1. Urban Gardening ist nichts, was die Stadt besser funktionieren ließe, auch gerade nicht in ökologischer Hinsicht. Gärten und Parks gibt es schon heute in den Städten. Wenn man statt des einen oder andern Gartens einen Acker hat, bleibt die Umweltbilanz der Stadt unverändert.
2. Urban Gardening ist kein Beitrag zum ökologischen Funktionieren – sondern zum ökologischen Sinn.
3. Diese neuen Äcker würden ja nicht Nischen besetzen, die niemand beachtet, sondern wollen beachtet werden. Sie führen zu einem anderen Stadtbild. Die Stadt würde sich rastern wie ein Schachbrett aus weißen Quadraten (Gärten, Äcker) und schwarzen (Gebäude), nur freilich in anderen, nicht platt geometrischen Formen. Die Gestalt des Archipels der Äcker würde von Stadt zu Stadt variieren.
4. Ökologie als Sinn: Seht her, wir wohnen zwar in der Stadt, von der man gesagt hat, sie sei die „Megamaschine“ – das Antiökologische. Aber das glauben wir nicht, sondern stellen aus, dass wir als Ökologen in ihr leben. Flaneure, ihr könnt von der Wärmedämmung unserer Häuser kein Foto machen. Doch seht den Acker dazwischen! Der ist ein sichtbares Zeichen.
5. Es ist nicht das erste Mal, dass Natursinn in der Stadt Flagge zeigt. Im 19. Jahrhundert geschah das ständig, damals kam der Blumentopf im Wohnzimmer auf. Am Ende kreierte man den „Jugendstil“ mit pflanzlichen gusseisernen Ornamenten. Das war ein anderer Natursinn als heute. Im 19. Jahrhundert erschien die Natur als eine Vergangenheit, die man zu übersteigen und aufzubewahren, kurz „aufzuheben“ hatte, wovon auch die Erfindung der Zoologischen Gärten zeugt. Heute wissen wir, Versöhnung mit der Natur ist unsere Zukunft, unser Fortschritt. Dieser neue Natursinn spielte, als er in den 1960er Jahren aufkam, zunächst eine periphere Rolle im Sinnhaushalt der Städte und ihrer Bewohner. Die Mehrheit war lange gegen ihn. Das hat sich geändert. Urban Gardening gehört zu den Zeichen, die anzeigen, dass die ökologische Besetzung des Sinnzentrums geschieht.
6. Am Stadt-Land-Gegensatz ändert sich gar nichts. Wenn unter dem Ländlichen das Periphere, unter der Stadt das Zentrum verstanden wird, dann kann nicht gesagt werden, dass mit Urban Gardening die Peripherie das Zentrum besetze. Es geht nur um die Stadt. Um ihren Sinn und damit um ihr Aussehen.
7. Die Stadt teilt sich selbst wieder in Zentrum und Peripherie. Der Sinn, den sich eine Stadt gibt, ist ihr Zentrum. Wenn der Sinn ökologisch besetzt werden soll, muss das Stadtzentrum besetzt werden. Wo liegt es und was verstehen wir darunter? In vielen deutschen Städten die „Fußgängerzone“ mit Kaufhäusern und Eisdiele – wenn man das noch einen Sinn nennen will. In einer Stadt wie Paris sind mehrere Dinge zentral: die historisch ältesten Zeichen auf den Seine-Inseln und um sie herum (Notre Dame, Louvre); die den Fortschritt symbolisierende Straße (Axe historique, der vom Louvre aus über Napoleons Triumphbogen zum Wolkenkratzer-Vorort La Défense führt); dann alles, worin Paris im Ganzen Geschichte ist (als Stadt des 19. Jahrhunderts).
8. Eine Besetzung solchen Sinns durch Urban Gardening wird schwerfallen. Ist es überhaupt möglich, solche Kompaktheit noch einmal anders zu rastern? Doch es wäre nicht gänzlich neu. Denn vergleichbar ist das Eindringen moderner Architektur. Bleiben wir in Paris: Das Moderne ist nicht nur nach La Défense ausgelagert, sondern auch über die ganze Stadt verteilt. Der Archipel der Moderne ist ins Ältere so eingefügt, dass Alt und Neu kommunizieren.
9. Dies erinnert uns, dass es zwei grundverschiedene Weisen der Einfügung gibt, die anschlussfähige und die polemische. Moderne Architektur war in ihrem ersten Stadium polemisch. Stellte sich als Fremdkörper zwischen Häuser, die zu ihr nicht passten. Sie gab pure Geometrie zu sehen, als Feind des Ornamentalen. Die noch modernere Architektur ist aber anschlussfähig. Nimmt Maß an älterer Architektur in der Nähe. So variiert die Grande Arche de la Défense, ein torförmiges Hochhaus, den Triumphbogen. Das neue Hôpital Européenne nahe der Metro Balard folgt kommentierend dem Bogen einer ganz alten Straße, die man nicht begradigt hat.
10. Urban Gardening wird vielleicht dieselben Stadien durchlaufen, erst das Polemische und dann, wenn es nämlich gesiegt hat, die Anschlussfähigkeit. Das Wichtigste ist aber, dass hier überhaupt ein Streit um den Sinn ausgetragen wird. Denn bisher kennen wir nur die Ökologie der Messdaten – Feinstaub, Biomasse, CO2-Menge. Die kann nicht hegemonial werden.
Das Thema Die Zukunft der Städte werden wir in den kommenden Wochen in der Zeitung und im Netz weiter verfolgen. Durch einen Klick auf das Logo gelangen Sie zum Freitag-Dossier.
