Aller Anfang ist leicht

Aufbruch Yanis Varoufakis gründet mit anderen europäischen Intellektuellen eine neue Bewegung. Kann sie die Verhältnisse ändern?
Ausgabe 06/2016

Yanis Varoufakis, der frühere griechische Finanzminister, kommt schnell zur Sache. „Wir richten uns an jene“, spricht er gleich zu Beginn seiner Eröffnungsrede in der Berliner Volksbühne ein zentrales Motiv aus, „die nicht mehr an die Politik glauben.“ Und er fährt fort, dass das über alle Lager hinweg geschehen solle. In Europa sei die Demokratie „hinweggewaschen“ worden, deshalb brauche es jetzt eine Demokratiebewegung, um den Zerfall der EU zu verhindern. Sonst, so mahnt er, würden uns unsere Kinder später einmal fragen: „Was habt ihr damals getan?“ Wie wir selbst unsere Eltern fragten, die Hitler erlebt hatten. Dass der dramatische Appell auf dem Kongress zur Gründung des Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) nicht überzogen ist, begreift man erst später.

Zunächst fragt man sich, ob das denn glücken kann, eine linke europäische Basisbewegung von oben durch den Appell namhafter Politiker und Intellektueller ins Leben zu rufen. Varoufakis musste die Frage häufig beantworten. Dem Neuen Deutschland sagte er: „Nichts wird vor dem 9. Februar beschlossen. Wir werden alle gemeinsam überlegen, wie wir die paneuropäische Demokratiebewegung gestalten.“ Ein Manifest der Bewegung wurde allerdings schon Anfang Februar veröffentlicht. Aber es ist wahr, dass zentrale Fragen darin offenbleiben, besonders die der Währung. Einige, wie Oskar Lafontaine, wollen zu nationalen Währungen zurück. Varoufakis scheint ein verändertes Euro-System zu bevorzugen.

Die Bewegung jedenfalls soll gesamteuropäisch sein, und so kann sie gar nicht anders als durch den Aufruf von Europäern verschiedener Nationalitäten entstehen. Toni Negri, Slavoj Žižek, Saskia Sassen und viele andere Prominente nehmen teil. Dem Manifest gelingt im Übrigen das Kunststück, Aussagen zu treffen, denen niemand, der links ist, widersprechen wird. Sie werden als „gemeinsame Überlegung“ veröffentlicht, die aber alles andere als selbstverständlich ist.

Auftakt in Paris

Niemand kann zwar dagegen sein, dass eine demokratische EU gefordert wird, und wer wird die Zuspitzung rügen, dass Demokratie noch gar nicht vorhanden sei und in der EU erst noch hervorgebracht werden müsse? Als die Gruppe DiEM25 sich, noch ohne den Namen, im vorigen Jahr in Paris konstituierte, hieß es nur, die europäischen Verträge müssten neu ausgehandelt werden. Damals stand sie noch ganz unter dem Schock der „Zerschlagung des Athener Frühlings“, wie das von Oskar Lafontaine und Jean-Luc Mélenchon mitunterzeichnete Papier „Ein Plan B für Europa“ formulierte. Über den Skandal, dass es unmöglich gemacht wurde, die Europa von Deutschland auferlegte Austeritätspolitik zu überprüfen, reichte die Erregung nicht weit hinaus. Jetzt ist dieser Ökonomismus, der die Reichweite der Bewegung begrenzt hätte, überwunden: „Die EU wird demokratisiert werden – oder sie wird zerfallen!“ Das ganze Manifest dreht sich so sehr um das „einzige, radikale Ziel“ Demokratie, dass es auf die Forderung einer europäischen verfassunggebenden Versammlung, die spätestens in zwei Jahren stattfinden soll, hinausläuft.

Diese Stoßrichtung überrascht zwar nicht, auch wenn der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold hier schon widersprach – ganz undemokratisch, schrieb er Varoufakis, sei die EU doch nicht verfasst, deshalb sei eher auf schrittweise Reformen zu setzen. Auf der Veranstaltung stieß Gesine Schwan ins selbe Horn, wobei sie gleichzeitig zu erkennen gab, dass sie mit der Bewegung von außen schon kooperieren wird. Nicht unbedingt konnte man aber die Radikalität erwarten, mit der das Manifest sich die Haltung Julian Assanges, der ebenfalls dabei ist, zu eigen macht: Die Entstehung aller europäischen Entscheidungen soll öffentlich verfolgt werden können; Treffen des Europäischen Rats, der EZB, der Eurogruppe müssten im Internet live übertragen, die Sitzungsprotokolle wenige Wochen später veröffentlicht werden. Auch alle Dokumente zu den TTIP-Verhandlungen seien offenzulegen. Es ist keine antikapitalistische Radikalität, die man in dem Manifest findet. Vom Wirtschaftswachstum heißt es zum Beispiel nur, es müsse mit den Bedürfnissen der Menschen im Einklang und mit der Ökologie im Gleichgewicht stehen. Aber Varoufakis hat ja schon früher gesagt, auch in seiner marxistischen Perspektive gehe es hier und jetzt eher darum, den Kapitalismus aus der Krise zu holen, weil die Folgen eines Zusammenbruchs zu diesem Zeitpunkt nur verheerend sein könnten.

