Angebrannte Bilder

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Eins der beiden Konzerte für großes Orchester, dem Thema Utopie gewidmet, war gestern Abend in der Philharmonie zu hören. Das zweite folgt morgen. Werke von Heinz Holliger, der zugleich die Staatskapelle Weimar dirigierte, Bernd Alois Zimmermann und Thomas Kessler wurden gegeben. Von den beiden Erstgenannten standen ältere Werke auf dem Programm, aus den Jahren 1985 beziehungsweise 1970, und sie waren nicht geschrieben worden, um das Thema Utopie musikalisch aufzugreifen. Das Werk des Dritten jedoch ist "Utopia" betitelt und wurde erst im letzten Jahr uraufgeführt.

Wenn Hollinger nicht vom Wort Utopie her komponierte, ist es doch korrekt, wenn das Programmbuch ihn von daher zu interpretieren sucht, einfach weil jedes Kunstwerk utopischen Charakter hat, egal ob es sich "engagiert" oder Utopie "nur" in die Werkkonstruktion einschreibt. Das ist Adornos Position, die ich einleuchtend finde. Was engagierte und autonome Kunst verbindet, ist, dass beide sich unmittelbar am Ideal messen, worin immer dieses gesehen wird; sie nehmen nicht hin, dass es nicht da ist. In solcher Perspektive beleuchten sie die schlechte Gegenwart oder nehmen die Zukunft vorweg. Die gute Zukunft, die niemand kennt, lässt autonome Kunst wenigstens formal vorscheinen. Denn in der Form kann gestaltet werden, was jetzt schon wahr ist: dass das Gute einen Ort hat; dass es möglich ist. Diesen Ort, griechisch topos, meint das Wort Utopie.

Tonscherben hat Holliger sein 15minütiges Stück genannt, im Untertitel "Orchester-Fragmente in memoriam David Rokeah [1916-1985]". Mit Rokeah, einem israelischen Dichter, war er befreundet, und das Stück kann als Niederschlag einer Zusammenarbeit gelten: Rokeah, der 1983 seiner Aufführung eines Oboenkonzerts von Bruno Maderna beiwohnte, war davon so beeindruckt, dass es ihn zu zwei neuen Gedichtzyklen inspirierte, den 23 Etüden und den 8 Etüden; nachdem Holliger 1985 Rokeahs Lesung der 8 Etüden hörte, antwortete er seinerseits mit den Tonscherben. Man kann dies Werk sicher nicht auf Rokeahs "Frage" allein zurückführen. Es ist in starkem Maß eine Wiederaufnahme der knappen, äußerst verdichteten "Orchesterstücke" aus der Frühzeit von Schönberg, Webern und Berg. Auch denkt man bei dem Wort Tonscherben an Eliot: "These fragments I have shored against my ruins." Vielleicht greifen sie zudem auf die 8 Etüden zurück, die im Programmbuch leider nicht abgedruckt sind. Was man aber hören kann, ist die Bezugnahme auf Maderna. Es ist, als wollte Holliger den expressionistischen, oft katastrophischen Gestus jener "Orchesterstücke" durch Madernas betörende Paradiesträume zum Stillstand bringen.

Einmal zwar nur hat man den Eindruck, Musik in Madernas Stil direkt zu hören, doch kommt von daher wohl die Gesamtform, die darin besteht, kantige, an Schönberg und Webern erinnernde Fragmente mit eher ruhigen, weich zerfließenden Passagen abwechseln oder beides sich durchdringen zu lassen. Kantig und weich, so standen sich schon die Themen der Kopfsätze in der klassischen Symphonie gegenüber; daran lässt sich noch einmal zeigen, wie die musikalische Vorstellung von Zeit eine andere geworden ist. Denn in moderner Musik werden Themen nicht erst vorgestellt und dann durchgeführt, sondern beides geschieht gleichzeitig. Und etwas wie Reprise, die Konvention, Themen unverändert wiederkehren zu lassen, als könnte am Anfang schon klar sein, was am Ende herauskommen muss, fehlt ganz.

Doch was macht gerade Madernas Musik so faszinierend? Sie scheint zu träumen; wenn man ihr zuhört, weiß man nicht mehr, ob man wach ist oder schläft. Es ist eine CD im Handel, die drei Orcherwerke vereint, Aura, Biogramma und Quadrivium, dirigiert von Sinopoli, der übrigens ähnlich komponiert hat. An ihr könnte gezeigt werden, worum es geht. Biogramma beginnt mit verstreuten Sprüngen, punktuellen Ereignissen, dann ist es, als würde sich der Boden auftun, und der Klangteppich, der plötzlich erscheint, zugleich aber so, als wäre immer klar gewesen, dass er kommen würde, ist nicht von dieser Welt. Er ruht in Frieden. Wie im Traum steht die Zeit still, so viel auch passiert. Es wäre tödlich, sich solcher Musik auszuliefern, denn die Realität ist nicht danach. Holliger zitiert sie zwar, doch am Ende steht schattenhaft ein Trauermarsch.