Kommentare 12
Ähm... ist es in Berlin so wichtig, wie Paris neu gestaltet wird? Ich meine, ist es nicht wichtiger, ob/wie Berlin neu gestaltet wird?
Entschuldigen Sie, daß ich jetzt erst antworte. - Ich wollte nicht darstellen, wie Berlin oder wie Paris neu gestaltet werden sollte, sondern nur klären, um was für eine Art Neugestaltung es sich bei Urban Gardening überhaupt handelt, handeln würde. Also was Urban Gardening überhaupt "ist". Ich konnte das schlecht an Berlin veranschaulichen, der Stadt, in der ich selbst lebe. Denn erstens hätte sich das wirklich wie ein Umbauprogramm lesen müssen, das ich aber an dieser Stelle gar nicht geben kann. Das Zweite hängt damit zusammen: Wenn man wirklich umbauen wollte, wäre das in Berlin nicht so zugespitzt wie anderswo. Denn Berlin ist aus einer Reihe von Substädten zusammengesetzt (man kann es fast mit dem etwa gleich großen Ruhrgebiet vergleichen), wo es an manchen Nahtstellen gar nicht schwer wäre, dafür aber auch gar nicht auffallen würde, wollte man da "Äcker" anlegen. Ich möchte meinen, es gebe solche "Äcker" in Berlin sowieso schon, wie wahrscheinlich auch im Ruhrgebiet, und sie seien gar nichts Besonderes. Damit will ich nicht sagen, daß es nicht lohnend wäre, für Berlin ein Urban Gardening-Programm zu entwickeln, nur müßte man dabei eben bereits von den Besonderheiten gerade dieser Stadt ausgehen. Mein Thema war Urban Gardening im Allgemeinen. Da schien es mir sinnvoller, die Sache an Paris zu veranschaulichen. Paris ist ebenso wie Berlin, wenn nicht noch mehr, eine repräsentative Metropole, Paris hat aber im Unterschied zu Berlin eine relativ homogene Stadtstruktur: Stadt des 19. Jahrhundert, unterbrochen durch Einsprengsel avantgardistischer Architektur. Diese Einsprengsel regen zugleich dazu an, sich jene anderen Einsprengsel und deren Struktur vorstellen, zu denen es kommen könnte, wenn Urban Gardening realisiert würde.
Lieber Michael, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich freue mich auf Ihre Antwort. :) Ich kenne weder Berlin noch Paris so gut wie Sie und daher war Ihre Logik für mich erst nicht nachvollziehbar. Jetzt kann ich Ihren Gedankengang viel besser verstehen und ich stimme Ihnen zu... es ist sehr interessant, wie Sie die Stadtstrukturen vergleichen, ich habe es mir bildhaft vorgestellt.
Archipel der Äcker oder doch Hoffnung auf Besserung
Eine kleine Ergänzung und ein wenig Widerspruch zu Michael Jägers Thesen rund um das urbane Gärtnern.
Ich will mich mit Michael Jäger nicht um Begriffsdefinitionen streiten und auch nicht in Abrede stellen, dass an jeder seiner Thesen viel dran ist. Für den durchaus ironischen Titel des Artikels kann er ja auch nur mittelbar etwas. Thesen sind aber immer für Widersprüche gut.
1.Urban Gardening lässt die Stadt nicht besser funktionieren. -Widerspruch: Gäbe es Urban Gardening als verbreitete und anerkannte Methode in der Stadtplanung und Quartierstruktur, durchzöge sich die klassische europäische Stadt mit einem verbundenen Netz an Grün, neben Gärten und Parks, horizontal wie vertikal. Das konventionelle Grün der Städte, in den Zentren sind es ja eher Punkte als Flächen, in der Peripherie oder an traditioneller Stelle, die Parks mit vielfältigen Funktionen, werden dadurch ideal und sinnvoll ergänzt.
Jogger wollen laufen, am Feierabend soll gegrillt werden, irgendwo bewegt eine Minderheit ein paar Pferde, am Pflasterstrand und am Wannsee lockt die Badeanstalt, verborgene Nischen brauchen Liebende und Drücker gleichermaßen. Diese „Funktionen“, obzwar ebenfalls vielfach durch ökonomischen Druck bedroht, -Besitz an Innenstadtflächen ist eine Lizenz zum Gelddrucken-, sind mit dem Urban Gardening nicht obsolet.
Die praktisch überall einziehende Natur verbesserte aber das Mikroklima (Staub, Luftfeuchte, Temperatur) ganzer Straßenzüge und der küvettenartigen Hinterhöfe. Sie dient gleichzeitg der sozialen Bindung der Bewohner im Quartier. Was macht der Mensch wenn er sesshaft wird? Er pflanzt und pflückt sich ein paar Beeren oder erntet gelbe Rüben. Er macht das plötzlich wieder vor seiner Haustüre und da, wo es für gewöhnliche Gärten keinen geeigneten Platz gibt oder dieser zu teuer wäre.
Die bisherigen Parks und Grünflächen haben, es muss leider deutlich gesagt werden, schon 100-200 Meter weiter, in einer der Straßenschluchten oder in den Kiezen mit fast 100% Versiegelung keine Wirkung mehr, sofern keine Windbahn existiert oder ein Gefälle für den Kaltluftabstrom sorgt. - Berliner, merkt euch das!
Urban Gardening ist also mehr, als Gärten zu Äckern zu wandeln. Es funktioniert kleinteilig! Schon ein großer Pflanzkübel auf dem Balkon, ein halber Quadratmeter entsiegelter Grund neben der Hinterhoftüre oder dem Hauseingang reichen, um nun die Umgebung zu ändern. - Das berichtete sogar der Freitag noch vor Jahresfrist.
