An die Zeit nach dem Zerfall denken!

Die Buchmacher Fabian Scheidler fordert in seinem Buch, im Heutigen nach den Vorboten des Kommenden zu suchen, um für den Kollaps gerüstet zu sein
Ausgabe 43/2017
Kritik an der vorhandenen Ökonomie und Utopie für die Zukunft: „Chaos“
Kritik an der vorhandenen Ökonomie und Utopie für die Zukunft: „Chaos“

Foto: Ipon/Imago

Nach seinem viel gelesenen Buch Ende der Megamaschine hat Fabian Scheidler nun mit Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen nachgelegt. Hier skizziert er auf Basis einer schonungslosen Analyse der ökologischen Krise, des taumelnden kapitalistischen Systems und seiner „tödlichen Ordnungsversuche“ Wege zum „Aufbau einer Ökonomie, die auf Gemeinwohl statt Profit, auf gerechte Verteilung statt auf endloses Wachstum setzt“. In Scheidlers Perspektive besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Frage, wie eine neue Gesamtordnung aussehen könnte, und der Frage des Übergangs zu ihr. Der Übergang birgt nämlich Gefahr, wenn sein Ausgangspunkt der Zerfall eines so komplexen Systems ist, wie wir es haben. Ob der Zerfall „katastrophisch oder glimpflich“ verlaufe, hänge davon ab, ob und wie es gelinge, die Subsysteme – Wasserversorgung, Elektrizitätsnetz, Transport, Kommunikation und so weiter – neu zu organisieren. Diese Fähigkeit wird am ehesten dann vorhanden sein, wenn alternatives Wissen und alternative Infrastrukturen ansatzweise schon jetzt, und von Ort zu Ort je verschieden, entwickelt werden.

Wie auf die Verschiedenheit der Orte setzt er auf die „Kraft der kleinen Handlungen“. Ein Beispiel ist die Initiative „essbare Städte“, in der Menschen aller Klassen und Schichten zusammenkommen, um Gemüsebeete zu pflanzen: Sie gibt ihnen das Gefühl, dass Veränderung möglich ist, weckt ein neues regionales Selbstbewusstsein, und schafft alternative Ortszentren für Feste und Reden. Schon 700 solcher Incredible-Edible-Initiativen gibt es weltweit. Der zweifellos richtige Grundgedanke ist, dass es keine gesellschaftliche Umwälzung ohne gleichzeitige Umwälzung der beteiligten Menschen geben kann.

Im Großen geht es darum, den „versteinerten Eigentumsblock des römischen Rechts aufzubrechen“, hinter dem sich „ein komplexes Universum menschlicher Beziehungen“ verberge. Dabei sei Staatseigentum keine Lösung, weil es statt der Eigentumsform nur den Eigentümer verändere. Zustimmend diskutiert Scheidler jüngste Überlegungen Sahra Wagenknechts, dass sich Personengesellschaften, sobald sie eine bestimmte Größe überschreiten, zu selbstgeführten „Mitarbeitergesellschaften“ werden sollen. Scheidler kritisiert aber, dass Wagenknecht „den globalen ökologischen Auswirkungen wirtschaftlichen Handelns kaum Rechnung“ trage. Zukunftsfähige ökonomische Institutionen müssten die „globalen Zusammenhänge“ in ihrer inneren Struktur berücksichtigen. Hier sieht man, dass Lösungen vor Ort nicht auf Kosten systemischer Lösungen erkundet werden.

Bei der Frage „Markt oder nicht Markt“ plädiert er für „Lösungen, die an die jeweils spezifische Geschichte und Situation bestimmter Menschen in einer bestimmten Region zu einem bestimmten Zeitpunkt angepasst sind“. Was die Reform des Geldes angeht, will er nicht nur klären, wer es schöpft, sondern fragt vor allem, „welchen Zwecken Geld überhaupt dienen soll, wem es wofür bereitgestellt wird und wer nach welchen Kriterien darüber entscheidet“. Der Komplex „Markt und Geld“ führt ihn zuletzt zur Erörterung der ökonomischen Geschichte und Gegenwart Chinas. Er zeigt, dass es eine konstitutive Eigenschaft der Kapitallogik, nämlich die Ungetrenntheit von Markt und Staat, in China noch immer nicht gibt.

Das sind nur wenige Aspekte eines Buches, das in seiner synthetischen und konzeptionellen Kraft beeindruckend ist; es gehört in die Hand aller Kritiker der vorhandenen Ökonomie.

Info

Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen Fabian Scheidler Promedia Verlag 2017, 240 S., 17,90 €

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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