Agitprop des Vertrauens

Schleswig-Holstein Peter Harry Carstensen (CDU) stellt die Vertrauensfrage. Die hat schon Gerhard Schröder pervertiert. Der Kieler Ministerpräsident setzt nun noch eins drauf

Was ist die politische Sprache noch wert, fragen sich viele Bürger, wenn heute Peter Harry Carstensen, Schleswig-Holsteins Ministerpräsident, im Landesparlament die Vertrauensfrage stellt. Denn es wird ja gesagt, das sei eine "unechte" Vertrauensfrage. Hierunter können sich alle etwas vorstellen, seit Gerhard Schröder vor vier Jahren durch eine Vertrauensfrage die vorzeitige Auflösung des Bundestags erreichte, obwohl ganz klar war, dass er das Vertrauen der Mehrheit hatte, nämlich seiner rot-grünen Koalition.

Wird diese Perversion zum Regelfall? Eine Perversion ist es, weil die Verfassung beliebige Parlamentsauflösungen aus gutem Grund verbietet – die Endzeit der Weimarer Republik stand ihren Vätern und Müttern vor Augen – und sie nun doch wieder, an der Verfassung vorbei, zur Mode zu werden scheinen. Aber die Bürger fragen sich auch, was den Politikern einfällt, das Wort "Vertrauen" derart zu missbrauchen.

In Kiel allerdings ist die Perversion noch größer als sonst. Denn gerade wenn wir vom Alltagssinn des Wortes ausgehen, sehen wir, diese Vertrauensfrage ist durchaus nicht "unecht". Mehr noch, sie beantwortet sich schon fast von selbst, stellen muss man sie nur wegen der verfassungsmäßigen Konsequenzen, die sich aus ihrer sonnenklaren Beantwortung ergeben. Vertraut die SPD-Fraktion in Kiel dem Ministerpräsidenten? In keiner Weise!

Zwischen ihm und Landes-SPD-Chef Stegner herrscht offene Feindschaft. Wenn Carstensen sagte, er vertraue seinerseits der SPD nicht mehr, war auch das die pure Wahrheit. Umgekehrt lügt die SPD vor offenen Kameras, wenn sie behauptet, es gebe überhaupt keinen Grund, die Koalition der Feinde zu beenden. Sie spricht so, weil sie ihre Dezimierung in Neuwahlen fürchtet. Und dabei weiß sie, jeder durchschaut diesen Gedanken. Aber dann geht sie auch wieder nicht so weit, die angeblich "unechte" Vertrauensfrage mit einer wirklich unechten Vertrauensantwort zu beantworten. Sie könnte ja für Carstensen stimmen, obwohl sie ihm nicht vertraut, um ihren Unwillen gegen die Parlamentsauflösung auf diese Weise zum Ausdruck zu bringen.

Nein, das ist keine unechte Vertrauensfrage, das ist vielmehr über echt und unecht ein unechtes Urteil. Was ist die politische Sprache noch wert? Im allgemeinen vielleicht nicht viel. An dieser Stelle jedoch wird sie geradezu symptomatisch. Niemand kann behaupten, es stellten sich nicht zur Zeit auf allen möglichen Ebenen Vertrauensfragen. So halten die Banken Kredite zurück, weil sie kein Vertrauen haben, sie würden zurückgezahlt werden, und manche fangen an, das Vertrauen zur ganzen ökonomischen Ordnung zu verlieren.

In einer solchen Situation werden die Politiker, von denen die Ordnung verteidigt wird, zu Agitatoren und Propagandisten des Vertrauens. Und wenn dann irgendwo eine Vertrauensfrage aufkommt, die nicht anders als mit einem Misstrauensvotum beantwortet werden kann – an einer undichten Stelle gewissermaßen: weil es Verfassungsregeln gibt, die eingehalten werden müssen –, dann können sie nicht anders, als den Sinn des Wortes "Vertrauen" zu zerreden. Damit sich nur ja nicht das Wort "Misstrauen" in den Köpfen ausbreitet.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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