2. Zustimmung, der ökologische Sinn ist Menschensinn, keine sinnhafte Natur. Wo, wenn nicht dort wo die meisten Menschen leben, sollte er sich auch entfalten dürfen. Ökologie heißt auch, dass sich der Mensch in seinem ureigensten Biotop, der Stadtkultur, wohl fühle und positiv gestimmt werde, noch mehr für sich zu tun, als nur vor dem Haus zu parken und die Tür hinter sich ins Schloss fallen zu lassen. In der bisher noch weitgehend funktionsgetrennten Stadt, -das wird zukünftig unnötig sein-, die alles aufteilt, vom Müll über die Arbeit bis zum Vergnügen, ist also das Stadtgärtnern ein wesentlicher Ansatz zur Rückeroberung des Sozialraumes als Reflex auf eine zunehmend enttäuschende Individualisierungs- und Identitätssuche durch Konsum.
Urban Gardening ist ein Ausdruck für das gewachsenes Verständnis von Natur bei jenen Menschen die den größten Abstand zu ihr, damit von der eigenen Herkunft, einhalten und eine Kulturleistung, die sich auf andere Bereiche auswirken kann. Synanthropie (Kulturfolge) setzt nämlich ein, und die ging in den letzten 250 Jahren immer vom urbanen Raum aus. Die Kultur zieht die Menschen und die Natur an!
Gerade in den Megacities und ihren Zwischenstadt-Landschaften, aus denen wachsende Anteile der Bevölkerung unter Umständen Wochen, Monate und Jahre nicht heraus kommen, weil das einfach zu viel Zeit kostet, wird das Urban Gardening auch als Teil der Versorgung wichtig werden.
Es war in Berlin, zu Krisen- und Kriegszeiten so, es war vor dem Zubau mit der Konsum- und Dienstleistungswirtschaft so. Die heute randständige Schrebersiedlung, die Nutztierhaltung in der Stadt, die Aufzucht der Rinder und Schweine des kleinen, städtischen Mannes (der urbanen XX, gender), nämlich Kaninchen, Tauben, Meerschweinchen und Hühner, sowie ein paar Ziegen und Schafe, sind Überreste und Umformungen dieses Selbstversorgungsgedankens. - Auf der Expo-2000 in Hannover präsentierten holländische Planer die Stadtkultur der Zukunft in 3-Ebenen und darunter rechneten sie auch die hängenden Gärten in den oberen Geschossen und die Kuh über der Nullebene.
3. Urban Gardening funktioniert dreidimensional. Der Stadtraum wird hier, anders als bisher, aber durchaus in Analogie zur guten Architekturplanung, nicht als bebaute Fläche, sondern als Raumeinheit betrachtet. Das ist ein Quantensprung in der Stadtbetrachtung, eine weitere echte Kulturleistung!
Bee keeping funktioniert auch in 12, 18, 36 und 72 Metern Höhe über der Null-Ebene. Das Urban Gardening ist klima- und sozialsensibel. Was auf den häufig kleinen Arealen, an Wänden, in Etagen und auf den Dächern gemacht wird, richtet sich nach lokalen und regionalen Bedarfen. - Die Megacities mit den weiten Wegen aus der Urbanisation säen bald anders aus, als es die Mittelstädte Europas tun werden! Auf dem Acker wächst nicht nur Kraut, sondern auch so manche Blüte, die weder im städtischen Grün, noch beim Eigentumsgarten eine Chance hätte. Urban Gardening ist weitgehend auch ein Spiel im öffentlichen Raum, der heute noch, manches Mal nur für eine einzige Funktion, z.B. Parken, versiegelt ist. Vor etwa 30 Jahren entdeckte man die Stadtbrache, Berlin war ein geborener Vorreiter, als ein Refugium der Artenvielfalt. Heute entdeckt man die Nische und den Mauervorsprung, den Straßenrand und einseitig genutzte Neben- und Dachflächen. Vorläufer gab es schon vor 120 Jahren.
4. Volle Zustimmung. Urban Gardening stärkt die soziale und ästhetische Kompetenz der Bürger, die durch den angestrengten, aber weitestgehend vergeblichen Individualismus der Konsumwelt verloren geht. Über das Gärtnern auf öffentlicher, oder einsehbarer und begehbarer privater Fläche, z.B. an Hauseingängen, auf Hinterhöfem, an Parkplätzen, Mülltonnenstellflächen, etc., muss man mit Nachbarn und Anwohnern reden, gemeinsam planen und dann Ideen ausführen.
5. Ob es zu einer Versöhnung mit der Natur reicht, das steht in den Sternen. Die wahre Gefährdung der Natur geschieht nicht in den Städten, sondern im Dazwischen und natürlich dort, wo sich Verwerter und Ausschlachter der Natur unbeobachtet und ungestört wähnen oder es tatsächlich sind. Am weitesten fortgeschritten übrigens da, wo eine Zivilgesellschaft noch entsteht oder schon wieder gescheitert ist (China, Nigeria). Die bisher eher (menschen)leeren Viertel der Erde bestimmen den Werdegang der Welt.
6. Zustimmung. Stadt und Land müssen gegensätzlich sein. Urban Gardening ist nicht Ackerbau und Waldwirtschaft in der Stadt und schon gar nicht Nature Reserve oder weltbewegende Klimazone, bzw., bisher noch unerschöpflich artenreiches Regenwaldbiotop.
