(37a) Vom Mehrwert zum Wert

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Vorbemerkung: Die Notizen (37a) bis (41a), die ich "gleichzeitig" ins Netz gestellt habe, sind eine Neufassung der Notizen (37) bis (41). Näheres über die Gründe und den Charakter der Neufassung findet man im Tagebuch, siehe dort die Eintragungen vom 29.5. und 29.6. Die Notiz (37a) ist identisch mit der alten Notiz (37) bis auf den letzten Absatz, der mit "Nun zur problematischen Antwort" beginnt. Die folgenden Notizen sind neu geschrieben, nur einzelne Stücke der alten Fassung sind integriert. Die T h e s e der alten Fassung ist unverändert.

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Die Frage, ob Geld Kapital impliziert oder unabhängig von ihm gedacht werden kann, wurde in den vergangenen vier Notizen gegen Marx beantwortet: Dessen Annahme, dass Geld schon allein seiner Quantität wegen die Tendenz zum "immer mehr" berge - es bräuchte dann nur noch Arbeitskraft einzukaufen und wäre so mit Kapital identisch -, ist eher selbst fetischistisch als plausible Fetischismuskritik. Wir haben ferner festgestellt, dass Marx eine wichtige Funktion vernachlässigt, die im Kapitalismus am Geld hängt und deren Bedeutung nicht abnehmen wird, nämlich die Freiheit des Individuums, zwischen verschiedenen möglichen Gütern zu wählen. Mit jener Antwort und dieser Feststellung ist es nicht getan. Sie sind nur mein erster Zugriff gewesen. Den Satz, Geld sei "mögliche Ware", habe ich der Marxschen Argumentation nur äußerlich konfrontiert, statt sie aus ihr zu entwickeln. Die These vom Selbstmehrungsdrang des Geldes mag abgewehrt sein, doch vom Innersten der Marxschen Geldtheorie wissen wir damit noch gar nichts. So haben wir auch seinen Widerstand gegen Geld noch nicht begriffen.

Mit dem zweiten Zugriff setze ich noch einmal anders bei jener Stelle im Marxschen Hauptwerk an, wo der Übergang vom Geld zum Kapital beschworen wird. Ich habe es in der 14. Notiz referiert, es ist auch so bekannt genug: Mehrwert, schreibt Marx, kann nur im Markt entstehen und kann dort zugleich nicht entstehen. Er kann nur dort entstehen, weil er ein Teil der Geldsumme ist, den der Kapitalist beim Verkauf seiner Ware erlangt. Er kann dort nicht entstehen, weil von Randerscheinungen abgesehen niemand Waren verkaufen kann, der nicht vorher selbst welche gekauft hat, und aus dem bloßen wechselseitigen Kauf und Verkauf der Waren keine Wertsteigerung entspringt. Als Mittel bliebe ja nur die Übervorteilung, der würden sich aber alle bedienen und es gliche sich aus.

"Das sind die Bedingungen des Problems", sagt Marx und löst es auf die einfachste Weise: Dazwischen, dass der Kapitalist Waren einkaufte und dass er welche verkaufte, muss das vorgefallen sein, was den Wertzuwachs erklärt. Also in der Produktion, in seiner Fabrik. Er hat "Produktionsfaktoren" gekauft, Anlagen, Maschinen, Arbeitskräfte, aus deren Zusammenwirken entstehen die Waren, die er verkaufen wird; wenn alles glatt geht, wird deren Wert den Wert der Faktoren genau deshalb übersteigen, w e i l die Faktoren zusammengewirkt haben. Näher betrachtet haben aber nur die Arbeitskräfte gewirkt, während Anlagen und Maschinen als Arbeitsmittel zwar unverzichtbar, aber eben nur Mittel zur Arbeitstat und nicht die Tat selber waren. Zudem ist, was in ihnen als Wert steckte, selbst wieder von Arbeitskräften geschaffen worden. Kurzum, der Wertzuwachs rührt allein von der Arbeit her.

