(38) Die Schrecken der Gleichung

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In der Theorie des Werts verdichtet sich der Marxsche Widerwille gegen Ware und Geld. Wir haben uns dem Wert vom Mehrwert her genähert. Dieser ist unter allem Ökonomischen dasjenige, was nur aus Arbeit, und zwar unbezahlter, entstanden sein kann. Doch wie ich ankündigte, will Marx schon den Wert nicht anders erklären: Nur Arbeit, bezahlte und unbezahlte, soll Wert schaffen können. Dasselbe wäre dann vom Geld zu sagen, der Vergegenständlichung des Werts. Das Geld scheint der Reichtum zu sein, aber nur, weil es den Ort der Arbeit usurpiert habe. Deshalb lehnt Marx es ab.

Schauen wir uns seine Argumentation näher an. Am Anfang steht die Feststellung, dass Wert zwar nur auf Arbeit zurückgeführt werden könne, Arbeit aber nicht immer Wert schaffe. Marx unterscheidet zwischen Wert und Gebrauchswert. Dass Arbeit immer Gebrauchswert schafft, mehr oder weniger gelungene Nützlichkeit eines Dings oder einer Leistung, ist klar. "Wert"setzend soll aber nur die Arbeit an Produkten, die für den Tausch bestimmt sind, genannt werden. Genau genommen ist es so, dass auch Tauschobjekte nur dann Wert haben, wenn sie wirklich getauscht werden. Gegen Geld. Sie sind so viel wert, wie sie Geld einbringen. Geld also ist derjenige Reichtum, den die wertschaffende Arbeit letztlich hervorbringt.

Doch ist das die entscheidende Frage: wodurch Geld hervorgebracht wird? Marx fragt nach der "Genesis" des Geldes. Dass Arbeit und Tausch die beiden Sachen sind, mit denen es zusammenhängt, kann kaum bestritten werden. Die Frage spitzt sich aber darauf zu, ob der Tausch selber noch einmal auf Arbeit zurückgeführt werden kann. Ist er als das Geschöpf der Arbeit in einer bestimmten Produktionsweise zu definieren? So will es Marx. Seine Erörterung hat eine historische und eine "logische" Seite. Historisch argumentiert er, in frühern Zeiten sei mehr nach zufälligen Kriterien getauscht werden, da habe der Tausch auch nur eine Randrolle gespielt. In einer Gesellschaft, die von Tauschbeziehungen durchdrungen sei, der kapitalistischen, musste sich dann ein objektives Tauschkriterium durchsetzen, und nur die Arbeitsleistung kam infrage. Zwei Waren seien gleich viel "wert", wenn sie gleich viel Arbeitszeit erforderten. Marx fügt sinngemäß hinzu, es zähle nur solche Arbeitszeit, die bei Verwendung jeweils modernster Maschinen anfalle. Dass sein Kriterium nur den Kern von Angebot und Nachfrage bestimmt, einer Beziehung, die daneben auch willkürliche Nachfrageimpulse spiegelt, leugnet er nicht.

Entscheidend und wirklich beweiskräftig soll die "logische" Begründung sein. Hier geht Marx davon aus, dass in zwei Waren, die gleich viel wert sind, auch gleich viel "gesellschaftlich notwendige", auf dem entwickeltsten Maschinenwissen gründende Arbeit steckt. Dann stellt sich die Frage, ob es etwas zur Sache tut, dass ihre Wertgleichheit geldvermittelt ist. Ware A wird ja gegen einen Geldbetrag getauscht und der hat die Größe, dass Ware B mit ihm gekauft werden kann. So wird getauscht, anders sind Waren nicht aufeinander beziehbar. Doch diese Bewegung, W-G-W, lässt sich laut Marx auf die Keimform des einfachen Tauschs Ware A gegen Ware B zurückführen, zum Beispiel 20 Ellen Leinwand gegen einen Rock. Er sagt, hier eigne der Ware B bereits die Geldfunktion, denn Geld sei das Tauschfähige, und Ware B sei tauschfähig.