7. Das Stadtzentrum der Megacities wird überschätzt! - Könnte ein Berliner mit voller Überzeugung sagen, wo das Zentrum seiner Stadt liegt? . Ich glaube, wenn er ehrlich ist, kann er nicht einmal Zentren und Peripherien recht auseinander halten. Noch mehr gilt das für die viel größeren Megacities. Eine Augentäuschung sind übrigens die vielen Skyline- und Perspektiv-Darstellungen der Städte, die der alltäglichen Praxis und Sehgewohnheit völlig widersprechen, aber von Überplanern (Speer, GM) bevorzugt werden. Sie helfen vielleicht diesen Planern und ihren Auftraggebern und sie sind zusätzliche ästhetische Angebote, die aus dem Stadtraum eine Art Großplastik machen.
Aber Großplastiken werden nicht bewohnt und belebt, auch wenn es tatsächlich gelingt, sie, wie die Denkmale des Historismus und Wilhelminismus, die Freiheitsstatue oder das Atomium, begehbar zu machen.
Paris mag eine historische „Fortschrittsachse“ etwa vom Rathaus und der Seine Insel mit dem Justizpalast, entlang der Rue Rivoli über die Champs Elysées, die Avv. Grand Armee und Charles de Gaulles, bis nach La Defense und zum Grande Arche haben. Aber gefeiert und gelebt wird auf den Boulevards und in den Vierteln, auch an der Oper Bastille. Jedes Arrondissement pflegt seine Eigenheiten und die Achse hat immer weniger davon, obwohl sich Millionen Touristen und Pariser auf ihr entlang bewegen. Die meisten jedoch im Verkehr auf der Straße und in der Unterwelt.
Das Begleitfoto zum Artikel fällt in die Kategorie der erwähnten Augentäuschungen die auch eine kategoriale Wahrnehmungsstörung verursachen. Plötzlich gibt es ein Dächermeer, einen „Brei“ und die beeindruckenden Groß-Skulpturen des Wirtschaftszentrums in der Ferne! Die Parks wirken wie grüne Lungen, sind es aber real nicht.
Das ist ein nicht alltäglicher und sehr unpraktischer Stadtanblick, ein Touristenblick, der gedanklich in die falsche Richtung führt.
Stadtplanung spricht in diesem Zusammenhang von „Körnigkeit“ und Urban Gardening gehört in die Kategorie des feinen Korns, wie die Eckkneipe, die Brasserie, das kommunale Kino, die Hinterhöfe, kleine Handwerker und Gewerbe, Läden an Läden, Schulen aller Art, und eben nicht ein Kaufhaus an Kaufhaus, Autohaus an Autohaus.
8. Städte wehren sich heftiger als Landräume gegen das besetzt und vernutzt werden! Tapfere Syrer, die Kommune, der rote Wedding, Hamburg Altona, die Kieze, im Widerspruch zur Stadtgroßplanung und zum Zyklus der Gentrifizierung, sogar zu Politik, zeigen das. Barrikaden auf dem Boulevard, die Proteste im Straßenraum, der dann nicht mehr als Verkehrsweg funktioniert, das Pflaster als Wurfgeschoß, die städtischen und bürgerlichen Möbel als trickreiche Hindernisse gegen den hohenzollernschen Erbprinzen und seine Generäle. - „Wir wollen ihn nicht haben, wir wollen ihn nicht haben, den Herrn Kartätschenprinz!“ - Die Kleinstadt ist dem Militär und einer Ordnungsmacht im Ernstfall völlig ausgeliefert, die Stadt niemals vollständig!
Urban Gardening hat auch Aspekte dieses Widerstandes und Stolzes der Bewohner, gegen die Überplanung und die Ästhetik des Geldes, gegen eine vorzügliche Fassadentechnik, die in der Architektur nicht einmal mehr die Baustoffe ernst nimmt, gegen die Verwertungs- und Verwurstungsinteressen, die die Städte nicht unterschiedlicher, sondern gleicher macht.
Ein Paradox: Wie bei der dezentralen Energieversorgung, wird Urban Gardening Arbeitsplätze und Selbstständigkeiten vor Ort schaffen, bei uns, und noch viel mehr da, wo es demnächst lebenswichtig werden kann, sich wieder selbst zu versorgen.
9. Hier, lieber Herr Jäger, feiern Sie die große Pariser Achse zu sehr ab. Fragten Sie die Pariser, so würden die ihrer, historisch und architektonisch durchaus begründeten, Ableitung nicht folgen!
Die Übergänge und Flächen sind nämlich aus der Über-Perspektive geplant, die sich dem Kunstgriff eher einfältiger Ästheten verdankt, die damit wenige und eingeschränkte Ziele verbanden. Sie wollten nämlich eine Kontinuität der Macht und Tradition symbolisieren. Vom Rathaus als Symbol der Revolution, über das napoleonische Achsendenken, bis zum letzten Sozialisten, der in großen Bögen dachte. „Paris ist alt“, und daher verträgt es auch eine solche Überplanung noch. Über den Dächern bewegen sich die meisten Pariser nur zu seltenen Gelegenheiten, es ist zu „Frantic“ da oben, und dann wünschen sie sich, das Hochhaus am Montparnasse stünde nicht, La Defense sähe anders aus und die individuelle Bewegung dort, über endlose Asphalt und Pflasterflächen sei ein wenig weniger mühsam, ein wenig erholsamer, ein wenig mehr, ohne dieses Ameisen- und Würstchen-Gefühl inmitten und entlang aller Monumentalität. Ein Klimaerlebnis, und nicht, am Morgen eine miefende Metrostation mit anschließendem Aufzug ins Reich der Dienstleister und Verwalter und am Abend eine Metrostation, hinaus nach St. Denis, nach Ivry oder Créteil.
