Archipel der Äcker

Urban Gardening II Ökologie als Sinn: Zehn Thesen zum neuen Naturverständnis oder was die Bewegung des Urban Gardening von der Architektur lernen kann

1. Urban Gardening ist nichts, was die Stadt besser funktionieren ließe, auch gerade nicht in ökologischer Hinsicht. Gärten und Parks gibt es schon heute in den Städten. Wenn man statt des einen oder andern Gartens einen Acker hat, bleibt die Umweltbilanz der Stadt unverändert.

2. Urban Gardening ist kein Beitrag zum ökologischen Funktionieren – sondern zum ökologischen Sinn.

3. Diese neuen Äcker würden ja nicht Nischen besetzen, die niemand beachtet, sondern wollen beachtet werden. Sie führen zu einem anderen Stadtbild. Die Stadt würde sich rastern wie ein Schachbrett aus weißen Quadraten (Gärten, Äcker) und schwarzen (Gebäude), nur freilich in anderen, nicht platt geometrischen Formen. Die Gestalt des Archipels der Äcker würde von Stadt zu Stadt variieren.

4. Ökologie als Sinn: Seht her, wir wohnen zwar in der Stadt, von der man gesagt hat, sie sei die „Megamaschine“ – das Antiökologische. Aber das glauben wir nicht, sondern stellen aus, dass wir als Ökologen in ihr leben. Flaneure, ihr könnt von der Wärmedämmung unserer Häuser kein Foto machen. Doch seht den Acker dazwischen! Der ist ein sichtbares Zeichen.

5. Es ist nicht das erste Mal, dass Natursinn in der Stadt Flagge zeigt. Im 19. Jahrhundert geschah das ständig, damals kam der Blumentopf im Wohnzimmer auf. Am Ende kreierte man den „Jugendstil“ mit pflanzlichen gusseisernen Ornamenten. Das war ein anderer Natursinn als heute. Im 19. Jahrhundert erschien die Natur als eine Vergangenheit, die man zu übersteigen und aufzubewahren, kurz „aufzuheben“ hatte, wovon auch die Erfindung der Zoologischen Gärten zeugt. Heute wissen wir, Versöhnung mit der Natur ist unsere Zukunft, unser Fortschritt. Dieser neue Natursinn spielte, als er in den 1960er Jahren aufkam, zunächst eine periphere Rolle im Sinnhaushalt der Städte und ihrer Bewohner. Die Mehrheit war lange gegen ihn. Das hat sich geändert. Urban Gardening gehört zu den Zeichen, die anzeigen, dass die ökologische Besetzung des Sinnzentrums geschieht.

6. Am Stadt-Land-Gegensatz ändert sich gar nichts. Wenn unter dem Ländlichen das Periphere, unter der Stadt das Zentrum verstanden wird, dann kann nicht gesagt werden, dass mit Urban Gardening die Peripherie das Zentrum besetze. Es geht nur um die Stadt. Um ihren Sinn und damit um ihr Aussehen.

7. Die Stadt teilt sich selbst wieder in Zentrum und Peripherie. Der Sinn, den sich eine Stadt gibt, ist ihr Zentrum. Wenn der Sinn ökologisch besetzt werden soll, muss das Stadtzentrum besetzt werden. Wo liegt es und was verstehen wir darunter? In vielen deutschen Städten die „Fußgängerzone“ mit Kaufhäusern und Eisdiele – wenn man das noch einen Sinn nennen will. In einer Stadt wie Paris sind mehrere Dinge zentral: die historisch ältesten Zeichen auf den Seine-Inseln und um sie herum (Notre Dame, Louvre); die den Fortschritt symbolisierende Straße (Axe historique, der vom Louvre aus über Napoleons Triumphbogen zum Wolkenkratzer-Vorort La Défense führt); dann alles, worin Paris im Ganzen Geschichte ist (als Stadt des 19. Jahrhunderts).

8. Eine Besetzung solchen Sinns durch Urban Gardening wird schwerfallen. Ist es überhaupt möglich, solche Kompaktheit noch einmal anders zu rastern? Doch es wäre nicht gänzlich neu. Denn vergleichbar ist das Eindringen moderner Architektur. Bleiben wir in Paris: Das Moderne ist nicht nur nach La Défense ausgelagert, sondern auch über die ganze Stadt verteilt. Der Archipel der Moderne ist ins Ältere so eingefügt, dass Alt und Neu kommunizieren.

9. Dies erinnert uns, dass es zwei grundverschiedene Weisen der Einfügung gibt, die anschlussfähige und die polemische. Moderne Architektur war in ihrem ersten Stadium polemisch. Stellte sich als Fremdkörper zwischen Häuser, die zu ihr nicht passten. Sie gab pure Geometrie zu sehen, als Feind des Ornamentalen. Die noch modernere Architektur ist aber anschlussfähig. Nimmt Maß an älterer Architektur in der Nähe. So variiert die Grande Arche de la Défense, ein torförmiges Hochhaus, den Triumphbogen. Das neue Hôpital Européenne nahe der Metro Balard folgt kommentierend dem Bogen einer ganz alten Straße, die man nicht begradigt hat.

10. Urban Gardening wird vielleicht dieselben Stadien durchlaufen, erst das Polemische und dann, wenn es nämlich gesiegt hat, die Anschlussfähigkeit. Das Wichtigste ist aber, dass hier überhaupt ein Streit um den Sinn ausgetragen wird. Denn bisher kennen wir nur die Ökologie der Messdaten – Feinstaub, Biomasse, CO2-Menge. Die kann nicht hegemonial werden.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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