(40) Die "allgemeine", unendliche Ware

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Heute will ich die Frage erneut aufgreifen, warum es Marx nicht gelingt, aus dem Geldbegriff den Kapitalbegriff abzuleiten; eine Ableitung, die leicht sein müsste, wenn Geld schon tendenziell Kapital w ä r e , wie er behauptet. Wir sahen bereits, dass jedenfalls sein Hinweis, Geld sei vermehrbar, wie auch das Kapital einem Vermehrungszwang unterliege, die Ableitung nicht leistet, denn man ist nicht zu etwas gezwungen, nur weil es möglich ist (33. und 34. Notiz). Doch inzwischen verhandeln wir die Analyse der "Genesis des Geldes" aus dem Tausch x Ware A = y Ware B; das ist die tiefste Ebene seiner geldtheoretischen Erörterung. Müsste sich eine Kapitaltendenz des Geldes nicht schon hier zeigen? Sie zeigt sich aber nicht. Marx leitet nur ab, dass Geld "die allgemeine Ware" sei. Wenn wir zusehen, wie er das unternimmt, erkennen wir das Problem und können auch fragen, wie die Analyse hätte angelegt sein müssen, damit die Kapitaltendenz enthüllt worden wäre - nicht in allem Geld, aber einem historisch bestimmten, dem, das wir haben.

Dass Geld allgemeine Ware sei, kann Marx aus dem einfachen Tausch x Ware A = y Ware B herleiten. Ich hatte daran erinnert (38. Notiz): In dieser Tauschfigur ist zwar schon B's unmittelbare Tauscheignung unterstellt, so dass man sieht, man hat es mit Geld zu tun, aber es fehlen noch Aussagen über die Reichweite der Eignung. Wenn B wirklich Geld ist, ist es nicht nur gegen A tauschbar, sondern gegen alle Waren. Dann aber ist es das, worin sich die Allheit der Waren verkörpert: allgemeine Ware. Marx kritisiert es, er sieht darin, dass die Geldware, so allgemein sie ist, sich doch nur in einer einzelnen Ware, zu seiner Zeit dem Gold, verkörpern kann - und sich dadurch verselbständigt -, ein absurdes Paradox.

Meine Rückfrage ist, was der Ausdruck "allgemein" hier besagt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die Geldware wird so genannt, weil alle Waren von ihr repräsentiert werden. Was heißt das? Es können unendlich viele, es können auch rationierte, also endlich viele Waren sein. Denkbar ist ferner, dass eine je bestimmte Endlichkeit der Warenvielfalt nicht aus Not dekretiert, sondern im Wohlstand durch Wahlen periodisch herbeigeführt wird; in diesem Fall sind "alle Waren" das, was alle Bürger gemeinsam wollen.

Die Möglichkeiten sind teilweise verwirklicht worden:

- Auch wenn man es selten ausgesprochen findet, macht Geld als Repräsentant unendlich vieler Waren den gängigen Geldbegriff aus. Georg Simmel (Philosophie des Geldes, erschienen 1901) oder auch Keynes ragen nur dadurch heraus, dass sie es eigens thematisiert haben. Wie beide unterstreichen, gibt Geld nicht nur auf die bereits produzierten, sondern auf alle überhaupt möglichen Waren Zugriff, auch die, die erst in Zukunft produzieren werden. Streng genommen erklärt das die Geldunendlichkeit noch nicht, trifft aber den Punkt, wodurch sie erst möglich wird: Wer Schranken der Waren-Allheit bemerkt, kann immer glauben, die Zukunft werde sie überspringen.

- Wenn das, was "alle Waren" repräsentiert, es mit der Allheit einer r a t i o n i e r t e n Warenmenge zu tun hat, pflegt man nicht mehr von Geld zu sprechen. Wäre Geld als "allgemeine Ware" richtig bestimmt, müsste man es aber tun. Denn "allgemein" bezieht sich auf "alles", und "alles" kann "alles Rationierte" heißen. Der Fall ist in und nach Kriegen vorgekommen.