Ich werde diese These gleich diskutieren, denn sie ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Doch erst einmal will ich begründen, weshalb ich sie überhaupt erörtere: weil ich ihr einen anderen Status zuschreibe, als es sonst geschieht. Es ist sonst üblich, reflexhaft dem Marxschen Gestus zu folgen, der darin besteht, ein Problem zu benennen und die Problemlösung zu geben. Dass der Mehrwert von nichts als Arbeit herrührt, ist seine Problemlösung, der ich übrigens zustimme. Ich sehe aber erst einmal einen ganz anderen Sachverhalt: Marx hat in allem Ökonomischen d a s isoliert und benannt, was von nichts als Arbeit herrührt - d a s ist der Mehrwert. Den Begriff Mehrwert hat es vor Marx nicht gegeben, es ist seine Innovation; genauso wie er der Erste war, der das Kapital als Strategie zur Erlangung des "unendlichen Mehrwerts" begriff. Beides hängt ja augenscheinlich zusammen.

Eine andere Seite der Sache ist noch die, dass in der bürgerlichen Philosophie seit Locke Arbeit als Rechtfertigung des Eigentums, Eigentum als erarbeitet galt. Laut Marx ist stattdessen der Mehrwert erarbeitet, von denen, die genau nur ihre Arbeitskraft zum Eigentum haben.

In der Marxschen Darstellung scheint "Mehrwert" dazu da, eine Frage zu füttern: Wie kann Mehrwert entstehen? Ich betrachte ihn gerade umgekehrt als Antwort, auf eine andere Frage: Was rührt nur von Arbeit her?

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Bevor wir dies näher betrachten, folgen wir unsrerseits dem Marxschen Gestus, diskutieren also seinen Anspruch, ein Problem gelöst zu zu haben. Die Ansicht, die Marx vorfindet und kritisiert, geht dahin, dass alle Produktionsfaktoren zur Entstehung von Gewinn etwas beitrügen. Er werde nicht ohne Maschinen erzielt und auch nicht ohne das Stück Erde, das die Fabrik trägt. Der Arbeiter bringe seine Arbeitskraft ein und erhalte Lohn dafür, der Kapitalist stelle Maschinen und Anlagen bereit und werde dafür durch den Profit entschädigt. Marx' Argument ist, dass hier etwas durcheinander geht. Sicher "tragen" alle genannten Sachen "etwas bei". Aber wie schon außerökonomisch bekannt ist, schlagen sich Beiträge, selbst unverzichtbare, nicht notwendig in Gewinn nieder.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Auf einer fernen Insel werden Goldfunde entdeckt, die man für viel Geld wird verkaufen können. Man muss nur hingelangen und braucht dafür ein Schiff. Ohne das Schiff kein Gold, man könnte gar nichts verkaufen und bekäme keinen Penny. Der Beitrag des Schiffs, also dessen, der das Schiff leiht, zum Goldgewinn ist unbestreitbar, weshalb es ebenso unbestreitbar ist, dass er an demselben beteiligt werden muss. Das ist alles richtig - aber dennoch trägt das Schiff zum Goldgewinn nichts bei, vielmehr vermindert es ihn. Denn wenn der, der das Gold finden und verkaufen wird, die Goldinsel zu Fuß erreichen oder mit ausgebreiteten Armen zu ihr fliegen könnte, hätte er viel mehr Gewinn als so, wo er einen Teil dem Schiffseigner überlassen muss.

Wie mit dem Schiff verhält es sich mit jeder Maschine. Sie wird für den Arbeitsprozess gebraucht, vermindert jedoch den Gewinn am mit ihrer Hilfe Produzierten. Denn sie ist angeschafft und bezahlt worden (oder die Zahlung wurde zugesagt) und muss sich nun, während ihrer Teilnahme am Arbeitsprozess, "amortisieren". Wenn man annimmt, dass irgendeine Maschine zehn Jahre im Einsatz ist, um zum Beispiel die Herstellung von Brötchen zu beschleunigen, dann wird das, was sie gekostet hat, diese Zeit hindurch Jahr für Jahr anteilig auf den Brötchenpreis "aufgeschlagen". Man kann nicht einmal sagen, die Brötchen seien infolgedessen teurer, als sie es wären, wenn man sie ohne die Maschine herstellte. Denn dann würde die Herstellung länger dauern, es müßten mehr Arbeitskräfte beschäftigt und bezahlt werden. An dem aber, was die Brötchen nun tatsächlich kosten, sind die anteiligen Maschinenkosten trotzdem ein Verteuerungsfaktor. Das kann man auch so ausdrücken, dass die Brötchen ihretwegen einen höheren Wert haben oder jedenfalls beanspruchen. Es wird ihretwegen ein höherer Preis verlangt. Für den Unternehmer wirkt sich das so aus, dass er vom Entgeld für die Brötchen die anteiligen Maschinenkosten a b z i e h e n muss. Etwas vom Rest, der dann noch übrig bleibt, ist der Gewinn.

