Abschaffen lässt sich die Atomgefahr nicht

Abrüstung Obamas Politik folgt der Logik des militärischen Gleichgewichts. Doch erst wenn die Atommächte ihre Unangreifbarkeit verlieren, lassen sich alle Kernwaffen verschrotten

Präsident Obamas Abrüstungsvorstoß, am 5. April in seiner Prager Rede formuliert, offenbart ein Dilemma: Ihr Ziel scheint utopisch, ihre Methode ist bescheiden. Die Vision einer Welt ohne Atomwaffen nimmt alle Herzen für ihn ein. Aber bei Licht gesehen schlägt er nur vor, die USA und Russland sollten ihr Arsenal von über 5.000 beziehungsweise fast 14.000 Atomsprengköpfen auf je 1.000 senken. Damit können immer noch mehrere Gesamtselbstmorde der Menschheit inszeniert werden. Da fragt man sich, was Obamas wirkliches Ziel sein mag. Angenommen, es gelänge ihm, eine Abrüstungsdynamik in Gang zu bringen, würde ihr Hauptnutzen nicht der sein, den Druck auf Iran zu erhöhen? Dafür spricht, dass er im gleichen Atemzug die friedliche Nutzung der Atomenergie preist und ein weltweites System vorschlägt, in dem alle Staaten daran teilhaben dürfen, alle sich aber auch international kontrollieren lassen müssen. Es ist, als wollte er den Mullahs ein paar weniger amerikanische und auch russische Bomben als neue Gegenleistung für die längst verlangte Aufsicht über das iranische AKW-Programm offerieren.

Der Andere muss nachziehen

Wie dem auch sei, Obama denkt jedenfalls in der Logik des Waffengleichgewichts. Diese Logik setzt voraus, dass die Mächte einander weiterhin misstrauen. Ob weniger Atomwaffen oder überhaupt nur andere Waffen, der Notfall bleibt allemal denkbar, für ihn will man gewappnet sein. Es gibt hier kein „Neues Denken“, hat noch nie eines gegeben. Auch Gorbatschows Abrüstungsinitiative vom 15. Januar 1986 macht keine Ausnahme. Gorbatschow, der seinerzeit gerade erst die Führung der KPdSU übernommen hatte, wollte der Welt einen dreistufigen Weg zur Atomwaffenfreiheit weisen. Auf jeder Stufe sollten USA und Sowjetunion ihr Arsenal um einen gleichgroßen Betrag reduzieren, und es sollte keine Weltraumrüstung geben. Eine solche hatte Präsident Reagan aber schon angekündigt und war nicht gewillt, von ihr abzulassen. Heute gibt es ein ähnliches Problem: Russland zeigt sich geneigt, Obamas Plan zuzustimmen, unter der Bedingung, dass er die geplante US-Raketenabwehr in Osteuropa stoppt.

Man muss offenbar tiefer ansetzen, um solche Blockaden aufzulösen, aber wie tief? Führt es weiter, wenn man am Abbau „von Feindbildern“ arbeitet? Aber es geht nicht um Bilder, sondern um Realitäten. Vom russischen Standpunkt ist Vorsicht wirklich geboten, denn der Westen wollte das Land nicht in die NATO aufnehmen, er sah auch nicht von einer Einbeziehung der russischen Nachbarn in die NATO ab. Dem Westen wiederum hat es nicht gefallen, dass Russland in Georgien militärisch eingriff.

Wenn die Welt so eingerichtet ist, hat es auch keinen Sinn, auf die „Dynamik“ einseitiger Abrüstungsschritte zu hoffen. Gorbatschow hatte seinerzeit auf die Option des Erstschlags einseitig verzichtet, aber was konnte es nützen? Solche Schritte sind immer darauf angelegt, dass die Gegenseite nachzieht. Sie sind, mit anderen Worten, auch nur eine Methode, das Niveau des Gleichgewichts zu senken und dieses dabei zu wahren. Mehr noch, wenn ein Gleichgewicht notwendig ist, können einseitige Schritte unmöglich immer tauglich sein. Man denke an die Feindschaft zwischen Israel und Iran, von welcher Seite sollte da welcher erste Schritt erwartet werden? Es wäre angesichts des Palästinaproblems lachhaft, die Frage bloß auf der Waffenebene aufzuwerfen. Oder man denke an den Kaschmirkonflikt: Der müsste gelöst sein, bevor eine indische oder pakistanische Regierung sich einseitige Schritte leisten könnte.

Aber wenn man diese Feindschaften betrachtet, sieht man, es führt in die Irre, hier von „Gleichgewichten“ – sei es auf hohem oder niedrigem Niveau – überhaupt zu sprechen. Das ist ja eine Vokabel aus der alteuropäischen Geschichte, als England, Frankreich, Russland, Preußen und Habsburg ihre Balance durch häufige Kriege testeten, die man immer noch bemüht, um ein ganz anderes Problem euphemistisch zu umschreiben. Nämlich das der Unangreifbarkeit. Es ist einigen Staaten gelungen, sich unangreifbar zu machen: Das hat es bis vor einem halben Jahrhundert nie gegeben, und das hat mit „Gleichgewichten“ gar nichts zu tun. Dass Nordkorea die Atombombe hat, bedeutet nicht, es hätte mit irgendeinem Staat gleichgezogen, sondern es kann nicht mehr angegriffen werden – anders als Saddam Husseins Irak –, denn es könnte sich mit der Vernichtung Südkoreas rächen.

Iran in die EU

Auch im Kalten Krieg ging es nicht wirklich um ein Waffen-„Gleichgewicht“, obwohl ständig davon die Rede war. Die Bedeutung des „NATO-Doppelbeschlusses“ vom Dezember 1979 lag in seiner Endphase aller damaligen Rhetorik zum Trotz nicht darin, dass der Westen einen Vorsprung hätte aufholen müssen, den sich der Osten verschafft habe, sondern darin, dass neuartige Raketen, die nur wenige Minuten brauchten, um bis in die westliche Sowjetunion und Moskau zu gelangen, und gegen die es praktisch keine Gegenwehr gab, in Westdeutschland stationiert werden sollten.

Man muss das zur Kenntnis nehmen, wenn man darüber nachdenken will, welcher Fortschritt erzielt werden könnte. Abschaffen lässt sich die Atomgefahr nicht, denn das Wissen, wie man die Bombe baut, wird nie mehr verschwinden. Abschaffen lässt sich aber vielleicht auf lange Sicht die Situation, dass einige Staaten unangreifbar sind und andere nicht, so dass diese anderen danach trachten, sich ebenfalls unangreifbar zu machen, und immer mit dem Mittel der Bombe. Wie würde ein Zusammenschluss aller Staaten aussehen, in dem kein einziger fürchten müsste, von anderen angegriffen zu werden?

Könnte die Verfassung der EU ein Vorbild sein? Sie besteht ja aus ehemaligen Kriegsgegnern, die ihre „Feindbilder abgebaut“ haben. Wenn die EU ein Vorbild wäre, wüsste man jedenfalls, was „erste, einseitige Schritte“ sein könnten: Sie selber müsste eine Form finden – eine etwas andere Verfassung –, in der sie zunächst Russland aufnehmen könnte, dann auch Iran, Israel und Palästina. Und Obama müsste sie hierzu drängen. Schon seine Amtsvorgänger haben ja die Aufnahme der Türkei von der Europäischen Union verlangt. Aber selbst hierzu kann sie sich nicht entschließen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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