- Marx selbst hat in einer Jugendschrift die Zweideutigkeit der Rede vom "Allgemeinen" bemerkt. Es ging da freilich nicht um Geld, sondern um die Hegelsche Staatsphilosophie (MEW 1, S. 201-333). Hegel feiert den preußischen Staat als das Allgemeine: Der junge Marx kritisiert, es sei von oben erzwungen, den Einzelnen übergestülpt. Die Alternative bestehe darin, es aus den Einzelnen erst zu entwickeln. Er denkt an Wahlen, wie sie in Frankreich bereits vorkamen. Auch Wahlen gehen ihm nicht weit genug, erst Jahrzehnte später können er und Engels ihnen etwas abgewinnen (vgl. 5. und 6. Notiz); Wahlen gar auf Ware-Geld zu beziehen, liegt beiden ganz fern. Denkmöglich war es aber geworden: dass die Einzelnen die Richtung der Warenproduktion wählen, wodurch aus Geld, wenn es doch die Waren-Allheit repräsentiert, etwas wie "gewähltes Geld" würde. Es wäre immer noch, als würde eine Regierung gewählt, doch eine Regierung kann man kontrollieren.

Klar ist: Nicht rationiertes oder "gewähltes" Geld, sondern nur unendliches Geld kann Geld mit Kapitaltendenz sein. Denn nur wenn es unendlich ist, kann es Medium des Kapitals sein, das nach der Marxschen Definition der Versuch ist, den unendlichen Mehrwert zu erlangen. Schlagen wir indessen Das Kapital auf, finden wir keine klärende Zuspitzung der Begriffe. Die Warenvielfalt ist eine "endlose Reihe von Wertausdrücken" (MEW 23, S. 78), von der "allgemeine Wertform" aber, dem begrifflich vollendeten Geld, wird nur gesagt, dass es "einfach und gemeinschaftlich, daher allgemein" sei (S. 79). Die Unendlichkeit des Geldes ist nicht eigens hervorgehoben. S t a t t d e s s e n tritt seine "Allgemeinheit" in den Vordergrund.

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Ich sehe darin wieder eine aristotelische Tendenz (vgl. 33. Notiz): Das Allgemeine im Verhältnis zu den Einzelheiten kann als Gattung im Verhältnis zu den Arten gedacht werden; dann kommt zur Geltung, was Aristoteles unter Logik verstand. Das aristotelische Gattungsverhältnis ist zwanghaft wie der Hegelsche Staat: Die Kinder können sich ihre Eltern, beide ihre Nationalität nicht aussuchen. Alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also ist er sterblich - es war ihm verwehrt, die Gattung zu wechseln.

Spuren solcher Gattungslogik findet man in Marx' Erörterung der Wertgleichung. Schon bevor er sie aufstellt, schreibt er: "Mannigfache Tauschwerte also hat der Weizen statt eines einzigen", um daraus zu schließen, dass die "gültigen Tauschwerte derselben Ware [...] ein Gleiches aus[drücken]". Dann folgt die Reduktion auf den Elementarfall: "Nehmen wir ferner zwei Waren, z.B. Weizen und Eisen. Welches immer ihr Austauschverhältnis, es ist stets darstellbar in einer Gleichung". (S. 51) Hier hat er die Frage nach der "Geldform", in der sich der Wert ausdrücken muss, noch gar nicht aufgeworfen, aber dass sie "in einer Gleichung" erscheinen wird, ist schon kenntlich gemacht. Die Gleichung aber erscheint als Resultat eines Vergleichs. Deshalb wird die Frage nach dem M a ß s t a b der Vergleichbarkeit aufgeworfen. Wie sollen denn Weizen und Eisen eine Gleichung bilden können - sie sind doch ganz verschieden? Antwort: Eins haben sie ja gemeinsam, nämlich dass Arbeit in ihnen steckt (S. 52). Daher bleibt nur noch nachzuvollziehen, wie sich das gemeinsame Merkmal zur Gleichung zuspitzt. Es geschieht im Übergang vom q u a l i t a t i v e n gemeinsamen Merkmal zur genauen q u a n t i t a t i v e n Übereinstimmung, die deshalb möglich ist, weil der Wert der jeweils geleisteten Arbeit in Arbeitszeit gemessen werden kann. Damit scheint dann auch erwiesen zu sein, dass der Tausch ganz und gar auf Arbeitszeit, also auf Arbeit zurückführbar ist.