Was bleibt übrig, wenn nicht nur alle Anlagen- und Maschinenkosten zurückerstattet sind, sondern auch alle Bäcker und der Unternehmer selbst für ihre Arbeit bezahlt wurden? Mir scheint Marx' Antwort unwiderleglich: Etwas von der Arbeit, das n i c h t bezahlt worden ist. Der Arbeit, wie gesagt auch der des Unternehmers, wohnt eine große Schöpferkraft inne. Sie schafft mehr, als sie selbst kostet. Der Wert dessen, was sie produziert, übersteigt den Wert der Lebensmittel, die zu ihrer eigenen Reproduktion erforderlich sind. Dies "Mehr" ist der Mehrwert. Er müsste nun eigentlich zwischen allen an der Arbeit Beteiligten aufgeteilt werden; nicht unbedingt in gleichen Anteilen, aber in gerechter Proportion. Oder mindestens müssten alle gemeinsam über seine Verwendung entscheiden. Das geschieht aber nicht.

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Für unsern gegenwärtigen Kontext ist die andere Seite der Sache noch interessanter. Die Maschinenkosten müssen "abgezogen" werden, sagten wir. Das ist vom Unternehmer und seinem Gewinn her gedacht. Was jedoch den Wert der Produkte angeht - des Produkts Brötchen und der Maschine selber, die ja auch ein Produkt ist und selbst wieder mit Hilfe einer anderen Maschine produzierte wurde, so dass wir alle dem Brötchen gewidmeten Überlegungen an ihr wiederholen könnten und müssten -, verhält es sich so, dass der Wert der Maschine auf den Brötchenwert "übertragen" wird, wie Marx formuliert. Er taucht dort wieder auf, wird aufschlagen. Und zwar in voller Höhe. Er bleibt nicht, wo er zuerst war, aber er bleibt. Während die Maschine als Ding betrachtet sich abnutzt, wird ihr Wert nicht nur nicht höher, sondern auch nicht geringer, er wechselt nur seinen Ort. Und natürlich geschieht auch das nicht von selbst oder durch die Maschine oder durch den, der sie bereitstellt, sondern nur deshalb, weil mit ihr gearbeitet wird. Die Arbeit leistet also zweierlei: Sie schafft Mehrwert und "überträgt" Wert.

Das ist für unsern Kontext deshalb wichtig, weil damit schon Entscheidendes über den Wertbegriff selber ausgesagt ist. Der hätte nämlich außerhalb von Wert ü b e r t r a g u n g s prozessen keinerlei Sinn; umgekehrt führt nichts an ihm vorbei, wenn es gilt, solche Prozesse zu artikulieren.

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Doch nun zum Mehrwert als Antwort auf die Frage, was nur von Arbeit herrührt. Marx findet den Begriff in Auseinandersetzung mit den Schulen seiner bürgerlichen Vorgänger Smith und Ricardo, die, wie er formuliert, nur die "Formen des Mehrwerts" kennen, Profit, Zins und Grundrente. Solange daraus nicht der "Mehrwert" abstrahiert wird, verknöchern sich die "Formen" gegeneinander: Die Grundrente scheint von der Erde, der Zins vom Geldverleihen und der Profit vom industriellen Unternehmertum herzurühren; Industrie, Geldverleihen und Erde sind denkbar verschieden. Marx fragt aber, wo das Geld herkommt, mit dem jemand Grundrente oder Zins bezahlen kann, und antwortet, es müsse alles vom Profit abgezweigt werden.