10. Da müsste die These umgedreht werden. Wenn Urban Gardening zur Polemik anregt, dann haben es die Apostel bereits übertrieben und ein weiteres, vielversprechendes Element der Stadtkultur wäre, wie der Kiez am Prenzlberg, wie das Regierungsviertel zu Berlin, wie so manche andere Stelle im Nirwana der neuen Berliner Mitte, die doch nur als Großskulptur wirksam ist, aber innen drin, zwischen den Schluchten und Indoors sich reichlich hohl und zu 98% gewöhnlich und bundesrepublikanisch altbekannt anschauen und erleben lässt, -irgendwie immer eine Spur zu groß, zu glatt und zu bieder ausfällt-, zu einer reinen Methode ohne gute Gründe verkommen.
Was polemisch ist, das ist, einer guten Idee die Wirkungsmacht abzusprechen, bevor sie sich richtig austoben konnte.
Grüße
Christoph Leusch
Lieber Columbus, wenn meine Thesen zu solchen Überlegungen, bzw. ihrer Bekanntgabe, anregen, dann haben sie ihren Zweck erfüllt und ich freue mich. Mehr als daß an ihnen "etwas dran" ist, kann ich mir ja gar nicht wünschen. Was Sie schreiben, regt nun wiederum mich an und ich will darauf zurückkommen, am Montag oder Dienstag, wenn Sie dann hier noch mal vorbeischauen.
Grüße M.J.
Nur so war es auch gemeint. Ein Doppel, in dem eine positive, vielleicht utopische Fantasie ein wenig stärker aufscheint, wenn Tomate und Zucchini schon einmal gedanklich, neben dem Reinfarn und der Margerite, in den Kiez einwuchern.
Auf die Antworten bin ich gespannt.
Grüße an Sie und gutes
WE
Christoph Leusch
Lieber Columbus, ich gehe die Punkte Ihnen folgend in der Reihenfolge noch mal durch:
1. Ich hatte so gedacht: Urban Gardening (UG) verbessert die ökologischen Bedingungen, wenn es den Grünraum der Stadt vergrößert. Also: Die Vergrößerung des Grünraums, ob mit UG oder nicht, verbessert die ökologischen Bedingungen.
2. UG s t a t t "Individualisierungs- und Identitätssuche durch Konsum" - das ist sehr wichtig! Es wird ein Gefühl für die Notwendigkit geweckt, mit der Unendlichkeit der In-Wert-Setzungs-Kette zu brechen, d.h. nicht alles zur Ware zu machen; Vorlauf für eine Gesellschaft, die bewußt entscheidet, was Ware sein soll und was nicht. Und gerade von dem UG-Ansatz hierzu ginge "Kulturfolge" aus!
UG auch einfach "als Teil der Versorgung". Das würde es noch nicht vom bisherigen Schrebergarten unterscheiden, könnte aber selbst wieder p r o g r a m m a t i s c h gemacht werden: Selbstversorgung statt Warenkauf nicht nur deshalb, weil es die Waren wegen einer Mangelsituation mal gerade nicht gibt, also nicht nur in einer Krisenzeit, sondern bestimmte Dinge können der Ware-Geld-Beziehung s t ä n d i g entzogen bleiben. Z.B. um schädlichen Transport zu vermeiden. Nein, in diesem Fall bliebe die Warenförmigkeit, weil nicht alle Stadtbewohner UG mitmachen müssen. Aber die Waren m e n g e würde begrenzt.
3. Auf dieses Naheliegende war ich nicht gekommen: Es ist überhaupt nicht schwer, auch "vollgebaute" Stäfte wie Paris mit UG aufzulockern, schon weil es ja die vielen Parkplätze gibt, die bei drastischer Verringerung des Autoverkehrs obsolet würden. Dieser Punkt ist vielleicht sogar wichtigste überhaupt!
4. UG würde also auch zur Kommunikation und Kooperation an der Stadtbasis führen, und wäre je auf ein konkretes gemeinsames Ziel gerichtet. Daran fehlt es heute überhaupt, UG hätte auch darin M o d e l l c h a r a k t e r .
7. Das ist glaube ich kein Dissens, da ich ja vom "Sinnzentrum" spreche. Dieses Zentrum muß nicht das räumlich Zentrale sein, es kann sich über den größten Teil einer Stadt erstrecken (wenn ich "Paris als Stadt des 19. Jh.s" als Sinnzentrum gelten lasse). Vielleicht kann der Stadtsinn aber auch in einem Archipel des "Körnigen" liegen, oder in mehreren. Überhaupt ist es interessant, daß eine Stadt vorgestellt werden könnte, die überhaupt keine andere räumliche Struktur hätte als das Ineinandergreifen einer begrenzten Vielzahl von Archipelen jeweils aus "körnigen" Elementen. Die Stadt würde dann gewissen avangardistischen Gemälden ähneln, nicht mehr aber der Heiligen Maria Selbdritt mit räumlicher Zentrum-Peripherie-Struktur.
9. Ich glaube, Sie mögen La Défense nicht. Ich bin aber ganz gern da (natürlich nicht ununterbrochen!). Und dann sieht man den Triumphbogen auch vom Boden aus. Es war aber auch nur ein Beispiel, und ich wollte ein bekanntes nehmen. Und die Fortschrittsachse ist jedenfalls ein Beispiel für gebauten Stadtsinn. Auch wenn mir bei dieser Art Fortschritt Walter Benjamins Kritik einfällt und ich sie teile, bin ich beeindruckt.