Aus dieser Keimform lasse sich das, was wir unter Geld verstehen, bereits logisch entwickeln, und zwar so: Ware B ist zwar tauschfähig, aber doch nur gegen Ware A. Über mehrere logische Stufen kommt man zur u n b e s c h r ä n k t e n Tauschfähigkeit, dem wirklichen Geld, das den Gegenwert beliebiger Waren darstellt. Auch dieses heftet sich an eine bestimmte Ware; nicht an den Rock, sondern zu Marx' Zeit ans Gold. Als wirkliches Geld ist Gold nicht irgendeine Ware B, sondern, so Marx, die a l l g e m e i n e Ware. Umgekehrt gilt aber, Geld hat sich aus dem b e s o n d e r e n Tausch Ware A gegen Ware B entwickeln lassen. Es ist zwar wichtig, seine Verselbständigung im Tausch zu begreifen, an der seine Rolle in der kapitalistischen Produktionsweise hängt. Das ändert aber nichts daran, dass wir es zuletzt in jeder Hinsicht nur mit Waren, "Arbeitsgallerten", zu tun haben. Mit Arbeit also, in falsch verdinglichter Form.

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Marx' Argumentation zielt darauf ab, die Tatsache des Tauschs als eine Absurdität hinzustellen, zu der es nur komme, weil für die Arbeit ein "Wert"ausdruck gesucht worden sei. Wenn Ware A gegen Ware B, die Geldware, getauscht werde, bedeute das, sie habe einen Arbeitswert, könne diesen aber nur in der Ware B ausdrücken. Dass Ware B Ware A, der Rock die Leinwand zum Ausdruck bringe, sei absurd. So absurd es aber sei, sei es die Funktion der Ware B im Tausch und des Tauschs selber.

Ich meine, hier geht etwas durcheinander. Marx konfundiert die Übertragung von Wert mit der Realisierung von Wert. Beide Begriffe kamen schon in der letzten Notiz vor. Wir sind nun an dem Punkt, sie miteinander vergleichen zu müssen.

Es ist zunächst eindeutig, dass Marx von Wert r e a l i s i e r u n g spricht, wenn er den Wert der Ware A in Ware B ausgedrückt findet. A mag in fünf Arbeitsstunden hergestellt worden sein, entsprechend müsste es auf dem Markt fünf Geldeinheiten (Einheiten von B) einbringen. Doch ob A überhaupt verkauft werden kann, und wenn ja, ob zu weniger oder mehr Einheiten, ist unsicher. Vielleicht standen während der fünf Arbeitsstunden bessere Maschinen zur Verfügung, als die Konkurrenz welche hatte, so dass nirgendwo mehr A in dieser Zeit produziert werden konnte als hier. Die Folge wäre, dass man das einzelne A-Element billiger verkauft als die Konkurrenz, ihr Marktanteile wegnimmt und einen Teil dessen, was sie bei gleich guten Maschinen eingenommen hätte, zum Rückfluss des selbst erarbeiteten Werts noch dazugewinnt. Das heißt, man gewinnt für fünf Einheiten A nicht fünf, sondern sage sieben Geldeinheiten B. Aber das umgekehrte Kräfteverhältnis ist auch möglich. Man hat die schlechteren Maschinen und ist gezwungen, fünf Einheiten A gegen nur gegen drei Geldeinheiten B zu tauschen. Oder es ist gleich, dann erhält man fünf B für fünf A.

Worauf ich hinaus will: In allen Beispielen zeigt sich, dass A vor dem Tausch nur m ö g l i c h e r w e i s e einen Wert hat (erstens einen Wert überhaupt und zweitens "diesen" Wert, der kostendeckend wäre und Gewinn einschlösse); was A "wirklich wert ist", zeigt sich erst im Geldrückfluss B (darin, dass er überhaupt eintritt, und in der Höhe). Es stimmt also: Wovon Marx eindeutig spricht, ist, in seiner eigenen Terminologie, obwohl das Wort noch nicht fällt, die "Realisierung" des Werts von A in B.