Der Profit seinerseits ist der Anteil, den ein einzelner Kapitalist vom Gesamtmehrwert aller Kapitalisten ergattert. Sie konkurrieren ja miteinander, in der Konkurrenz bildet sich ein Gleichgewicht der Preise heraus und dieses führt zu unterschiedlichen Gewinnmargen je nach den Kosten, die beim einzelnen Kapitalisten anfallen. Wenn Kapitalist A seine Ware so billig verkaufen muss, dass die Kosten kaum gedeckt werden, während Kapitalist B mit demselben Preis mehr Gewinn macht, weil er bessere Maschinen hat und nicht so viele Arbeiter bezahlen muss, dann bedeutet das laut Marx, dass B nicht nur den in seiner eigenen Fabrik entstandenen Mehrwert erhält, sondern auch einen Teil des Mehrwerts von A. Die Begründung wollen wir jetzt nicht prüfen. Zuletzt jedenfalls, so Marx, geht alles auf den Profit zurück, dieser seinerseits auf den Mehrwert und der auf weiter nichts als unbezahlte Arbeit.

Um dahin zu führen, musste ich die Marxsche Theorie der "Formen des Mehrwerts" skizzieren. Ich will einzig darauf hinaus, dass wir nach dem Durchgang durch all diese Verwicklungen noch immer nicht wissen, warum Marx sich nicht mit der Einsicht b e g n ü g t , dass Mehrwert der Niederschlag unbezahlter Arbeit sei. Was soll darüber hinaus die Theorie des Werts an und für sich leisten, die zugleich eine Theorie des Geldes ist? Wir finden zwei Antworten, und eine davon ist problematisch.

Die unproblematische, um mit ihr zu beginnen, lautet, dass der Mehrwert ein Teil des Warenwerts sei und dieser für Geld verkauft, in Geld, wie Marx sagt, "realisiert" werden müsse. Dies muss nicht notwendig gelingen. Die Ware kann unverkäuflich, das Geld uneingesetzt bleiben. Da Ware und Geld "auseinanderfallen" können, muss ihr Verhältnis untersucht werden; das leistet die Werttheorie. Im Grunde liegt in ihr schon die Widerlegung der Kapitallogik beschlossen. Denn damit, dass Kapital laut Marx der Versuch ist, unendlichen Mehrwert zu erlangen, passt schlecht zusammen, dass es schon beim einfachsten Verkaufsversuch leer ausgehen kann, eben wenn die "Realisierung" nicht gelingt. Es stimmt zwar, das Kapital zwingt sich selbst zur Verwirklichung des unendlichen Mehrwerts. Daraus folgt aber nicht, dass diesem auch nur das Sein der Möglichkeit zukäme. Weder wirklich noch möglich, ist der unendliche Mehrwert nur ein Traum, der das Kapital antreibt, aus dem es bös erwacht und der so süß ist, dass es gleich wieder einschläft.

Nun zur problematischen Antwort. Während Marx zeigen will, dass der Mehrwert auf weiter nichts als Arbeit zurückgeführt werden kann, fragt er auch, ob es sich ebenso schon mit dem Wert verhalte. Er muss das fragen, weil seine bürgerlichen Vorgänger es annahmen. Oder besser gesagt, weil in deren Theorien eine solche alleinige Zurückführung des Werts auf Arbeit logisch impliziert war. Direkt ausgesprochen war sie nicht, da über Wert und Arbeit nur quantitativ gesprochen wurde, dergestalt dass ein Produkt desto wertvoller sei, je mehr Arbeitszeit in ihm stecke. Weil sie weiter nichts sagten, entstand damit auch umgekehrt der Schein, als müsse, wenn man in ein Produkt Arbeitszeit, also Arbeit steckt, immer so etwas wie Wert herauskommen. Hiergegen will sich Marx aber gerade verwahren. Denn man beachte, "wertvoll sein" ist kein unschuldiger Ausdruck: Wer ihn in der vorhandenen Gesellschaft gebraucht, hat immer schon das Wertaufbewahrungsmittel Geld im Auge. Wie Marx durch seine Abwehr in eine paradoxe Situation gerät, sehen wir in der nächsten Notiz.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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