Nein, das Problem dieser Regierung ist nicht, daß sie versucht und irrt, nachbessert und zurückweicht, denn so handeln alle Vernünftigen, die mit der Sache ringen, statt einen Schönheitspreis gewinnen zu wollen. Als Helmut Kohl zu regieren begann, warf man ihm Aussitzen vor, war das besser? Das Problem dieser Regierung ist ein ganz anderes. Sie ist zweideutig. Wenn sie so weitermacht, wird sie alle nächsten Wahlen verlieren, und zwar mit Recht. Woran liegt es? Entweder wir sind Zeugen eines gigantischen Betrugsmanövers, das bald auffliegen wird, oder die Regierung läßt sich zu viel Zeit, herauszufinden, was sie unter ihrer eigenen »Konsensstrategie« versteht. Nehmen wir als erstes Beispiel den Streit um die Doppelpässe.
Als Gerhard Schröder die generelle doppelte Staatsbürgerschaft noch verteidigte, sagte er, man müsse manchmal etwas Modernes auch dann tun, wenn eine Mehrheit es erst später einsehe. Andere zogen aus Stoibers Unterschriftenaktion den Schluß, es sei falsch gewesen, daß die Grünen früher mehr plebiszitäre Demokratie gefordert haben. Das waren schlimme Stellungnahmen. Warum haben wir denn Kohl abgewählt, statt auf unser späteres Ja zu seinem neoliberalen Modernisierungsprogramm zu warten? Mit welcher Moderne will uns Schröder denn noch beglücken? Nein, die Demokratie darf man nicht aus der Hand geben. Viel eher freue man sich, daß trotz Stoiber eine Bevölkerungs-mehrheit für den Doppelpaß eintritt, teils in der rot-grünen, teils in der FDP-Version. Der entscheidende Reformschritt, die Staatsbürgerschaft nicht mehr an das reaktionäre Recht des Blutes und der Abstammung zu binden, ist in beiden Versionen getan.
Natürlich ist es rational, nach der Hessenwahl den Kompromiß zu suchen. Vor allem muß die Union isoliert werden. Hörten wir nur das von der SPD und nichts anderes, wir verneigten uns vor ihrer Klugheit. Aber sie sagt mehr. Und es ist Lafontaine, nicht Schröder, über dessen Zweideutigkeit man erschrickt. Schröders Äußerungen sind korrekt: Als bedauerte er die frühere Stellungnahme, weist er jetzt darauf hin, daß man Politik im Konsens mit der Mehrheit machen müsse. Er stellt auch klar, daß die Regierung sich nicht mit der FDP einigt, sondern mit Kurt Beck, dem Mainzer Ministerpräsidenten. Lafontaine aber sagt, es sei falsch gewesen, »ein Thema« in den Vordergrund zu stellen, das der Union Gelegenheit zur Mobilisierung gegeben habe: »Denn es ist nun einmal so, daß man in Deutschland Stimmung gegen Ausländer machen kann.« Als er das sagte, war schon bekannt, daß »in Deutschland« wieder ein Ausländer von Nazis ermordet worden war. »Ist« das »nun einmal so«? Es darf Lafontaines Opportunismus nicht gelingen, die Entscheidungsfrage zu verwischen, die sich klar genug abzeichnet. Wenn nämlich das FDP-Modell, die doppelte Staatsbürgerschaft nur bis zum 23. Lebensjahr zu gewähren, vor dem Verfassungsgericht Bestand hat, ist es gut. Wenn aber nicht, wird Lafontaine dann zur Verbrüderung mit Stoiber und Schäuble raten? Zu fordern ist, daß die SPD mit der kämpferischen Botschaft, in einem solchen Fall zum Modell Schilys zurückzukehren, in die kommenden Wahlen geht.
Warum mußte Lafontaine die Linie des Kompromisses unmittelbar nach der hessischen Wahl verbreiten, ohne Absprache mit grünen Gremien? Es ist doch möglich, daß diese ihm gefolgt wären, auch wenn er sie nicht wie blöde Statisten behandelt hätte. Wenn das so läuft, wird man auch bei der Steuerreform mißtrauisch. Klar, man muß sie retten, indem man die rot-grüne Bundesratsmehrheit der nächsten Wochen nutzt. Gerade dadurch wahrt man den Konsens mit der Bevölkerung. Aber wenn der SPD-Chef die Frage, ob die Regierung wackelt, mit der Gegenfrage beantwortet, mit wem anders als den Grünen er denn sonst diese Steuerreform hätte durchbringen sollen; wenn er hinzufügt, die Frage eines Koalitionswechsels stelle sich derzeit nicht: dann nährt dieser Mann, der genau weiß, wie man Wörter auf Goldwaagen legt, den Verdacht, eine sozialliberale Koalition sei vielleicht schon seit der Bundestagswahl beschlossen. Das Drehbuch sähe so aus: Bei den Koalitionsverhandlungen mit den Grünen hält Schröder sich zurück, weil er weiß, der Spuk soll eh nur bis zum Aschermittwoch dauern. Man wird zur FDP überlaufen, aber der unterlegene Kanzlerkandidat Lafontaine hat sich ein paar soziale Abstriche ausbedungen, wofür er die Grünen braucht. Dafür läßt Schröder ihm ein paar Monate. Und bei Gott, jetzt hat er's, der Kinderstall kann geräumt werden ...
In andern Fragen ist der Kanzler der Zweideutige. Daß Schröder die Atomgespräche im Konsens führen will, wäre einsichtig, würde er nicht gleichzeitig andeuten, eine Restlaufzeit von mehr als 20 Jahren sei wahrscheinlich. Dann will er doch gar keinen Konsens, nämlich mit der Bevölkerung, sondern will diese unters Diktat des Atomkapitals zwingen. Nach der neuesten Umfrage wollen 66 Prozent nicht länger als 20 Jahren warten. Und auch die Art, wie Schröder sein Bündnis für Arbeit anlegt, ist verdächtig. Er hätte der Öffentlichkeit erklären müssen, daß das Kapital kein Recht hat, dem Bündnis Vorbedingungen zu stellen, etwa die IG Metall habe auf ihr Streikrecht zu verzichten. Er tat genau das Gegenteil, warnte vor dem Streik. Aber kann es im Bündnis für Arbeit darum gehen, Arbeiterrechte zu beschneiden und die Anpassung an den Neoliberalismus zu fördern? Es ist dazu da, daß man sich über Steuern und Renten, Arbeitszeitverkürzung und dergleichen einigt. Aus andern westeuropäischen Ländern kann Schröder lernen, was passiert, wenn Unternehmer solche Gespräche boykottieren: dann wird ohne sie beschlossen.
Es ist zu früh, der Regierung Betrug zu unterstellen. Nehmen wir an, Lafontaine sei eher nervös als berechnend. Nehmen wir an, der virtuose Umgang mit ihrem Instrument, dem Konsens, falle der Regierung noch schwer. Daß man die deutsche Konsensgesellschaft nicht regieren kann, indem man sie angreift, ist ja richtig. Aber, Genossen, ihr müßt jetzt offenlegen, denn Fastnacht ist vorbei, von welchem Konsens ihr überhaupt sprecht: dem mit der Bevölkerung oder dem mit der Diktatur des Kapitals? Hat der Konsensversuch Grenzen oder ist er ein Marsch in die Unterwerfung? Wer die Grenzen nicht angibt, schürt Mißtrauen. Es geht nicht um »mehr Fischer und weniger Trittin«. Es geht um mehr Licht.
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