Aischylos, „Die Schutzflehenden“ (2)

Flüchtlingskrise Asylsuchende aus Ägypten und ihre Aufnahme im griechischen Argos: Fortlaufender Kommentar zu einer antiken Tragödie

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Verwandtschaft und Recht (Die Asylverhandlung I)

Der König von Argos lässt es zu, dass die Töchter, bevor sie ihm Auskunft geben, erst einmal fragen, wer er denn sei. Bereitwillig sagt er es ihnen mit nicht wenigen Worten („Da du von mir jetzt alles Wichtige gehört“, 271): Es ist nicht wie bei Karl May, wo einander Begegnende immer erst einmal Beleidigungen austauschen im Streit, wer mit der Selbstvorstellung anzufangen habe, weil der andere und nicht man selbst der Schütze Arsch sei. Auch wenn jemand vor unsern Behörden steht, wird es nicht wie in Argos zugehen.

Die Töchter denn stellen sich kurz und knapp als Nachkommen Ios vor, was den König sehr erstaunt, denn die Auskunft bedeutet ja,

Dass unserm, der Argeier Stamm, ihr zugehört.

Wie kann das sein?

Libyschen Frauen seid ihr ja bei weitem mehr
Vergleichbar, keineswegs doch solchen unsres Lands. (278 ff.)

- wobei „libysch“ in den antiken griechischen Texten so viel wie „afrikanisch“ bedeutet. Weil ihm die Auskunft „unglaublich klingt“ (277), bittet er um Belehrung,

Wie dein Geschlecht und Same kann von Argos sein. (290)

Hier scheint es nur noch um den Mythos zu gehen, der uns Heutige nicht mehr anspricht. Es ist aber vielmehr so, dass die Töchter auf etwas hinweisen, worauf auch heute jeder Flüchtling hinweisen würde, käme es nur überhaupt zu einem Gespräch mit ihm oder ihr: Wir sind doch Menschen! Was soll das, dass wir „Fremde“ für euch darstellen! Auch in unserer Heimat benutzt man Handys und geht in Supermärkte! Ihr selbst habt dafür gesorgt, dass unser Leben dort dem eurigen hier immer ähnlicher wurde! Wir sind Verwandte! - Nur dass „Verwandtschaft“ damals in einem anderen Diskurs artikuliert wurde. Im metaphorischen, wo man Genealogien konstruierte und so weiter. Es ist kein großer Unterschied. Auch darin ist es keiner, dass der König das Gemeinsame so schnell nicht hinzunehmen bereit ist.

Es geht aber anders weiter, als es heute gehen würde, weil er und die Töchter sich nun gegenseitig die mythischen Details erzählen und daraus verstandes- wie gefühlsmäßig, also ganz und gar die Gewissheit ihrer Verwandtschaft beziehen. Die Frage ihrer Verwandtschaft war entscheidbar. In diesem Asylverfahren haben auch die Flüchtlinge gute Karten. Natürlich wird Aischylos hier irreal, denn es ist in Wahrheit nicht zu erwarten gewesen, dass Ägypterinnen den Mythos kennen, der eben doch nur ein griechischer ist. Keineswegs glaubte man ja in Ägypten selbst, von einer Griechin abzustammen. Die Szene veranschaulicht aber gut einen Aspekt des innergriechischen, später auch des römischen Lebens: Die gemeinsame Bezugnahme auf dieselben Mythen – allgemein gesprochen, auf ein allgemeines Überindividuelles - macht Gespräche leichter und vereinheitlicht die Literatur in einer großen Welt über lange Zeit.

Auf unsere heutige Welt lässt sich das nicht übertragen, was uns aber auffallen muss, ist wie der König nun fortfährt: Er gibt die Verwandtschaft zu, räumt also ein, dass die schwarzhäutigen Töchter quasi weiße Argeierinnen sind, ist damit aber noch nicht zufrieden, sondern fragt, ob die Flucht denn rechtens gewesen sei. Das ist auffallend, denn wenn auch offensichtlich ist, dass er immer noch in der Absicht fragt, sich die Flüchtlinge möglichst vom Leibe zu halten - indem er hofft, ihnen das Recht zur Flucht absprechen zu können -, so muss er doch wissen, dass er sich damit auch der möglichen Umkehrung aussetzt: Wenn die Töchter nachweisen, dass sie im Recht sind, wie soll er ihnen dann noch das Asyl verweigern? Es geht dabei nicht etwa um das „Recht“ eines argeiischen Asylkriterienkatalogs, sondern um die Zustände im Herkunftsland. Und es geht nicht darum, ob das Herkunftsland „sicher“ sei, was immer man darunter verstehen will, sondern darum, welche rechtlichen Zustände dort herrschen:

Ist Hass die Ursach‘, oder scheint es Unrecht dir? (336)

So fragt der König und lässt sich so schnell vom Unrecht nicht überzeugen. Gut, die Töchter wollen ihre Vettern nicht heiraten, aber ist das ein Grund? Es sind doch immerhin die Königssöhne:

Der Menschen Macht erhöht sich sehr durch solchen Bund. (338)

Darauf wissen die Töchter nicht gleich zu antworten. Bisher haben sie nur ihre Unschuld beteuert, einen Rechtsbruch als Fluchtgrund aber nicht vorgewiesen. Das Gespräch gerät vorübergehend etwas außer Kontrolle. Du willst uns ja nur „abschütteln“, halten sie dem König vor (339), der nun ebenfalls, Recht hin oder her, seine Sorge ausspricht:

Gar Schweres sprachst du, neuen Krieg bedeutet’s mir! (342)

- wenn nämlich die Söhne des Aigyptos den Töchtern des Danaos nachkommen und ihre Auslieferung verlangen. Sie sind tatsächlich schon auf dem Weg, bald werden sie eintreffen. Und auch das ist der heutigen Situation entfernt ähnlich. Die syrischen Flüchtlinge werden hierher getrieben, teils vom IS, teils von Assad. Sie werden zwar nicht bis zur deutschen Landesgrenze verfolgt, die Frage des Krieges stellt sich aber dennoch. Wir können dem in Syrien tobenden Krieg nicht tatenlos zusehen.

*

Freiheit und Krieg (Die Asylverhandlung II)

Da sich die Kriegsfrage stellt, will der König die Sache nicht allein entscheiden, sondern das Volk von Argos befragen. Die Töchter sehen es so, dass er ihnen ausweicht, sehen ihre Felle davonschwimmen. Die Sache hat aber natürlich auch den Aspekt, dass es zur Zeit der Aufführung der Tragödie tatsächlich Sache des attischen Volkes war, über Krieg und Frieden zu entscheiden. DIE SCHUTZFLEHENDEN wurden, wie erwähnt, vermutlich 463 v. Chr. aufgeführt. Da mochten die Zuschauer daran denken, dass gerade erst die letzte Schlacht der Perserkriege – am Eurymedon im südlichen Kleinasien, 465 v. Chr. – geschlagen worden war: Es war die erste große Bewährungsprobe des attischen Seebunds und der endgültige Durchbruch Athens zur Großmacht. Und es ging weiter. Der Athener Kimon, der die Truppen 465 noch geführt hatte, wäre 463 fast aus Athen verbannt worden, weil seine Politik als zu spartafreundlich dargestellt wurde. Er kann das Scherbengericht gerade noch abwenden. Einer seiner Ankläger war Perikles, der später auf den „Peloponnesischen“ Krieg gegen Sparta zusteuert und ihn auch beginnt.

Die griechischen Dramen – die Komödien des Aristophanes sowieso, aber auch die Tragödien – haben immer auch einen aktuellen Bezug: Aischylos war mit Perikles, der schon einmal eine Chorregie für ihn übernommen hatte, gut bekannt und so fragt man sich, ob DIE SCHUTZFLEHENDEN Teil einer Kampagne gegen Kimon gewesen sein könnten. Man sieht daran, dass unser Stück nicht etwa einen Heiligenschein verdient. Es kann sehr wohl als imperiale Propaganda gelesen werden. Wir müssen in den Seekrieg, um Menschenrechte zu schützen, will es vielleicht insinuieren. Gegen Sparta! Kimon, im Stück der „König“, zögert zwar, aber das Volk wird ihm nicht folgen. Tatsächlich wird das Volk von Argos die Asylsuchenden ungeachtet der Kriegsgefahr bereitwillig aufnehmen.