10. Ich finde es ja gerade gut, daß UB objektiv Polemik ist, solange sie, wie heute, in der Stadtplanung noch nicht hegemonial ist. Sobald sie es ist, wird, wie gesagt, der ganze Archipel der Parkplätze umgebaut und da kann man sich Anschlußfähiges wunderbar ausdenken.
Danke für die Antwort, Michael Jäger
Ad 1) Grünraum. Selbstverständlich einverstanden. Aber Stadtgrün im klass. Sinne, ob Park, ob Straßenbegeleitgrün, ist was für größere zus. Flächen und dann viel einförmiger und öder als UG. Aber das ist als Argument tatsächlich eher was für Planer. Die Kleinräumigkeit und Kleinstrukturiertheit und der Mitmacheffekt im Viertel, sind die Stärken des UG.
ad2) Ja. Tatsächlich ist UG eine Möglichkeit der schon verplanten und ökonomisierten Stadtraum teilweise für echte Gemeinden, nicht Verwaltungen und Inst., zurück zu gewinnen. Schön, dass Sie das mit der "Kulturfolge" aufgreifen, den UG ist auch Kulturerinnerung, da wo kultiviert und geerntet, Arten vervielfältigt und eine mehrdimensionale Grünkultur zivilisiert wird. Nicht mehr Rasen, Abstandsgrün und Robinienöde, nicht mehr leere Mauerwand (die in der neueren Arch. so sehr als Gestaltungselement verloren hat), Kleinteiligkeit, besser Strukturiertheit die am Menschen Maß nimmt, vom Boden bis zum Dach.
ad3) Stimmt. Allerdings hat die verkehrsbezogene Stadt eine Schwäche auf der Null-Ebene. Sie rechnet nicht wirklich mit dem Maß Fußläufigkeit (Wenn Sie das interessiert, schauen Sie einmal bei den NL-Architekturtheoretikern und Planern von www.mvrdv.nl/#/projects, vorbei. Die machen auch nicht nur Menschliches, sondern auch Penunze, aber bei denen gab es auch einmal eine Stadtvision einer komplett überplanten Niederlande. Als Drohung!) Ihr fehlt also, aus der nun schon mehr als 80 jährigen Planungsgeschichte (CIAM1928,1932), die Maßweite bei Gebäudelängen, Eingängen, usw. Das ist aber rückführbar, keine Frage. Was wäre das für eine Achse, liefe z.B. ein breites Fußgängerrollband in einem großen Grünzug. Technisch heute schon möglich (Outdoor noch schwierig), vielleicht bald sogar notwendig.
ad4) Genau.
ad7) Ja, Sinnzentren, die sich durch architektonische und gestalterische Außenzeichen deuten lassen (Identifikation an Ort und Stelle, statt Verbindung des nur politisch- systemisch verstandenen Nationalcharakters, der nicht wirklich die Passantenstadt des späten 18.Jh und 19 Jh., beginnend um die heutige Gegend des Grand und Petit Palais und an der Rivoli mit der Königsstadt und in andere Richtung mit der Gloire de France (Napi) und noch weiter raus, mit dem Frankreich der Nachkriegsrepubliken verbindet. Da bin ich ganz bei Ihnen. Die große Achse ist aber genau in dieser Hinsicht etwas schwach auf der Brust, weil sie diesen Archipel Charakter wegen ihrer Ausdehnung und ihrer Architektur, auf weiten Strecken nicht gerecht wird. Das ist aber wiederum eher ein Streit für Planer und Architekten. Dieser Archipelgedanke gefällt mir, obwohl man dann wohl "Stadtpolynesier" bräuchte, die sich zwischen den Inseln und ihren Bedeutungen zurecht fänden. Im Song gab es das für Dtschl.- West ´mal: "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, heidi schibbela, schibbela pä(e)ng (?)"
ad 9) Ich mag La Défense wirklich nicht sonderlich, was Gestaltungen und Architektur, was den Planungsansatz angeht. Das ist aber nicht das entscheidende Kritierium für mich. Sondern ich halte diese Art der funktionsgetrennten Stadt für obsolet. Sie hat auch einen enormen Flächenanspruch, der sich, anders als behauptet, zunehmend dysfunktional auswirkt, weil getrennte Funktionen sehr kostspielig verbunden werden müssen. Real derzeit unter der Null-Ebene und durch Verkehr auf den Straßen, durch gebauten Wahn, S21).
Im SF-Film, der hauptsächlichen modernen Stadtfantasie unserer Tage, durch ein Gewirr an Verkehrsmitteln, sogar mit Ebenen-Gesellschaften, von den Müllbewohnern, meist unten und ausserhalb, bis zu den "Stadtkronen" und "Kristallarchitektur"- Bewohnern ganz oben, erreichbar nur in Raumgleitern, schon aus Sicherheitgründen! - Das ist nicht meine Stadtvision, bzw. nicht die, die ich mir wünschte. Dazu extrem teuer.
Benjamin ist sicher ein guter Lotse, um den Verlust an Detailiertheit und individuellem Reiz zu spüren, der mit den Kilometerfassaden auch verbunden ist, selbst wenn die Architekturskulpturen so beeindrucken. Architekten finden manches Mal sogar Eigennamen für diese seltsame Form der Stadtgestaltung: Gehrysierung, GM, Forsterisierung (er hat ja nicht nur eine schöne Kuppel gebaut) oder Hadidisierung (jedes Bauwerk eine Skulptur, aber die An- und Einbindung ist extrem öde (siehe Wolfsburg) und auch nicht gut berücksichtigt.
ad 10) Der Kampf gegen UG wird ja geführt, in dem man die Idee als Nischentechnik und Hinterwäldler-Romantik angreift und auf den tatsächlich eher bescheidenen Auftritt verweist. Ein neu begrünter Hinterhof, steht immer noch im Verhältnis zu gleichzeitig 1000den Quadratmetern Streukies, Raketenwachholder und Tuja, Parkbuchten mit Abpflasterungen, Glas und Alu-Spiegelfassaden, Otto-ECE Brei von Mainz bis Berlin. Leider machen sich die meisten Menschen keine Vorstellungen von den dimensionalen Unterschieden, sondern bewundern eben die Skulpturalität der Skyline.