Doch zugleich stellt er den Elementartausch als Ü b e r t r a g u n g dar. Das liegt schon in seiner Formulierung, denn was er erörtert, spricht er selbst als die G l e i c h u n g "x Ware A = y Ware B" aus. Nun sieht es aus, als fließe für A nicht weniger oder mehr oder überhaupt nichts, sondern genau gleich viel B im Tausch zurück. Und gerade so ist es gemeint. Es verträgt sich mit der vorigen Überlegung. Könnte A seinen Wert in sich selbst ausdrücken - hätten wir es, anders gesagt, schon vor dem Tausch nicht bloß mit A's möglichem, sondern wirklichem Wert zu tun -, dann könnte gesagt werden, A sei weniger oder mehr wert als B; da die W i r k l i c h k e i t von A's Wert aber nur in B liegt, i s t A genau gleich viel wert wie B. In Marx' methodischem Selbstverständnis, das wir hier noch nicht betrachten, stellt sich die Sache so dar, dass er am Anfang von allen Ungleichheiten, die zwischen dem möglichen A und dem in B realisierten A auftreten können, noch "abstrahiert", um erst einmal nur zu sagen, dass der reale Wert von A genau seinem realisierten Wert entspricht, dass also, wie gesagt, x Ware A = y Ware B. Damit sagt er aber eben, dass der Wert von A in genau gleicher Höhe auf B ü b e r t r a g e n wird.

Realisierung und Übertragung stehen also in folgendem Verhältnis zueinander: Die Möglichkeit von A wird in B's Wirklichkeit mehr oder weniger realisiert. A, wie es jedenfalls real ist, ist das Gleiche wie B; es hat seine reale Wertgröße auf B übertragen. Man kann sagen, wenn A seine Möglichkeit realisiert, kommt es zwangsläufig dazu, dass es seine Wirklichkeit überträgt. Doch dabei zeigt sich ein Unterschied. Marx mag es immer absurd finden, dass A sich in B realisieren muss, die Ware im Geld oder, noch verrückter, zwanzig Ellen Leinwand in einem Rock. Ganz gewiss liegt aber keine Absurdität darin, dass sich die linke Seite einer Gleichung auf die rechte überträgt.

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Marx hat freilich sogar in der mathematischen Gleichung das Absurde gesucht. In seinem Nachlass fand man Aufzeichnungen, die unter dem Titel Mathematische Manuskripte veröffentlicht wurden (Kronberg 1974). Hier will er sich über das Differential Klarheit verschaffen und tut das so, dass er zwischen "symbolischem" und "realem" Differentialkoeffizienten unterscheidet. Wir lassen den Differentialkoeffizienten als black box beiseite und sehen nur zu, wie Marx mit dem Sachverhalt Gleichung ringt. Der "symbolische" Differentialkoeffizient stehe auf der linken, der "reale" auf der rechten Gleichungsseite, lesen wir. Und weiter: "Der symbolische Differentialkoeffizient wird so zum selbständigen Ausgangspunkt, dessen reales Äquivalent erst zu finden ist. So ist die Initiative von dem rechten Pol [sc. der Gleichung] auf den linken, den symbolischen, verschoben." (S. 64) "Und damit scheint doch der Umschlag der Methode, der die Initiative von der rechten Seite auf die linke wirft, von Haus aus ein für allemal erwiesen." (S. 71). Sie liege aber "stets" auf der linken Seite, schon "weil wir von der Linken zur Rechten schreiben" (S. 72).

Wo Marx metaphorisch spricht, sehen wir, dass er jede Gleichung genauso verrückt finden will wie die Wertgleichung: "Das transzendentale oder symbolische Unglück ereignet sich nur auf der linken Seite, hat aber seine Schrecken bereits verloren, da es nun nur als Ausdruck eines Prozesses erscheint, der seinen wirklichen Gehalt bereits auf der rechten Seite der Gleichung bewährt hat." (S. 55) So spricht er über die mathematische Gleichung, es könnte Wort für Wort in die Lehre der Wertgleichung übersetzt werden: Das Wertunglück ereignet sich nur für A auf der linken Seite, das heißt vor dem Tausch, wo die enttäuschte Entdeckung noch bevorsteht, dass A's Wert geringer als geglaubt oder gar nicht vorhanden ist; wenn sich aber auf der rechten Seite, nach dem Tausch, "sein wirklicher Gehalt bewährt hat", dann hat A "seine Schrecken bereits verloren", dann ist die Äquivalenz, wie sie ist.