Trotz solcher wahrscheinlich mitspielenden Ideologie zeigen DIE SCHUTZFLEHENDEN aber, was Asylgeber und –bewerber im alten Griechenland galten, und wir fahren fort, das Stück unter diesem Aspekt zu lesen. Der König hatte sich also unschlüssig gezeigt und hatte auf sein Volk verwiesen. Nachdem die Töchter ihm deshalb unterstellen, er wolle sie nur loswerden, setzt er die Debatte über die Rechtmäßigkeit der Flucht fort. Er wird nun deutlicher:

Ward Macht verliehn Aigyptos‘ Söhnen über euch
Nach Staatsgesetz mit der Begründung, dass sie nächst
Verwandt: wer wollte ihnen da wohl widerstehn?
Es muss entsprechen euer Fliehn der Heimat Recht,
Für sie darf Anspruch keiner Art bestehn auf euch. (387 ff.)

Er macht also das Recht des Herkunftslands zum Schiedsrichter. Und er sucht die Töchter mit ihrer eigenen Waffe zu schlagen: Ihr habt euch auf eure Verwandtschaft mit Argos berufen, doch Aigyptos‘ Söhne sind euch nun eben auch verwandt, ja näher verwandt. Was sollen die Töchter antworten? Sie hatten gerade erst, weil der König ihnen keine Wahl ließ, ebenfalls begonnen, sich aufs Recht zu berufen, eigentlich aber nur auf das Wort: Wenn der König sie wegschickt, heiße das, sie „finden ihr Recht nicht“ (384). Jetzt sollen sie sagen, worin ihr Recht denn besteht. Hat sich nicht eher herausgestellt, dass Recht gegen Recht steht? Die Töchter müssen einen neuen Schritt tun. Sie wechseln die Ebene:

Möcht ich doch niemals untertan werden der
Gewalt der Männerhand! (392 f.)

Das haben sie zwar von Anfang an gesagt (38 f.), aber hier ist es ihre Antwort auf das Rechtsargument des Königs: Mag Recht gegen Recht stehen, sie entscheiden sich für die größere Freiheit. Das gibt den Ausschlag. Es ist der Wendepunkt, die „Peripetie“ der Tragödie. Denn gleich anschließend verändert der König seine Haltung, indem er zu erkennen gibt, dass er anfängt, den Krieg für unvermeidlich zu halten (was später die Haltung des Perikles sein wird: Der Krieg mit Sparta kommt sowieso, also können wir ihn genauso gut selbst beginnen).

Natürlich ist das Futter für unsern Ideologieverdacht: Jetzt, wo die Debatte auf die Ebene der Menschenrechte gehoben ist, wird der Krieg denkbar. Dennoch werden wir ja nicht sagen, dass Frauen vor Männergewalt nicht geschützt werden müssten, im Gegenteil. Es ist auch in unserem Asylrecht ein anerkannter Fluchtgrund. Nur dass nicht alle Frauen die Möglichkeit haben, aus diesem Grund zu uns zu kommen, und wir es ihnen auch nicht erleichtern. In unserer aktuellen Situation ist auch die Verallgemeinerung wichtig: Wenn heute Syrer zu uns kommen, Frauen, Männer, Kinder, sie fliehen nicht nur weg von der Not, sondern auch hin zu jenen bestimmten Orten, wo die Freiheit relativ noch am größten ist. Ist es nicht bösartig, dies von vornherein als egoistische Hinwendung zu den Fleischtöpfen der „freien Marktwirtschaft“ herunterzumachen? – ganz abgesehen davon, dass wir selbst ja die Ersten sind, die unsere Freiheit an unserer angeblichen ökonomischen Freiheit messen. Und wer als „Wirtschaftsflüchtling“ zu uns kommt, soll das nicht auch dürfen? Nun, über die Syrern sagt niemand, sie seien Wirtschaftsflüchtlinge. Es spielt nur mit: Warum wollen sie gerade zu uns... Aber wie man es dreht und wendet: Getrieben von Not, sind sie zur größeren Freiheit geflohen, und das ist nun auch wieder nicht richtig. Obwohl wir es doch waren, die ihnen Freiheit immer wieder gepredigt haben.

*

Wie es Flüchtlingen ergeht

Weil der König trotz allem dabei bleiben muss, die Entscheidung dem Volk zu überlassen, geraten die Töchter in wirkliche Panik, drohen damit, sich aufzuhängen. Es hängt jetzt alles davon ab, ob das Volk bereit ist, für die Freiheit in den vielleicht verlustreichen Krieg zu ziehen. Der wäre wenigstens keine „humanitäre Intervention“, sondern nur Landesverteidigung. So nach der Tragödienhandlung; in der gleichzeitigen Athener Wirklichkeit sieht es anders aus. Wie auch immer, für die Töchter wird die Situation unaushaltbar. Der König gibt es auf, mit ihnen noch weiter zu sprechen, und wendet sich an den Vater: „Zeus‘, des Flüchtlingsschützers, Groll“ (478) will er so wenig auf sich laden wie den Groll des Volkes. Deshalb soll Danaos ihn auf dem Rückweg begleiten, die Flehzweige der Töchter nehmen und auf den Stadtaltären niederlegen. Mit diesem Schritt sind die Flüchtlinge offenbar geschützter, als wenn sie sich nur an der Grenze den Göttern anvertrauen. Muss man den Argeiern so weit entgegenkommen? Danaos sieht es ein:

