(39) Warum tauscht man?

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Wenn, so schloss ich die letzte Notiz, die Übertragung von Wahrheitswerten in der Logik "keiner weiteren Begründung bedarf" und jedenfalls nicht auf Arbeit zurückzuführen ist, "dann stellt sich die Frage, ob nicht auch die Wertübertragung im Tausch einen Eigensinn haben könnte, der, ohne von Arbeit herzurühren, nur für sich selbst steht". Der Tausch, wurde gesagt, ist nicht nur "Realisierung", sondern auch "Übertragung". Als Realisierung bestätigt die (Geld-) Ware B, dass die zum Tausch angebotene Ware A einen Wert hat, und zeigt gegebenenfalls, wie hoch er ist. Als Übertragung bilden A und B eine pure Wertgleichung, die, so behauptete ich, "als diese Gleichung mit Arbeit nichts zu tun hat".

Womit stattdessen? Mit Sprache.

Natürlich gibt es nichts Menschliches, das nicht einer Tätigkeit, einer Praxis sich verdankte. Doch nicht alle Praxis ist Arbeit. Denken zum Beispiel ist Tätigkeit, aber gerade Marx und die Marxisten legten immer Wert darauf, sie als "ideelle" Tätigkeit von der "materiellen" der Arbeit abzuheben. Wie sie auch Herrschaft, eine weitere Praxisform, nicht als Arbeit gelten lassen. Bleiben wir beim Denken. Es schlägt sich in Sprache nieder, die übrigens ihrerseits ein materielles Phänomen ist. Sie bringt aber nicht wie Arbeit Dinge hervor. Selbst um eine "Dienstleistung" zu vollbringen, reicht sie allein nicht hin. Sie ist nicht "Stoffwechsel mit der Natur", wie Marx von der Arbeit sagt. Nicht Formveränderung eines Rohstoffs, der ein physisches Ding oder, wie beim Dienstleisten, eine gesellschaftliche Routine sein kann. Was sie aber tut und was Arbeit nicht tun kann, ist Übertragen.

Um die Eigenart von Übertragung zu bestimmen, muss man im ersten Schritt Sprache nicht mit Arbeit, sondern mit Natur konfrontieren. Wenn in der Natur etwas entsteht, dann durch Kausalität. Jedenfalls war das die klassische Vorstellung, die heute, seit der Quantenphysik, vielleicht schon nicht mehr stimmt. Dieser Vorstellung zufolge gibt es in natürlicher Entstehung keinen Unterschied des Wirklichen und Möglichen. Was entstand, m u s s t e entstehen. Herauszufinden ist nur, weshalb. Das ist der Kausalgrund. Wenn etwas sprachlich entsteht, dann nie auf diese Weise. Der Übergang von einem Satz zum andern ist nicht sprachlich erzwungen. Er ist aber regulär. Die Regel kann so formuliert werden: Vorher Gesagtes wird erstens wiederholt, zweitens in der Wiederholung verändert, drittens hält sich die Veränderung in Grenzen. Ihr zuhören heißt die Wiederholung mit dem Wiederholten vergleichen. Dann nimmt man die Differenz wahr, die der Sinneffekt ist, um dessentwillen Sprache geschieht.

Wir sind der "Übertragung" im Kontext von Gleichungen begegnet. Von ihm müssen wir uns erst einmal lösen, um das Phänomen allgemein zu verstehen und die Gleichung später als Sonderfall. Man kann grob vier Grundtypen sprachlicher Übertragung unterscheiden. Die erste ist die "Metapher", ein griechischer Ausdruck, der wörtlich übersetzt genau Übertragung bedeutet. Im Schiff der Wüste wird das Kamel wiederholt durch den Hinweis, das Schiff des Wassers habe zwar teils ganz andere, teils aber dieselben Eigenschaften wie es. Wiederholung heißt hier nicht Gleichheit, sondern Ähnlichkeit. Sie wird in Szene gesetzt, um den Sinn des Kamels auf den Ausdruck, der Metapher genannt wird, zu übertragen. Ein anderer Typ ist die Übertragung von der Gattung auf deren Arten, was den Griechen als logisches Denken galt. Die Gattung wiederholt sich in der Art als dasselbe, doch man findet mehrere Arten. Die Eltern hinterlassen mehr als ein Kind, lauter "Ebenbilder": Jedes überträgt das Elternbild anders.