Aber die mathematische Gleichung ist in Wahrheit keineswegs verrückt, und deshalb muss auch in der Wertgleichung etwas liegen, das ebenso wenig verrückt ist. Die Realisierung einer Möglichkeit in einer ihr fremden Wirklichkeit mag man absurd finden, doch die Übertragung eines Seins in ein anderes ist nicht absurd. Tatsächlich wird die Gleichung seit Frege, der nach Marx gelebt hat, als eine bestimmte Form von Übertragung definiert, und sogar von Werten, "Wahrheitswerten". In Freges Theorie der formalen Logik erscheint diese als "Übertragung von Wahrheitswerten". Gilt zum Beispiel, dass "p" in "p und q" logisch impliziert ist - "wenn p und q, dann p" -, kann das auch so ausgedrückt werden, dass "p und q" seinen Wahrheitswert auf "p" überträgt. Zum Beispiel, wenn es wahr ist, dass ich einen Hund und eine Katze habe, dann ist es wahr, dass ich einen Hund habe. In dieser Sprache ist die Gleichung der Sonderfall einer w e c h s e l s e i t i g e n Wahrheitsübertragung: "wenn p und q, dann r" und ebenso "wenn r, dann p und q". Wenn es wahr ist, dass 7 + 5 = 12, dann ist es wahr, dass 12 = 7+ 5.

Wie gesagt, Frege lebte nach Marx. Vor Marx lebte Kant, auch der fand die Gleichung fragwürdig. Habe ich 7 + 5, sagt Kant sinngemäß, dann habe ich nicht schon automatisch 12, sondern ich muss sie erst noch zusammenzählen. Mit andern Worten, es vergeht Zeit. Die Gleichungssprache verhüllt diesen Umstand. Vielleicht kann gesagt werden, sie artikuliere einen Zustand, in dem es Zeit wirklich nicht gibt. Wir tauchen da in Metaphysik ein und erinnern uns, dass die historische Zeit, in der man in Gleichungen zu denken begann, dieselbe war, in der Cusanus vor dem Hintergrund theologischer Ewigkeits-Erörterungen die Grenzwertrechnung entdeckte. Wie es jedenfalls scheint, ist Marx' Frage, ob die mathematische Gleichung etwas Verrücktes sei, keinesfalls selber verrückt. Er steht nun einmal historisch zwischen Kant und Frege. Frege erst hat die Gleichung logisch begriffen, dadurch, dass er umgekehrt die Logik gleichungsmathematisch begriff. Eben als Übertragung.

Hier hatte einfach ein neuer Diskurs begonnen, weshalb man auch nicht sagen kann, Kant und Marx hätten historisch entschuldbaren Unsinn geredet. Vielmehr dürfte in der Frage, wo die Zeit bleibt, wenn zeitlose Mathematik physikalisch interpretiert und technisch angewandt wird, ganz ernsthaft einige Brisanz liegen. Auch Marx' Beobachtung, dass die Gleichung von links nach rechts geschrieben wird, ist nicht so banal, wie sie aussieht. Denn wer kann sicher voraussagen, dass die links beginnende "Initiative" sich rechts als das Gleiche weiterschreibt? Es ist gut zu wissen, dass sie sich anders besinnen kann, eines Besseren! So ist das, wenn ein neuer Diskurs beginnt: Gewisse Wahrheiten werden geopfert, weil neue verfügbar sind, die dem alten Diskurs gefehlt haben.

Das schwer zu Entheddernde ist, dass Marx beide Diskurse brauchte. Ohne den neuen lässt sich sein Sozialismus nicht denken. In dem spielen Wertrechnungen eine Schlüsselrolle. Die nächste Notiz wird uns daran erinnern. Darin, dass es Wertübertragung gibt, können Sozialismus und geldvermittelter Kapitalismus nicht verschieden sein. Was spricht dann eigentlich genau gegen geldvermittelten Sozialismus?

Hier halte ich nur die Schlussfolgerung fest, dass wenn ein Tausch nicht nur Wertrealisierung, sondern auch Wertübertragung, also Gleichung ist, er als diese Gleichung mit Arbeit nichts zu tun hat, so wenig wie die Übertragung der Wahrheitswerte bei Frege. Wenn es aber sinnvoll ist, Wahrheitswerte zu übertragen, vulgo logisch zu denken, und dies keiner weiteren Begründung bedarf, dann stellt sich die Frage, ob nicht auch die Wertübertragung im Tausch einen Eigensinn haben könnte, der, ohne von Arbeit herzurühren, nur für sich selbst steht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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