- Klar, in diesem Sinne, ein Hoch auf UG.
Nochmals Dank für die Anregungen, gute Nacht und bis bald
Christoph Leusch
Eine Nachfrage habe ich da, Herr Leusch. Die deshalb, weil ich mich dunkel erinnere, daß dieser Punkt von Ihnen schon mehrmals in diversen rückwärtigen Blogs angesprochen wurde.
Sie schreiben: »Sondern ich halte diese Art der funktionsgetrennten Stadt für obsolet.«
Was meinen Sie hier mit »funktionsgetrennter Stadt«? Die strikte städtebauliche Auftrennung in Wohn-, Geschäfts-, Industriegebiete bzw. -viertel usw.?
Ja. Das geht nicht überall und grundsätzlich mit allen Branchen, das ist klar. Aber hier, in Europa, ist es auch so etwas wie ein Rückkehr zur Kleinräumigkeit, nur mit den Mitteln des 21. Jhs.
Leider gibt es einen gegenläufigen und eben hauptsächlich Ökonomie getriebenen Trend, der eben Otto-ECE groß macht, ebenso Factory outlets und Innenstadt-Centers, die mit ihrer Grobkorngröße jedes bisher gebaute Maß, zumindest in den Mittelstädten, weit überschreiten. Und es gibt den Hang der Öffentlichkeit nach "Superzeichen", ökonomischer Art, z.B. Centro-O, Oberhausen, Winterskihallen, am besten in der Wüste, 1000m-Türme, die energetisch und strukturell Mist sind, an einer Wasserfront, inmitten der Ebene nicht ästhetisch aber mächtig wirken, und ideologischer Art, wie der Einsegnungshallenstil unseres Kanzleramtes mit den vorgestellten Sichtbetonkulissen, etc.
LG
Christoph Leusch
Guten Abend Herr Leusch,
was die Architektur und ihre bisweilen unbegreiflichen Erzeugnisse betrifft, die mancher Stadt schon Bauwerke beschert hat, die gar so fremd und unverwandt in der Umgebung herumstehen, als wären sie wie ein Meteorit vom Himmel gefallen (oder, mit böser Absicht, als Bastion, die einschüchtern und klein machen will, ins Stadtbild hineingesetzt worden), sind wir uns einig.
Wesentlich entspannter als Sie sehe ich wohl die Ökonomie als Ursache: Wo, Herr Leusch, wäre das denn je anders gewesen? Wenn Sie heute ein Kataster süd- und mitteldeutscher oder norditalienischer Dörfer und Kleinstädte ansehen, dann können Sie schon Rechts- und damit unweigerlich auch Wirtschaftsgeschichte einsehen; bei den Hansestädten ist es nicht anders. Sie können schon aus der Planlage von Markt- und Kirchplätzen, an der Parzellierung der Liegenschaften erkennen, wie die Ökonomie schon seit dem frühen Mittelalter die Architektur leitete.
Ich hatte, als ich die Frage oben formulierte, eine andere Bemerkung von Ihnen im Ohr, über die ich seinerzeit eine ganze Weile nachsinnierte: »Selbst die Dienstleistungsbranche, die noch vor ca. 10-15 Jahren tönte, die digitale Revolution ermögliche bald dezentrales Arbeiten und die Rückkehr zur integralen Stadt, im Gegensatz zum Weiterwursteln in der funktionsgetrennten Stadt, setzt heute auf Repräsentanz der Vorhängefassaden, auf Firmensitze mit Eingängen und Großraumbüros und trennt so, ganz bewusst, Leben von Arbeit, Arbeit von Einkauf und Freizeit und von Kultur.«
Ich weiß bis heute nicht, wie Sie das meinen oder woran Sie da laborieren, Herr Leusch.
Die feinsäuberliche, strikte Trennung der Viertel nach der Devise: hier wird gewohnt, hier wird gearbeitet, hier sitzt die Verwaltung, hier wird vergnügt, dort die Freizeit verbracht und je nach Bedarf wird dann ein- und wieder ausgependelt, die ist in der Tat lang überholt.
Aber was genau schwebt Ihnen da vor? Ihre Kleinteiligkeit, die Feinkörnigkeit, soll die Arbeiten, Wohnen, Freizeit, Kultur so sehr zueinander bringen und in sich verschränken, daß das alles überhaupt nicht mehr unterscheidbar ist? Ich hielte das, um das Mindeste zu sagen, für eine Zumutung: Wenn die Arbeit und der Erwerb das Wohnen und Leben so sehr überformt, daß man ihr schon räumlich nicht mehr entgehen kann, daß man keinen Schritt mehr tun kann, ohne daran erinnert zu werden, daß das Leben aus nichts als Arbeit besteht, dann ist damit die, mal marxistisch gesprochen, formelle Subsumtion aller Lebensäußerungen unters Kapital ganz räumlich weitgehend abgeschlossen.