Dann gibt es das Fragespiel. Mit einer Frage sind schon die möglichen Antworten gesetzt, in ihnen wiederholt sie sich also. Sie lässt jedoch auch die Antwort zu, die sie als "falsch gestellt" zurückweist. Doch selbst in solche Zurückweisung hinein überträgt sich, obgleich sehr verändert, ihr Sinn. Wenn auf die Frage "Wann wird der Briefkasten geleert?" die Antwort "Das ist ein toter Briefkasten" folgt, ist "Briefkasten" übertragen worden. Sonst hätte der Wortwechsel keinen Sinn und würde unterbleiben. Wollte man die besondere Übertragungsregel des Fragespiels beschreiben, würde sich zeigen, dass sie auf ihre Art sehr streng ist. Kausal ist sie aber nicht. Die andern Übertragungen sind es auch nicht, sie aber ist es am wenigsten. Kausalität heißt, es gibt derart Grund und Folge, dass die Folge eindeutig und möglichkeitslos vom Grund beherrscht wird. Das Verhältnis von Frage und Antwort ist so, dass die Frage zwar die Antwort begründet - auch noch die, von der sie zurückgewiesen wird -, dann aber die Antwort über die Frage entscheidet.

Schließlich die Gleichung. Sie kann als derjenige Übertragungstyp gelten, der Kausalität getreulich nachzubilden sucht. Was entstand, musste entstehen, so habe ich die Kausalvorstellung bestimmt. Die sprachliche Entsprechung ist, dass auf der Seite der Folge, also rechts, "das Gleiche" steht wie links auf der Seite des Grundes. Die Wiederholung scheint nun total zu sein, ist es aber nicht wirklich, wie Marx bemerkt. Denn wenn man genau hinsieht, fällt auch hier erst am Ende die Entscheidung. Die Gleichung ist nicht das Möglichkeitslose, sondern nur das schon Gewordene: Fängt man gerade erst an, sie zu schreiben, ist gar nicht klar, ob sie Gleichung oder Ungleichung werden wird.

Wir sehen nebenbei, wie verkürzt es ist, wenn von "der" Rationalität gesprochen wird. In Wahrheit gibt es so viele Rationalitäts- wie Übertragungstypen.

Doch zurück zu Sprache, Natur und Arbeit. Natürliche Kausalität wird also durch einen bestimmten sprachlichen Übertragungstyp, die Gleichung, nachgebildet. Arbeit aber, als "Stoffwechsel mit der Natur", gilt Marx ihrerseits als Natur. Sie sei physiologische Verausgabung von Arbeitskraft. Dabei weiß er, er spricht von einer bestimmten Produktionsweise. Das vorkapitalistische Handwerk lässt sich als möglichkeitslos kausaler Naturvorgang nicht beschreiben. Die Arbeit im Kapitalismus aber wohl. Der Arbeiter, den Marx vom Aufseher unterscheidet, ist nämlich so sehr unter Zwang tätig, dass Marx ihn als bloßes "Anhängsel der Maschine" fasst. Daraus folgt nun, dass seinem Arbeitsbegriff zufolge, den man als Adaption des physikalischen Energiebegriffs hat deuten können (Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the origins of Modernity, Berkeley Los Angeles 1992), Arbeit zwar schöpferisch ist, und mehr noch: dass nur sie allein nicht nur den Mehrwert schafft, sondern Dinge überhaupt und auch Dienstleistungen. Doch zum Übertragen ist sie als erzwungener Kausalvorgang unfähig, eben weil ihr der Möglichkeitsraum fehlt. Der ist nicht zu haben ohne freie Verfügung über die Sprache.

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Den Übertragungsbegriff bringt Marx nicht schon in die Tauschanalyse ein, sondern erst wenn zu betrachten ist, wie im Produktionsprozess der Wert der Produktionsmittel sich aufs Produkt überträgt. Ein kritischer Blick auf diese Passage (MEW 23, S. 214-225) zeigt aber, dass es auch im Produktionsprozess, jedenfalls dem kapitalistischen, ohne Tausch keine Übertragung geben würde. Der Übertragungsbegriff wäre also schon in der Tauschanalyse zu behandeln gewesen.