[...] Aussehn ist, Gestalt nicht gleich bei mir;
Nil ja und Inachos nähren nicht ein gleich Geschlecht,

wenn auch Verwandte. Inachos ist der griechische Flussgott, dessen Tochter Io die Stammmutter sowohl der Griechen wie der Ägypter sein soll, was an deren Fremdheit füreinander aber nichts ändert:

Vorsicht tut not, dass Keckheit Schrecken nicht gebiert.
Mancher erschlug den Freund schon, den er nicht erkannt. (496 ff.)

Für die Töchter freilich wird die Situation noch schrecklicher, als sie schon war, denn sie bleiben nun ohne das schützende Zeichen der Zweige am Strand zurück und haben Grund zu fürchten, dass die Verfolger ankommen, während Danaos und die Argeier abwesend sind. Was sollen sie tun? Der König gebietet ihnen, sich in einen Hain zu begeben, der nicht einmal geweiht ist! Er weiß, dass sie da ungeschützt sind. Sein Trost ist nicht eben überzeugend:

Nicht Geiern ja zum Raube setzen wir dich aus (510)

- nein, aber den Ägyptern – und sie würden ja „nicht gar lange“ allein gelassen (516). Es ist deutlich, dass die Angelegenheit nun auf des Messers Schneide steht. Anders als so, dass Danaos mitgeht und die Schutzzweige mitnimmt, glaubt der König gegen das Volk nicht bestehen zu können. Die große Gefahr, der er die Töchter aussetzt, muss er in Kauf nehmen. Hier nun endlich kommen diese darauf, dass es ihnen ja eigentlich nicht anders ergeht als der Io:

Ich trat auf alte Spur dort, wo die
Mutter auf blumiger Au bewacht ward,
auf Weideviehs Flur, von wo einst Io,
Bremsegehetzt, ihre Flucht
Anhebt in irrendem Wahn,
Vielfach der Sterblichen Stämme durchschweift (538 ff.)

- ganz wie Flüchtlnge heute, nur in umgekehrter Richtung, durch den Balkan schweifen. Eine Neigung, in Ios Schicksal das Sinnbild des Lebens von „Ioniern“ überhaupt zu sehen, zeigt Aischylos übrigens mehr noch in seiner Tragödie DER GEFESSELTE PROMETHEUS, wo dieser und Io eine Art Paar bilden, beide leidend, beide auf Herakles vorausschauend und -weisend. Und war nicht lange vor Aischylos der Irrweg des Odysseus künstlerisch gestaltet worden? In dem wir längst auch ein Sinnbild unseres Lebens sehen; schon das könnte uns hindern zu heucheln, wir kennten etwas wie Flucht an uns selbst so wenig, dass wir, statt aus Mitleid Solidarität an Flüchtlingen zu üben, es eher wegwischen müssen wie einen unbegreiflichen Schmutzfleck. Io immerhin, deren Weg die Töchter jetzt genauer schildern, kann sich wie Odysseus zuletzt retten. Und sie selbst? Der Vater kommt zurück mit der Nachricht, das Volk habe ihnen einstimmig und „ohne Schwanken“ (605) Asyl gegeben und sei auch zum Krieg bereit. Damit schlägt ihre Stimmung natürlich um, sie flehen jetzt Segen auf Argos herab. Aber noch sind sie nicht gerettet. Denn das Volk ist nicht mitgekommen, dafür sieht Danaos jetzt die Schiffe der Ägypter nahen. Er muss die Töchter nochmals alleinlassen, um „mit Helfern, mit Fürsprechern bald zurück“ zu kommen (726)! Aber wenn es nun zu spät sein wird? Die Töchter flehen, er möge sie nicht allein lassen. Er muss aber ja. Der Trost, den er noch herauskramt, ist wahrlich furchtbar:

Nur schön und nützlich wär uns dies, ihr Kinder, ja,
Machten wie euch sie auch den Göttern sich verhasst. (753 f.)