Das ist, als wenn man sagt, Paul und Paula sind beide jähzornig, kein Wunder aber auch, sie sind Kinder desselben Vaters. Weizen hat Wert und Eisen hat Wert, kein Wunder, sie wurden beide erarbeitet. Man kann Marx hier nicht folgen; denn das Gattungsmodell auf Gleichungen anzuwenden, geht nicht an.

Eine Gleichung ist kein Vergleich zwischen Arten. Sie hat es überhaupt nicht mit Verschiedenem zu tun, sondern mit Ein und demselben. Sicher kann es sich hierbei um das Selbe eines gemeinsamen Merkmals sonst verschiedener Sachverhalte handeln. Der Witz ist aber, die Gleichung als solche hat es dann nur mit ihm, dem Selben, dem Merkmal zu tun, nicht mit dem Verschiedenen. Sie erzeugt eine n e u e Verschiedenheit, indem sie das Eine des Merkmals selber verschieden macht, es in zwei Ausdrücken ausspricht, dem, der auf der linken, und dem, der auf der rechten Gleichungsseite steht. In x Ware A = y Ware B werden nicht A und B gleichgesetzt. Das zu tun, wäre wirklich absurd, denn sie sind verschieden. Sondern nur x und y. Die können deshalb gleichgesetzt werden, weil sie nicht zwei Sachen sind, sondern eine einzige - die Sache Wert. Diese Sache erhält in der Wertgleichung zwei Ausdrücke. Das heißt, ihr anfänglicher Ausdruck "x" auf der linken Gleichungsseite wird in einen anderen transformiert, ohne dass sie sich dadurch verdoppelte.

Ich kann Marx zum Beleg anführen, habe die Stelle schon zitiert: "Das Eigentum des verkauften Gegenstands tritt man immer ab. Aber man gibt nicht den Wert weg." (MEW 25, S. 357 f.) Wenn man den Gegenstand verkauft, dann um einen anderen dafür einzutauschen. Da kommt der Gegenstand zweimal vor, und man kann fragen, worin ihre Vergleichbarkeit besteht. Der Wert kommt aber nur einmal vor. Man tauscht nicht Wert x gegen Wert y, sondern behält x trotz des Tausches, "gibt" ihn - und damit das Eigentum, wie es sich ökonomisch artikuliert - "nicht weg"; es findet nur eine Transformation des Ausdrucks x in den Ausdruck y statt. Wie ich schon in der vorigen Notiz hervorhob, ist das eine rein s p r a c h l i c h e Operation. Der Arbeit kann es nämlich nicht gelingen, x in y zu verwandeln, ohne aus einem Ding zwei zu machen. Für die Sprache ist es kein Problem. Man begreift das schwer, mir jedenfalls fällt es so wenig leicht wie Marx, weil Gleichungen eine so abstrakte Angelegenheit sind. Was die Gleichung aber kaum durchblicken lässt, zeigt die Metapher, eine andere Sprachoperation (die ebenfalls vom Typ der "Übertragung" ist, vgl. vorige Notiz), umso sinnfälliger: Ein Kamel verdoppelt sich nicht in ein Kamel und ein Schiff, wenn ich es als Schiff der Wüste bezeichne. Es kommt nur einmal vor.

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Nochmals erinnere ich daran, worauf ich in diesem Kapitel (seit der 37. Notiz) insgesamt hinaus will. Auf folgende These: Der Tausch als Methode der Eigentumswahrung, nämlich Wertwahrung, das Geld daher als Wertaufbewahrungsmittel ist weder per se schon kapitalistisch, noch kann man ihn, sie und es - den Tausch, die Eigentumswahrung, das Geld - wie die Waren, die von all dem das materielle Substrat sind, allein auf Arbeit zurückführen; wir haben es vor allem mit einer gesellschaftlichen Konvention zu tun, die nur als Übertragung, nur sprachlich vollzogen wird. Die Unvernunft dieser Konvention zu zeigen, ist Marx nicht gelungen. Ich bestreite, dass Warentausch und Geld per se schon unvernünftig sein sollen.

Unvernunft nehmen sie freilich im Kapitalismus an. Doch wie kann d a s gezeigt werden? Wie hätte M a r x es zeigen können?