"In ihrer abstrakten, allgemein Eigenschaft [...], als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, setzt die Arbeit des Spinners den Werten von Baumwolle und Spindel Neuwert zu, und in ihrer konkreten, besondren, nützlichen Eigenschaft als Spinnprozess überträgt sie den Wert dieser Produktionsmittel auf das Produkt und erhält so ihren Wert im Produkt", lesen wir zunächst. "Daher die Doppelseitigkeit ihres Resultats in demselben Zeitpunkt", dass sie nämlich in ein und demselben Akt erstens Neuwert zusetzt und zweitens d e n Wert, d e m sie ihn zusetzt, aufrechterhält, ihn eben überträgt. (S. 215)

Die Übertragungsleistung auf die "konkrete, besondre, nützliche Eigenschaft" der Spinnarbeit zurückzuführen, ist aber nicht statthaft. Man braucht sich nur vorzustellen, dass Spindel und Baumwolle an Endkonsumenten verkauft werden und diese damit spinnen, um sich selbst Hemden und Pullover zu verschaffen. In diesem Fall übertragen sie den Wert nicht, sondern brauchen ihn auf: bis die Wolle erschöpft, die Spindel verschlissen ist. Nur wenn die Produkte, die damit hergestellt werden, zum Verkauf gedacht sind, kann gesagt werden, durch eben diesen Verkauf werde nicht nur der Neuwert bezahlt, sondern fließe auch der Wert der Mittel zurück, einfach weil er im Preis enthalten sei. Und nur deshalb kommt es zu seiner Übertragung schon im Produktionsprozess vor dem Verkauf. Das heißt aber, es ist letztlich der Tausch, der die Übertragung bewirkt, und nicht die Arbeit, sei's "abstrakte" oder "konkrete". Ein paar Seiten später wirft Marx selbst seinen Ansatz über den Haufen. Der Wert der Produktionsmittel "wird erhalten, aber nicht weil eine Operation mit ihm selbst im Arbeitsprozess vorgeht", lesen wir nun, "sondern" -

Was folgt, ist keine Alternative: "sondern weil der Gebrauchswert, worin er ursprünglich existiert", also der von Wolle und Spindel, "zwar verschwindet, aber nur in einem andren Gebrauchswert verschwindet". Er verschwindet in das hinein, was man mit Wolle und Spindel erstellt: "Der Wert der Produktionsmittel erscheint daher wieder im Wert des Produkts". Das ist eine Tatsache, Marx tut so, als wäre es eine Erklärung. Der Wert wird erhalten, w e i l er hier verschwindet und dort wieder auftaucht? So zu reden, ist pure Hilflosigkeit. Und sie hält an: "Der Wert der Produktionsmittel erscheint daher wieder im Wert des Produkts, aber", muss Marx fortfahren, "er wird, genau gesprochen, nicht reproduziert". (S. 222) Er wird nicht reproduziert, das heißt er wird nicht produziert, nicht erarbeitet, die Wertübertragung geht n i c h t a u f A r b e i t z u r ü c k . Um alles zu sagen: Gewiss hat Arbeit ihren A n t e i l an der Wertübertragung! Aber man kann diese nicht a l l e i n auf jene zurückführen.

Die Schwierigkeit, die Marx sich bereitet, scheint mir ganz unnötig zu sein. Ja, im Tausch wird Wert übertragen. Deshalb ist die Übertragung auch schon im Arbeitsprozess präsent, der auf den Tausch hinausläuft. Warum geschieht das denn eigentlich? Warum tauscht man? Sofern wir gleich vom spezifisch kapitalistischen Tausch reden, können wir antworten "wegen des Gewinns, um also mehr einzutauschen, als man weggegeben hat": G-W-G'. Hierin ist aber die Dimension W-G-W enthalten, das heißt ich tausche geldvermittelt eine Ware gegen eine andere, zum Beispiel meine Arbeitskraft gegen Lohn, mit dem ich die zur Reproduktion derselben hinreichenden Lebensmittel kaufe. Da tausche ich, um das, was ich weggebe, z u r ü c k z u e r h a l t e n . So ein Tausch bedeutet einfach, dass Menschen versuchen, ihr Eigentum zu behalten. "Das Eigentum des verkauften Gegenstands tritt man immer ab. Aber man gibt nicht den Wert weg", schreibt Marx (MEW 25, S. 357 f.). Da ist zu ergänzen: I n s o f e r n tritt man das Eigentum n i c h t ab. "Eigentum" ist ein juridischer Ausdruck. Rein ins Ökonomische übersetzt, ist Eigentum "Wert". Dass man den Wert nicht weggibt, wird von Marx unterstützt. Er spricht nicht der Enteignung das Wort, vielmehr der Enteignung der Enteigner, also der Rückgabe des Eigentums an alle.