Was er dabei im Auge hat, wird sehr deutlich: die Faschismusgefahr. Sie spielt auch im jetzt veröffentlichten Manifest eine zentrale Rolle. Die „Angst“ der Menschen wird beschworen und dass man alles tun müsse, sie nicht in die Hände faschistischer Rattenfänger fallen zu lassen. Im ND-Interview sagt Varoufakis: „Die Aufgabe der Linken war es schon immer, Narrative zu schaffen, die die Mittelschicht davor schützten, eine Geisel der Faschisten und Nazis zu werden. Wer zu uns kommt, geht nicht zu Pegida.“ Was muss man dann aber tun? Da sind er und seine Freunde wünschenswert klar. Der Angst vor den Flüchtlingen entgegenkommen? Nein, von da kommt die Angst nicht, auch wenn sie dorthin geleitet wird, ist die Diagnose. Was nach 1930 geschehen sei, dürfe sich nicht wiederholen. Es war damals die Wirtschaftskrise, die zur Angst und zum Faschismus führte, so würde es heute wieder sein und darüber muss man dann auch sprechen. Um „normale Menschen aus der Mittelschicht“ geht es, die eine vollkommen berechtigte „Angst um ihren eigenen Lebensstandard haben“. Umso weniger kann es dann aber, was die Flüchtlinge betrifft, irgendwelche Kompromisse geben. Er sei froh, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Grenzen geöffnet habe, so Varoufakis: „Jahrhundertelang haben wir Europäer die Welt besiedelt, wir haben kolonialisiert, wir haben Völker ausgerottet und wir haben quasi die Welt übernommen. Aber wissen Sie, was – die Demografie des Planeten hat sich verändert. Und Europa wird jetzt einfach zurückbesiedelt von Nicht-Europäern. Wir sollten das einfach akzeptieren.“

Diese gleißend klare Sprache ist wichtig, weil sie es Rechten verwehrt, in die linke Bewegung einzudringen, was schon die Nazis mit Erfolg taten – bereits im Parteinamen behaupteten sie ja, „sozialistisch“ zu sein. Ähnliches wird auch heute wieder versucht. Das Thema Flüchtlinge ist aber auch deshalb ein gutes Kriterium, weil es jeden auf irgendeine Weise betrifft. Tatsächlich wendet sich DiEM25 an die Anhänger verschiedenster Parteien, Sozialdemokraten, Linke, Grüne und auch Liberale – was nicht heißt, dass Blockupy oder die Gewerkschaften ungenannt blieben. Für einen Demokraten kann Demokratie nicht an der Landesgrenze aufhören, sagt ein Redner. Es gehe darum, die Rückkehr zu Nationalstaaten und zu neuen Mauern zu verhindern, so Varoufakis. Man begreift, warum gerade die Flüchtlingskrise zum Kairos der Gründung einer linken europäischen Bewegung werden kann. Sie ist es, von der die Europaidee entschieden eingefordert wird, genau in dem Moment, wo sie sich bewähren muss.

Traditionsbezug als Stärke

Als Partei will sich DiEM25 auch gar nicht aufstellen. Von einer Bewegung neuen Typs ist die Rede. So neu ist es aber vielleicht nicht, was die Initiatoren versuchen. In der Volksbühne sprechen überwiegend Parteimitglieder und Europaabgeordnete, von Podemos, den Grünen und anderen. Nessa Childers, eine Unabhängige, die vom Wahlrecht begünstigt ins irische Parlament einziehen konnte, schlägt vor, auch bei der Wahl zum Europaparlament die Kandidatur Unabhängiger zu begünstigen. Im Grunde hat man den Eindruck, man höre denen zu, die in diesem Parlament eine bestimmte Fraktion bilden, und ihren nationalen Parteifreunden wie den Bürgermeistern von Barcelona und La Coruña. Daher bleibt die Frage: Können sich diese überwiegend sehr jungen Europapolitiker eine Basis in den Bevölkerungen der europäischen Länder verschaffen? Auch die Linkenvorsitzende Katja Kipping, die ihre Rede nutzt, um das Grundeinkommen zu fordern, und der IG Metaller Hans-Jürgen Urban gehören der politischen Klasse an.

Doch man muss gehört haben, welche Idee vom Verhältnis der obersten Ebene europäischer Entscheidungen zur „Souveränität“ der Elemente, worunter nicht nur die Nationen verstanden werden, sich in verschiedenen Reden abzeichnet. Sven Giegold hatte zwar geschrieben, man könne nicht für Europa eintreten und zugleich für souveräne Nationen. Dem ist aber nicht so. Sie treten ja für noch mehr ein, souveräne Regionen wie Katalonien zum Beispiel und „Rebellenstädte“ wie im Spanischen Bürgerkrieg. Letztendlich glaubt man die Demokratievorstellung der Pariser Kommune von 1871 wiederzuerkennen – deren Vertreter hatten für Frankreich einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, in dem das Land zur Föderation freier Kommunen wird. Varoufakis spricht von der „Souveränität der Polis“.

Überhaupt ist der Traditionsbezug eine Stärke der Bewegung. Miguel Urbán Crespo von Podemos weist darauf hin, dass das Mittelmeer seinen Namen aus gutem Grund trägt, es heißt ja nicht „Südmeer“ – auch wenn dort eine Grenze gegen afrikanische Flüchtlinge gezogen wird –, nein, es ist die Mitte, und alle Anrainer gehören dazu. Wie sehr ist unsere Zivilisation in mancher Hinsicht hinter die antike römische zurückgefallen!

Diese Bewegung betont, dass sie radikal sei, obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerungen zu sich hinüberziehen will. Ist das ein Widerspruch? Wäre es radikaler, möglichst viel kaputtzumachen? Bestimmt nicht. Über Fanatismus sagt Varoufakis, er sei die Verdoppelung der Anstrengungen, weil man wisse, dass man gescheitert sei. Denen, die scheitern, soll aber Mut gemacht werden. Das ist der Schlüssel, und so scheut Varoufakis sich nicht, zu einer bekannten biblischen Metapher zu greifen: „Einige Lichtstrahlen können die Dunkelheit in den europäischen Institutionen zerstreuen.“

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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