Und es dauere ja eine Weile, bis die Verfolger ihre Anker und Taue gelegt hätten! Sicher würden sie das sorgfältig tun und also etwas Zeit verlieren! Und dann die schalste Aufmunterung:

Denk dran: Bist du in Angst, vergiss die Götter nicht! (772)

Wie sollte man nicht eher an Hoyerswerda denken. Man wundert sich nicht, dass die Töchter durchdrehen:

Der Vater sah’s; mich traf es. Umkomm ich vor Angst.
Ich wollte durch Strickes Schlin-
ge lieber finden meinen Tod,
Eh ein verfluchter Mann mir meinen Leib berührt. (786 ff.)

Unabhängig übrigens von der Geschichte, die hier gerade erzählt wird, spiegelt sich in solchen Szenen auch ganz allgemein die Angst griechischer Frauen, Beute eines feindlichen Kriegsheers zu werden, das ihre Stadt einnimmt. Aischylos hat ihr in SIEBEN GEGEN THEBEN Stimme und breitesten Raum gegeben. Es ist eine alltägliche Situation nicht nur damals, sondern auch heute noch im Nordirak und in Syrien:

O oh! ach ach!
Sehn muss ich eignen Augs: Dort steigt’s herab. Ich lass
Aufleuchten meinen Notschrei!! -

Ich seh das Vorspiel, das ins Werk setzt die Not:
Gewalttat, die mir droht! Weh, weh; weh, weh!
Eilig flieht hin zum Schutzort!

Wildüppige, lästige Gier – dort drüben erst auf
Dem Schiff, nunmehr auf dem Land! Weh, weh!
Landesherr, wehr die Not ab! (828 ff.)

Doch nun ist schon der Herold der Ägypter da und droht ihnen:

Geht eine nicht zum Schiff freiwillig mit: zerfetzt
Wird ihres Kleids kunstvoll Geweb erbarmungslos! (906 f.)

Aber der König kommt und nötigt den Herold zum Rückzug.

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„Dir unbekanntes Volk durchschaun“

Die Töchter können jetzt zur Stadt mitkommen und wir erfahren noch, dass es an Unterkünften, unentgeldlichen sogar (1011), für sie nicht mangelt. Waren die Argeier denn etwa reicher als wir, die Bundesrepublik Deutschland? Das nicht, aber sie waren gastfreundlich:

Da stehen Räume zum Bewohnen euch bereit
Mit vielen andern; doch wenn es euch lieber ist
Gibt’s auch in Einzelwohnung Unterkunft für euch.
Hiervon das Beste, eurem Sinn Erwünschteste
Ist da! - Ihr könnt euch wählen. Schirmherr bin ich selbst
Und alle Bürger, deren Stimme den Beschluss
Gefasst. Wie? Wartest du auf bessre Bürgen noch? (958 ff.)

Hier ist man wenigstens noch stolz darauf, Freiheit nicht nur propagiert zu haben, sondern für die Missionierten, wenn sie wegen der Folgen herbeizufliehen gezwungen sind, auch etwas zu tun. Wer hat denn freiheitsliebende Bürger gegen Assad mit Waffen versorgt (was nach Auffassung des Staatsrechters Reinhard Merkel ein Verbrechen war)? Nun sendet der syrische Krieg Flüchtlinge aus, und wir müssen reagieren.

Die Argeier sind zum Geben bereit, deshalb auch die ägyptischen Töchter. Sie betonen am Ende wie schon am Anfang ihre Einsicht, dass sie als Fremde im fremden Land Rücksicht nehmen müssen. Nicht nur beim Flehen um Asyl, sondern auch nach der Asylgewährung:

[...] Ist doch jeder bereit,
Zu tadeln und zu schmähn,
Wer ihm fremd ist. (973 ff.)

Der Vater unterstreicht es, fordert die Töchter besonders zur Sittsamkeit auf. Er weiß aber auch, dass es nicht leicht ist, im fremden Land Rücksicht zu nehmen:

Und dies nun schreibt ins Herz zu dem, was ihr schon schriebt
An vielen andern Lehren, die der Vater gab:
Dir unbekanntes Volk durchschaun – dazu braucht’s Zeit. (991 ff.)

Ohne dass er es sagt, ist dies natürlich auch eine Lehre für Asylgeber. Ja, man muss die Angst beider Seiten ernst nehmen. Nur dass die Flüchtlinge viel mehr Grund zur Angst haben.

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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