum zugrunde, der dann erst durch die bürgerliche Revolution zugunsten der Herrschaft des Bürgertums gebrochen wird.
Soweit zu diesem Themenkomplex, du hast ja schon einen neuen aufgemacht, hoffe, du und andere können trotzdem etwas mit meinem Kommentar anfangen.
Grüße
oranier
Lieber Oranier, das ist eine interessante Diskussion, die wir hier führen, und sie ist wohl noch nicht abgeschlossen. Ich sehe jetzt deutlicher in Deinen Beiträgen die Tendenz, "Reichfürsten" und "Feudalherren" als zwei Kategorien zu behandeln, die sozusagen grundsätzlich und jederzeit verschiedenen Verfassungssystemen angehören, auch wenn es zu bestimmten Zeiten Interferenzen zwischen ihnen geben mag. Das sehe ich nicht so. Wenn "Feudalismus" als ökonomisches und politisches Gesamtsystem aufgefaßt wird, dann sind in ihm auch Reichsfürsten nach oben Vasallen und nach unten Feudalherren. Man kann sie also nicht von vornherein als "kleine Souveräne" behandeln, auch wenn sie es mit der Zeit werden, denn wenn man das tut, dann gibt es überhaupt keinen Feudalismus als eigenständige Gesellschaftsformation, dann hat das Römische Reich und mit ihm verbundene Staatsrecht bis in die Neuzeit hinein niemals aufgehört zu existieren, wurde nur zeitweise durch ephemer mitlaufende, "akzidentelle" "Feudalbeziehungen" überlagert, beeinträchtigt und zu Umwegen gezwungen.
Das Interessante daran ist, daß man es vielleicht tatsächlich so sehen kann. Man kann es aber eben auch so sehen, daß in der Karolingerzeit eine wirklich neue Gesellschaftsgesamtverfaßtheit entstand, dergestalt, "daß man neben die Vasallen alten Stils – [...] die nur Dienste für einen Herrn listeten – nunmehr eine neue Kategorie treten ließ, indem man alle Großen des Kaiserreichs zu Vasallen des Herrschers zu machen versuchte" (Jan Dhondt, Das frühe Mittelalter, Ffm. 1968, S. 57). Man sagt dann immer dazu, das geschieht auch hier bei Dhondt, daß solches jedenfalls, und vielleicht nur, in der "Absicht" der Kaiser liegt. Aber es ist doch auch eine Realität, wenn sie auch nur in beständigen Kämpfen besteht: "Am 1. X. [1002] unterwarf sich Hermann von Schwaben zu Bruchsal der Gnade des Königs, der ihm seine Lehen zurückgab" (Gebhardt I, S. 210), usw. usw.
Dies als zeitweilige ("historisch bestimmte") Realität zu begreifen statt als Donquichotterie von Kaisern, die nicht einsehen wollen, daß sie in den Kämpfen zuguterletzt doch den kürzeren ziehen werden, dafür spricht, daß doch jedenfalls keine andere Verfassung wirksam war, mit der man dem damaligen Verhältnisse von heute aus gesehen wirklichkeitsnäher beschreiben könnte oder die gar dem Selbstverständnis der Damaligen nähergelegen hätte. Die "Großen des Kaiserreichs" waren nun einmal wirklich keine Staatsbeamten, und das Kaiserreich als solches hat nun einmal wirklich existiert, d.h. die Großen haben im großen und ganzen anerkannt, daß sie deren bloße Bestandteile, deren zweite und nicht erste Ebene waren. Daher zeigten sie einen ganz eigentümlichen Charakter von Untergeordnetheit, der sich eben darin ausdrückte, daß sie sich einerseits als Lehnsträger auffaßten, andererseits politische Hoheitsrechte besaßen. Es ist klar, daß in einer solchen Verfassung immer der Keim der Verselbständigung der Großen und damit ja des Endes des Feudalismus liegt, daß also, wie gesagt, auch während ihrer Geltung immerzu um ihren Bestand gekämpft werden muß. Aber ist das denn im Kapitalismus anders, ist das nicht ein Grundgesetz jeder sozialen Ordnung?
Du schreibst, "aus ursprünglichen Lehensverhältnissen gehen souveräne Herrschaften hervor"; ja, aber davor gehen erst einmal aus ursprünglichen römischen Verhältnissen Lehensverhältnisse hervor, und zu denen gehört es selber, daß die Großen politische Hoheitsrechte haben, dieses ist also nicht schon per se die Auflösung von Feudalität in Souveränität, wie es ebenfalls dazu gehört, daß sie, die Großen, anerkennen, daß es eine einzige Spitze aller Lehensverhältnisse gibt, d.h. geben muß, geben müßte. Wenn sie das nicht getan hätten, hätte ja auch gar nichts mehr am Krieg aller gegen alle gehindert. Man sollte vielleicht mehr betonen, als ich das oben im Text getan haben, daß diese Bereitschaft, die Existenz eines Gesamtsystems anzuerkennen, in der damaligen Zeit nicht ohne ein religiöses Oberhaupt als verfaßte Legitimationsquelle denkbar gewesen wäre. Hier liegt ja auch ein folgenreicher Unterschied zwischen der europäischen und der japanischen Entwicklung: In Japan fügte sich der Kaiser in seine Machtlosigkeit, war nur noch religiöse Legitimationsquelle, in Europa gab es den Investiturstreit.
So weit erst einmal. Viele Grüße, Michael