Die Grünen wollen sich zur SPD machen, wie sie einmal war – das konnte man dem Leitantrag ihres Bundesvorstands schon vor dem Bielefelder Parteitag entnehmen. Zum einen fordern sie ein gewaltiges Investitionsprogramm, den Ausbau der Bahninfrastruktur etwa mit „mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr“, den Ersatz von Öl- und Gasheizungen, die Erhöhung von Deichen, den Umbau der Landwirtschaft und, und, und. Zu diesem Zweck soll die Schuldenbremse des Bundes gelockert oder, wie sie sagen, „weiterentwickelt“ werden, 35 Milliarden Euro Kreditaufnahme pro Jahr sollen möglich sein. Gegen den Willen des Vorstands hat der Parteitag die Lockerung nicht nur dem Bund, sondern auch den Ländern erlaubt. Dieses Programm ist nur teilweise ein Alleinstellungsmerkmal, denn dieselbe Relativierung der Schuldenbremse haben jetzt auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gemeinsam gefordert, damit eine „ambitionierte Investitionsoffensive der öffentlichen Hand“ möglich wird. Denen geht es mehr darum, der drohenden Rezession entgegenzuwirken, aber ob sie oder die Grünen es sagen, es ist eine Wiederkehr „antizyklischer“ Wirtschaftspolitik in keynesianischer Manier, wie sie Willy Brandts Wirtschaftsminister Karl Schiller einst befürwortet hat.
Von den Grünen indessen wird sie ökologisch gefüllt, und vor allem wollen sie es politisch auch umsetzen. Während Christian Lindner, der FDP-Vorsitzende, am Sonntag bei Anne Will von dem Thema nur überrascht war. Wozu denn die Schuldenbremse lockern, sagte er, der Bund hätte ja jetzt schon Spielraum zum Investieren, soll er den doch nutzen! Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock musste ihm erst erklären, dass ein vorhandener Spielraum auch zu klein sein kann. Im Übrigen steht der ökologische Investitionsinhalt nicht nur in grünen Parteitagsanträgen und -reden, sondern sie sprechen darüber mit Unternehmern und Gewerkschaftern. Reiner Hoffmann, der DGB-Vorsitzende, war in Bielefeld auch anwesend, bedankte sich für die „gute Kooperation in den letzten Jahren“ und lobte den Leitantrag, der etwa vorsieht, dass bei öffentlichen Aufträgen nur Unternehmen mit Tarifbindung berücksichtigt werden. Für Karl Schiller war es ein politisches Hauptinstrument, Unternehmer und Gewerkschafter an einen Tisch zu setzen. Als „Korporatismus“ wurde das damals von der Wissenschaft analysiert. Konnte er aber damals sozialliberal genannt werden, weil er kaum ein anderes Ziel hatte als das der Streikvermeidung, so wäre heute von einem „sozial-ökologischen“ Korporatismus zu sprechen, welches Prädikat die Grünen jetzt ständig im Mund führen. Sie haben auch Willy Brandt zitiert: „Mehr wagen, um nicht alles zu riskieren“, war in Erinnerung an Brandts Ausspruch „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ das Parteitagsmotto.
Weiche von uns, Scholz
Wenn es aber diese SPD noch gäbe, wäre sie kein Traditionsverein, sondern würde etwas ganz Neues und sehr Notwendiges tun – sie würde den Neoliberalismus angreifen und im Kampf beseitigen. Die Grünen haben sich einmal dem Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Sozialdemokrat und Neoliberaler war, willig untergeordnet, jetzt wollen sie jenen Kampf aufnehmen. Auch das spricht schon deutlich aus dem Leitantrag, der voll ist von präzisen Bestimmungen, mit denen die neoliberale Deregulierung aufgehoben würde, und aus dem man auch ersieht, dass die Verfasser wussten, was sie taten. Ganz grundsätzlich unterscheiden sie die drei wichtigsten Weltwirtschaftsblöcke: die USA – „finanzmarktgetriebener Kapitalismus“, China – „autoritärer Staatskapitalismus“ und die „europäische Antwort“ – „sozial-ökologische Marktwirtschaft“. Es ist schon interessant, dass sie das Wort „Kapitalismus“ den anderen zuschieben, obwohl sie selbst auf diese Produktionsweise setzen, und das auch gar nicht bestreiten. Ein leiser Zweifel ist wohl trotzdem geblieben.
So bei Sven Giegold, dem grünen Europaabgeordneten, den man einst der Linken zurechnete, als die Partei noch Flügel hatte. „Der Kapitalismus ist wandlungsfähig“, sagte er. Zugleich brachte er den schreienden Widerspruch auf den Punkt. Keineswegs solle der Kapitalismus bloß „grün angestrichen werden“! Vielmehr gehe es um „Grenzen des Wachstums“, die „Grenzen unseres Planeten“ – aber wie soll das denn gehen? Die Grünen selbst sprechen davon, dass ein gewisses ständiges Wachstum unvermeidlich sei, fordern dann nur, dass es „qualitativ“ sein soll, „mit sinkendem Ressourcenverbrauch“, und wissen doch bestimmt, dass er im „Zeitfenster“ von zehn bis 15 Jahren, von dem sie sprechen, kaum weltweit auf ein umweltverträgliches Niveau sinken wird. „Wir brauchen eine Politik der Freiheit zum Weniger“, sagt Giegold. Bei Marx lesen wir aber, dass der Zwang zum Mehr gerade das ist, was den Kapitalismus definiert: „Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.“ Womit wir wieder bei der Frage sind, die seit der Gründung der Grünen wie ein Damoklesschwert über ihnen hängt: Was werden sie tun, wenn sie der Entdeckung nicht mehr ausweichen können, dass Kapitalismus mit Grenzen, grundsätzlichen jedenfalls, und um die geht es, unvereinbar ist?