Wenn alle wieder ihr Eigentum haben, soll es, dieses zugleich gesellschaftliche und wieder individuell gewordene Eigentum, natürlich nicht verschleudert, sondern bewahrt werden. Der Satz gilt nicht allgemein, doch für alles Eigentum an gesellschaftlichen Möglichkeiten. Produktionsmittel und Arbeitskraft, zusammen die "Produktivkräfte", sind ein "Vermögen", das eine Gesellschaft nicht aus der Hand geben wird. Sie wird also den Vermögenswert über die Zeit "tragen". Marx meint, solche Übertragung könne auch ohne Tausch organisiert werden. Nehmen wir an, er hätte recht: Auch dann bliebe ihr, der Übertragung, die Funktion, das, was heute der Tausch bewirkt, anders zu bewirken. Dann gilt aber: Wie man heute vom Tausch sagen muss, er sei etwas anderes als Arbeit, würde dasselbe vom sozialistischen Funktionsäquivalent des Tausches gelten. Im Tausch gilt eine Sache, die weggegeben wird, als behalten. Das ist nicht verrückt, sondern sinnvolle Konvention. Sie schlägt sich in Sprechakten, nicht Arbeitstaten nieder, denn jeder Tausch ist die Erfüllung eines Eigentumsvertrags. Ebenso jeder Tauschersatz, wenn er denn ausdenkbar wäre, im sozialistischen Rechtsstaat.

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Wir erörtern den Wert, weil wir das Geld erörtern. Im Geld wird der Wert aller Waren ausgedrückt. Vielleicht kann man ihn anders ausdrücken, durch tauschlose Wertrechnung, wie Marx sich das vorstellen wollte. Dann wären auch Waren nicht mehr Waren, sondern einfach Produkte, weil "Ware" und "Geld" miteinander stehen und fallen. Wir werden das untersuchen. Doch wozu das Ganze? Was gegen Geld sprechen soll, ist auch jetzt noch nicht zu ersehen. Es dient im Kapitalismus zu Vielem, unter anderm zur Wertübertragung, und ein Mittel d a f ü r muss es geben, sei's dieses oder ein anderes. Ließe sich Geld auf die Funktion, Wertübertragungsmittel zu sein, reduzieren, wäre es doch gut.

Mehr noch. Ich habe am Anfang gesagt, der Tausch diene der Wertübertragung und der Wertrealisierung. "Als Realisierung bestätigt die (Geld-) Ware B, dass die zum Tausch angebotene Ware A einen Wert hat, und zeigt gegebenenfalls, wie hoch er ist." Da wir uns seitdem klar gemacht haben, dass es nicht nur die eine Übertragungsform gibt, die sich in "x Ware A = y Ware B" ausspricht, sondern noch andere: die Metapher, die Subsumtion der Art unter die Gattung und das Frage-Antwort-Verhältnis, sehen wir jetzt, das, was wir mit Marx Realisierung genannt haben, ist auch eine Übertragungsform, nur eine andere. Wenn Ware A ihre Wertmöglichkeit in den Tausch einbringt, um dort zu erfahren, ob und wie sie real ist, heißt das, sie ist F r a g e , die von Ware B, der Geldware, b e a n t w o r t e t wird. Dieser Vorgang ist nicht absurd, wie Marx glauben wollte. Er hat faktisch entdeckt, dass die Wertgleichung nicht nur Gleichung, sondern auch Frage-Antwort ist.

Es ist doch klar, auch hierfür muss der Sozialismus ein Funktionsäquivalent bereithalten. Wenn er den Wert nicht prüft, den Produkte zu haben behaupten, wird er Misswirtschaft. Auch hier schließt sich die Frage an, warum das nicht durch Geld geschehen soll. Weder dass es Wertübertragungs- noch dass es Wertrealisierungsmittel ist, spricht per se schon gegen Geld.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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