Wenn er selbst ihn beschreibt, wird deutlich, dass er an Schlimmeres als Begräbnisse denkt: "Zerbrochene Worte, angebrannte Bilder, verkohlte Erinnerungen, Menschengestalten in graue Mauern eingebrannt, zersplitterte Klänge von Zymbeln". So hält ein autonomes Kunstwerk an Utopie fest. Die "in Mauern eingebrannten Menschengestalten" lassen an Hiroshima denken; was aber dagegen steht, ist nicht bloß ein Atomwaffensperrvertrag, es sind "Klänge von Zymbeln". Zersplittert oder nicht, sie sind da, wie der Klangteppich bei Maderna.

Der Klang des Möglichen

Thomas Kesslers Utopia aus dem Jahr 2009 ist "für großes Sinfonieorchester mit multipler Live-Elektronik" geschrieben. Die Worte multipel und Live sagen aus, dass er sich von bisheriger elektronischer Musik abgrenzen will: In dieser, schreibt er, setze die elektronische Veränderung der Klänge nicht bei dem an, was der einzelne Musiker gespielt hat, sondern "nur der Gesamtklang" wird "einer rentabilisierten Klangproduktion unterworfen". "Auch wenn diese Ideologie einige großartige Werke hervorgebracht hat, steckt darin der nicht zu übersehende Gedanke, dass hier ein Klangregisseur an Mischpult und Computer alles in seiner Hand und unter seiner Kontrolle haben soll, selbst wenn er nie als Musiker in einem Orchester gespielt hat." In Utopia hingegen "wird jedes einzelne traditionelle Orchesterinstrument mit einem individuellen live-elektronischen Setup (Synthesizer, Laptop, Fußpedal etc. verbunden und bildet damit eine autonome Einheit mit eigenem Lautsprecher". Aus dem unbeherrschten Zusammenspiel der Autonomen soll "ein völlig neuer, noch nie gehörter Gesamtklang entstehen". Das erinnert an die Vision einer anderen Gesellschaft, in der sich freie Individuen zur Assoziation zusammenfinden und füreinander da sind. Man kann deshalb von engagierter Kunst sprechen, auch wenn Kessler den Gedanken zurückweist ("Mögen andere fragen: Wieviel Zukunft braucht der Mensch? Ich frage: Wieviel Zukunft braucht die Musik?"). Ein sicheres Zeichen ist der didaktische Charakter des Werkes. Die Klänge und Ereignisse bleiben einfach, so dass man gut verfolgen kann, wie sie elektronisch verändert werden, und die Spieler beim Improvisieren nicht überfordert werden. Es scheint, dass Phasen des Orchesterspiels von solchen abgelöst werden, in denen je einzelne Spieler den Klang und Verlauf ihres Spiels elektronisch interpretieren.

Hier ist aber erst einmal zu fragen, warum der Klang überhaupt elektronisch sein muss. Zufallsereignisse, mit gewöhnlichen Instrumenten gespielt, hat es doch schon vor Jahrzehnten gegeben. Ja, man könnte sich die Aufführung eines klassischen Klavierkonzerts vorstellen, bei der alle Spieler, nicht nur der Pianist, zur freien "Kadenz" berechtigt sind. Eine allgemeine Antwort wäre, dass elektronische Kunst den Anspruch anmeldet, mehr als ein "Handwerk" zu sein. Musik ist auch sonst keine "Kleinbürger"kunst: Hier zeigt sie es selbst, indem sie ein industrielles Verfahren einbezieht. Aber das ist nicht alles. Sondern wie gewohnte Instrumente den Klang natürlicher Stimmen und Geräusche sublimieren, so entstellt und interpretiert der elektronische Klang seinen eigenen industriellen Hintergrund. Daher ist auch ihm das Utopische immer schon eingeschrieben. Als ich mich gestern fragte, ob ich aus solchem Klang einen "Sinn" heraushöre, kam ich darauf, dass es der Klang des Möglichen sei. Nicht so aber, dass vorweggenommen wird, was eintreten könnte, sondern so, dass danach g e f r a g t wird. Der elektronische Klang ist wie eine neue Frage, entwickelt aus der vom Orchester vorausgeschickten Antwort. Ich komme auch deshalb darauf, weil ich es ähnlich bei Hans Werner Henze gelesen habe. Für seinen Tristan aus dem Jahr 1973, "Preludes für Klavier, Tonbänder und Orchester", ist Henze vom Wagners Musik ausgegangen, hat sie elektronisch analysiert und verändert und dadurch den Raum geschaffen, in dem sich seine eigene Instrumentalmusik reagierend bewegt. Man hört beides gleichzeitig, die elektronische Frage und die Antwort in gewohnten Klängen.

"Sagenhaft" wäre es, wenn Henzes und Kesslers Verfahren zusammengeführt werden könnten: derart, dass Kesslers Spieler nicht nur vorgeschriebenen Orchesterklang zur elektronischen Frage verändern, sondern diese im nächsten Schritt auch selbst beantworten, mit Orchesterklang wieder, diesmal ungeplantem. Wenn ich Komponist wäre, würde ich davon träumen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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