Ursprünglich war die Arbeit ja mal ein Übel, das man auf sich nehmen mußte, um an die Mittel zu kommen, die man in einer kapitalistischen Gesellschaft benötigt, um diejenigen Bedürfnisse befriedigen zu können, die außerhalb der reinen Arbeits- und Erwerbssphäre liegen. Wird das alles so sehr miteinander verschränkt, daß man schon räumlich keine Distanz mehr dazu gewinnen kann, dann, so jedenfalls meine Befürchtung, schlägt die Kleinräumigkeit um in reine Totalität.
Aus diesem Grund habe ich es übrigens bis heute unterlassen und auch nie geschafft, von zuhause aus zu arbeiten, obwohl mir das durchaus möglich wäre. Deshalb unterhalte ich Büro- und Geschäftsräume, die nicht nur außerhalb meiner Wohnung liegen, sondern gewißermaßen am anderen Ende der Stadt, obwohl das nicht nur rein ökonomisch völlig unsinnig ist, sondern ich ohnehin nie Publikumsverkehr habe und daher sehr praktisch von zuhause aus arbeiten könnte.
Grüße
J. A.-P.
Ich kann ja nur Beispiele in so kurzer Zeit anbringen.
Noch die kleinste italienische Gemeinde hat heute mehr Einzelhandel und kleine Handwerker (wiewohl durch Supermarkt und die gleiche Gewerbeöde wie in der Rest-Eu bedroht), als eine vergl. Gemeinde bei uns oder, noch viel verbreiteter in GB oder gar in USA. Ein wenig kenne ich mich hinter Florenz, bei Prato und entlang der Cinque terre, bis Genua aus.
Weniger gefährdende, leisere Industrie erlaubt die Hinterhoffirma. Heute ist sie im Prinzip verboten, wenn nicht Bestandsschutz gilt.
Wenn Dienstleistungen dezentralisiert angeboten werden, dann muss die Behörde, z.B. Ordnungsamt oder z.B. Versicherungen, nicht an den Stadtrand in den Tower und die Verkehrsinfrastruktur bleibt überschaubar, etc.
Ich weiß, für alle Bereiche lassen sich auch Gegenbeispiele finden. Sie suchten eines und fanden es bei sich.
Aber z.B. Familienplanung und Arbeitsteilung wären einfacher zu bewerkstelligen, wenn in einer Großstadt, sagen wir München, die meisten Leute nicht mehr als max. einen Kilometer zu Arbeit hätten. Das ist sogar noch für 50% fußläufig.
II
Tatsächlich ist aber die Verlagerung ausgeblieben, weil das Maß an sozialer Kontrolle den Arbeitgebern nicht ausreichte und die Arbeitnehmerseite fürchtete, die vielen Vereinzelungen in der Arbeitswelt führten zu sinkenden Garantielöhnen. Daran ist viel. Leider auch ganz ohne stadtstrukturelle Änderungen! Aber das ist nun eine Frage der rechtlichen Rahmenbedingungen und des Wirtschaftsmodells, das man bevorzugt. - Ganz ihrer These folgend, dass Politik und Ökonomie kommunizierende Röhren sind und nicht, wie viele glauben, die Politiker zu Recht die Achseln zucken und sagen, es sei der Markt, es seien quasi naturgewachsene ökonomische Gegebenheiten. Es ist nichts vom Himmel gefallen und jedes Gesetz und jede Planung gewollt! Leider glauben ja viele Leute anders und sehen das auch ganz privat so. - "Man" kann dann halt nichts machen, nichts ändern.
Lange schreibe, kurzer Sinn: Die Stadt könnte noch mehr leisten und noch mehr an Lebensqualität bieten, trotzdem aber ökologisch und sozial sein.
Warum nicht UG, wo es heute schon vom Rebirthing bis zu "Mach´ Dein Ding", alles andere gibt und die Leutchen den Schrott aus den Baumärkten und Gartencentern in ihre vier Wände karren. Das landet alles mehrfach auf dem Müll, bzw. in der thermischen Verwertung und wird dann durch neuen Schrott ersetzt, der als ein wenig modischer und noch nicht abgeblüht oder ausgelutscht gilt.
Zur Planung: Bedenken Sie. Jede neue Suburbanität vergrößert die Infrastrukturprobleme noch (Dresdens Waldschlösschen-Brücke hat ihre Ursache genau darin!). In den Medien wird viel gelästert über den Hamster der umgesiedelt werden muss und über Wildtunnels und -Brücken, dabei ist nicht die Natur daran schuld, sondern die jahrzehntelange Landesplanung in eine Richtung.
Zur Architektur: Da wurde mit den neuen großen und hohen Türmen Energieeinsparung und Infrastuktur-Verbesserung angekündigt. Mittlerweile lernen selbst Planer und Arch.-Studenten wieder, wie unsinnig die Behauptungen waren.
Hingegen, auch wenn Sie es geschafft haben, ihre Aufteilung als angenehm zu empfinden, so glaube ich doch, dass ein größerer Teil der Bev. an dieser Aufteilung eher leidet, weil schon die erhöhten und steigenden Wegebeziehungen Zeit, Geld, Energie und Nerven kosten, die derzeit als Kosten übrigens meist bei den Arbeitnehmern bleiben. Der Arbeitgeber entdeckt seine Kosten erst ab Arbeitsplatz und Zeitkonto. Der Rest ist ihm egal.
Z.B. Verfügungsarbeitskräfte im Einzelhandel, die auf Abruf tätig sind, oft um Urlaub und andere Soz.-Leistungen beschissen werden und Krankheit selbst bezahlen, aber auch für Wegekosten und das Zeitbudget selbst verantwortlich sind, obwohl sie Verfügungsmasse bleiben. - Das war jetzt extrem. Aber in diese Richtung geht da meine Denke.
Grüße
Christoph Leusch