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An einer Stelle schreibt er, dadurch, dass Ware und Geld überhaupt verschieden seien, bestehe bereits die Möglichkeit der Krise: dass die einen ihr Geld zurückhalten und die andern auf den Waren sitzen bleiben. Ebenso hätte er argumentieren können, dadurch, dass Geld in jeder Tauschwirtschaft die "allgemeine Ware" sei, bestehe bereits die Möglichkeit einer b e s t i m m t e n Tauschwirtschaft, in der sie als allgemeine die u n e n d l i c h e Ware sei.

Von hier aus hätte er gezeigt, was die Konsequenzen dieser Möglichkeit wären beziehungsweise sind (denn das unendliche Geld ist das, was wir haben). Er wäre noch einmal auf den Ausgangspunkt, die Gleichung x Ware A = y Ware B zurückgekommen, um sie nun so zu schreiben: x Ware A = y G, wobei G ebenso wie B, an dessen Stelle es tritt, für Geld steht, nun aber nicht mehr für fallweises Geld, sondern für allgemeines. Dann wäre er fortgegangen zum dreigliedrigen geldvermittelten Warentausch W-G-W, wie er es ohnehin tut; er hätte ihn aber als Gleichung notiert, wir würden also W = G = W lesen. Ebenso beim nächsten Schritt: W-G-W, schreibt er, ist nur ein Ausschnitt aus der unübersehbaren "Zirkulations"kette -W-G-W-G-W- und so weiter, die man in W-G-W-, ebenso aber in G-W-G-Ausschnitte sequentieren kann; wir schreiben dasselbe in der Gleichungssprache: Aus der Kette = W = G = W = G = W = lässt sich nicht nur W = G = W, sondern auch G = W = G entnehmen. Von welchem G ist die Rede? Von der u n e n d l i c h e n Geldware. Mit Marx führen wir aus, ein solches Geld, das sich auf eine Unendlichkeit aller denkbaren Waren bezieht, sei eines, das sich unablässig vermehren müsse. Es entwickle sich von G zu G', G'' und so weiter, was nur durch den Kauf und Einsatz einer bestimmten Ware, der Arbeitskraft, gelinge; kurz es sei "Geld als Kapital".

Hier angelangt, stellen wir die Frage, die Marx überspringt: Wie wirkt sich die Unendlichkeit der Geldware auf die Kette der Ware-Geld-Gleichungen aus, das heißt auf ihre Ausschnitte W = G = W und G = W = G? Zum zweiten Ausschnitt äußert sich Marx in der Form, dass er erstens die Gleichungszeichen weglässt und zweitens behauptet, G-W-G hätte gar keinen Sinn, weshalb man stattdessen G-W-G' vorfinde. Sehen wir zu, was passiert, wenn wir die Gleichungszeichen n i c h t weglassen. Dann kommt eine Absurdität zum Vorschein: Man muss G = W = G' und also G = G' schreiben (wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, sind sie es auch untereinander). Das heißt, sogar wenn wir wissen, dass der Kapitalist von G zu G' nur durch Ausbeutung der Ware Arbeitskraft gelangt, bleibt immer noch das Absurde bestehen, dass eine Ungleichung, G-G', sich als Gleichung ausgibt und tatsächlich eine ist. Denn es ist ganz angemessen, der unendlichen Geldware, einem Geld, das sich ständig vermehren muss, die Formel G = G' zuzuordnen.

Immer noch spielt alles in der Gesamtgleichungskette, so dass sich die Frage stellt, wie durch den Schritt von G = W = G zu G = W = G' der andere Kettenausschnitt, W = G = W, sich mitändern muss. Er lautet nun W = G'= W. Gehen wir noch einen Schritt zurück zur anfängliche Wertgleichung. Sie müsste nun so geschrieben werden: x Ware A = mehr als y Ware B. In ihr schon müssten Gleichung u n d U n g l e i c h u n g sichtbar werden.

Dann hätte man einen einfachen Warentausch und eine elementare Geldware, aus denen sich ohne Argumentationsbruch das Kapital entwickeln ließe: weil die Kapitaltendenz wirklich schon hier läge, in der "Keimzelle". Schon das elementarste Geld würde zum Kapital tendieren! Freilich wäre nur vom elementarsten u n e n d l i c h e n Geld die Rede gewesen. Kein Spruch gegen Geld an und für sich wäre ergangen.

Ich setze die Betrachtung in der 41. Notiz fort und beschließe mit ihr das Kapitel (zur Einteilung des Blogs in Teile und Kapitel vgl. die 0. Notiz).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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