Aber Regeln lässt er sich setzen, das hat die Vergangenheit längst erwiesen, und eine neue Akkumulations- und Regulationsweise, ein Abschied vom Neoliberalismus, wäre gewiss kein ganz unwichtiger Schritt. Den haben sie vor und betonen es in vielen Varianten. Robert Habeck will eine „Neujustierung der Märkte“, ja eine „neue Produktionsform“ in ganz Europa. „Natürlich braucht ein Markt Regeln, damit der funktioniert, und ja, das kann man auch Verbote nennen“, sagt Baerbock mit so viel Drive, dass es Lindner irgendwie auf dem falschen Fuß trifft. Der Satz sei so abstrakt, den könne ja jeder unterschreiben, sagt er abends bei Anne Will. Markus Söder, der CSU-Vorsitzende, der auch in der Runde sitzt, hat aber gerade erst den Grünen „knallharte Verbote und Regularien“ vorgeworfen, ihren Parteitag so zusammengefasst! Ein bisschen verwirrt sind sie schon, diese Charaktermasken. Denn es ist nicht mehr undenkbar, dass Baerbock oder Habeck bald ins Kanzleramt einziehen. „Verwandeln wir dieses System, drehen wir dieses System um!“, hat Baerbock in den Bielefelder Saal gebrüllt und den Delegierten gefiel es, mit 97,1 Prozent Zustimmung wurde sie wiedergewählt.
Sprechen wir also nicht nur vom „green capitalism“, wie Linke gern kommentieren, sondern von der grünen Regulationsweise. Der Kommentar ist ja richtig, aber was soll man mit ihm anfangen? Okay, Willy Brandts Kapitalismus war rot oder rosa, dann kam der FDP-gelbe neoliberale Kapitalismus und jetzt stünde der grüne an. Wenn wir mehr wollten, und das wäre wünschenswert, müssten wir den Kapitalismus selber praktisch kritisieren. Dazu bieten die Grünen ja allen Anlass. Für Giegold zum Beispiel sind „Regeln“ das Gegenteil von „Konsumverzicht“, denn den zu fordern sei eine „Moralisierung“ des Problems. Im gleichen Atemzug fordert er aber ein Mobilitätssystem, „wo man ohne private Autos europaweit unterwegs sein kann“, als ob er nicht wüsste, dass viele Leute gern Auto fahren. Es ist ja wahr, der Konsum von Autos ist nicht moralisch falsch, sondern nur ökologisch, und dasselbe gilt schon für ihre Produktion. Aber macht das die logische Schlussfolgerung falsch, dass Autos so lange weiterfahren, wie ihre Produktion und Konsumtion nicht aufhören? Hier könnte nun die Linkspartei mit antikapitalistischer Kritik ansetzen. Das tut sie nicht, sie kritisiert nur die kapitalistische Produktion. Als ob sie nicht wüsste, dass diese Produktion so lange hegemonial ist, wie die Leute sich die Notwendigkeit des Konsums einreden lassen. Und dass man keine Macht besiegt, wenn man nicht vorher die Hegemonie der Macht besiegt hat. Antonio Gramsci lässt grüßen.
Die Grünen als Partei gehen weniger weit als Giegold, der trotzdem auf dem Parteitag frenetischen Beifall erhielt. Sie wollen gar keinen Zweifel daran lassen, dass sie jeglichen Konsum billigen, auch alle Autos und Flugzeuge, nur sollen die einen elektrisch und die anderen mit Wasserstoff betrieben werden, und zwar so, dass in jenen zehn bis 15 Jahren die ganze Welt CO₂-frei geworden ist. Damit nicht jemand denkt, das sei vielleicht nicht ernst gemeint, spricht ihr Leitantrag noch ausdrücklich vom Smartphone. „Märkte sind ein mächtiges Instrument“, sie können „dafür sorgen, dass binnen wenigen Jahren das Smartphone auch in den entlegensten Winkeln dieser Erde Menschen miteinander verbindet“. Aber Deutsche mit Deutschen zum Beispiel könnten sich auch anders verbinden. Wissen sie nicht, dass die Informations- und Kommunikationstechnikbranche, wenn sie so weiter wächst wie bisher, 2040 für 14 Prozent aller Emissionen verantwortlich sein wird – der Hälfte dessen, was der Verkehr verursacht?
Wie auch immer, eine von Baerbock oder Habeck geführte Bundesregierung wäre ein guter Schritt voran. Da die Grünen sich zur SPD gemacht haben, wie sie einmal war, würde es am besten in Koalition mit der jetzigen SPD und der Linkspartei laufen. Das setzt aber voraus, dass die jetzige SPD wieder mehr Wählerinnenzuspruch erhält. Und das wiederum hieße, sie darf nicht Olaf Scholz zu ihrem Vorsitzenden wählen. Dass Scholz mit der CDU weiterregieren will, statt sich an den Grünen zu orientieren, hat ja einen Grund: Er denkt zu kleinkariert. Er wie vorher Andrea Nahles haben unermüdlich betont, dass es falsch sei, in großen Entwürfen zu denken, vielmehr müsse man auf die kleinen Erfolge stolz sein, die zu genießen eine auf Sicht fahrende CDU-Kanzlerin erlaubt. Habeck hingegen sagt in seiner Parteitagsrede, man müsse „die großen Dinge in Deutschland denken“. Politik sei die Kunst des Möglichen, Politik machen heiße Möglichkeitsräume öffnen. Wer sie als das Machbare definiere – Angela Merkels Entschuldigung für das falsche Klimaschutzgesetz der Großen Koalition –, bleibe beim Status quo.
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