Atempause in Deutschland (Tagebuch der Krise)

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Die Jahreswende ist ein guter Anlass, zu fragen, wie weit die große Wirtschaftskrise inzwischen fortgeschritten ist. Ist sie etwa schon überwunden? Manche Politiker haben das zeitweise behauptet, Herr Brüderle zum Beispiel, von dem überhaupt etwas Beruhigendes ausgeht. Freilich, je mehr sich das vergangene Jahr neigte, desto länger wurden angesichts der Schuldenkrise der EU die Gesichter. Die Krise ist nicht überwunden, im Gegenteil, sie hat sich ausgeweitet. Sie ist vielleicht noch nicht auf ihrem Höhepunkt angelangt.

In Deutschland hat man es gut verstanden, das Krisenbewusstsein einzuschläfern. 2008, zum Teil noch 2009, als marode Banken mit Staatsgeldern gestützt werden mussten, war es da. Die Frage, wer die Zeche zahlen würde, drängte sich allen auf. Doch dann hörte man nicht mehr so viel von den Banken, und weil die Regierung in 2010, dem ersten Jahr der fälligen sozialen Einschnitte, noch sehr vorsichtig vorging, geriet auch die Zeche bei vielen in Vergessenheit. Das war die Zeit, in der die Realwirtschaft sich besser entwickelte als erhofft. Nie hat es so viele Arbeitsplätze gegeben! Die Einschläferung des Krisenbewusstseins ist der Regierung nicht einmal gut bekommen. Denn ich meine, es war gerade die scheinbare ökonomische Beruhigung, die der FDP den Niedergang in Umfragen bescherte. Ihr Steuersenkungsprogramm hatte Ende 2009 vielen eingeleuchtet, die um ihre wirtschaftliche Existenz bangten. Sie hielten die Zeit für gekommen, zuerst an sich selbst zu denken statt an die Finanzierung eines Sozialstaats. Doch als die wirtschaftliche Lage weniger angsteinflößend wurde oder zu werden schien, nahm die Zahl der Leute wieder ab, die weiter nichts als egoistisch sein wollten.

Man hätte sich ja vorstellen können, dass im vergangenen Jahr die Union von der FDP an die Wand gedrückt worden wäre, weil das gute Wirtschaftswachstum die Steuersenkungsforderung plausibler machte. Es kam umgekehrt: Die FDP wurde von der Union an die Wand gedrückt. In dieselbe Zeit fiel der erstaunliche Aufstieg der Grünen. Was immer sie daraus machen, scheint der Aufstieg als solcher darauf hinzudeuten, dass Teile der Bevölkerung nach einer neuen, nicht egoistischen sondern dem Allgemeinwohl verpflichteten Orientierung suchen. Diesen Bevölkerungsteilen kann man somit ein Krisenbewusstsein nicht absprechen. Aber dass es nicht borniert ist wie bei den FDP-Anhängern, mag mit der Atempause der Krise zusammenhängen. Der Aufstieg der Grünen fällt in eine Zeit, wo der Egoismus weniger auf die Probe gestellt wird. Das heißt auch, dass wieder eine Zeit kommen kann, in der eine populistische Westerwelle-FDP erstarkt. Es hängt davon ab, wie sich die große Wirtschaftskrise weiter entwickelt.

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Dass diese nach wie vor eine Krise der Banken, auch gerade der deutschen Banken ist, wird jetzt wieder bewusst. Die deutschen Banken stehen mit anderen EU-Ländern in Geschäftsbeziehung. Wenn schon in Deutschland Banken und Unternehmen kränkelten, musste das in schwächeren Volkswirtschaften der EU erst recht der Fall sein. Nur kann der dort noch stärker verschuldete Staat nicht so leicht helfen. Den deutschen Banken ist das nicht gleichgültig, da sie zu den Schuldnern der Banken und Unternehmen anderer Staaten und dieser Staaten selbst gehören. So belaufen sich ihre Forderungen an Griechenland auf 17 Mrd. Dollar (nur Frankreich ist noch tiefer verstrickt), an Irland auf 138 Mrd. (knapp hinter Großbritannien), an Portugal auf 37 Mrd. (hinter Spanien und Frankreich), an Spanien auf 182 Mrd. (vor Frankreich und Großbritannien). Wie, wenn diesen Staaten die Rückzahlung nicht gelingt? Weil eben das sich abzeichnete, wurde der "Rettungsschirm" der EU aufgespannt: Sie erhalten Kredite aus verschiedenen Quellen - natürlich, was die EU-Staaten angeht, von Deutschland das meiste - und sollen im Gegenzug ihre Wirtschaft so verändern, dass die Schuldentilgung möglich wird. Griechenland und Irland haben solche Kredite schon bekommen, Portugal und Spanien werden sie wohl noch in Anspruch nehmen müssen.

Aber der Zweifel, ob Griechenland und Irland die Kredite je zurückzahlen können, ist groß. Auch für Irland hat es der Internationale Währungsfonds öffentlich bezweifelt. Was Portugal und Spanien angeht, hat nun schon China Hilfe angeboten - nicht Kredite, sondern den Kauf von Staatsanleihen dieser Länder -, weil die chinesischen Politiker nicht sicher sind, ob die EU die Schuldenkrise aus eigener Kraft meistern kann. China ist überhaupt die Rettung der EU, wenn es denn eine gibt, und auch gerade Deutschlands. Die EU ist seit sechs Jahren Chinas wichtigster Handelspartner vor den USA. Für die EU rangiert China an zweiter Stelle. Speziell der Handel deutscher Unternehmen mit China hatte im dritten Quartal 2010 eine Größenordnung von 13,7 Mrd. Euro und war damit gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 34,3 Prozent gestiegen. Der größte Teil der deutschen Ausfuhren geht zwar immer noch in andere EU-Länder, doch dort sinken die Anteile. Besonders die deutsche Autoindustrie kann sich über den China-Handel freuen. Heute, wo ich dies schreibe, wird schon wieder ein neuer Vertrag zwischen Daimler, VW und China in Milliardenhöhe unterzeichnet.

Übrigens - das hat nun gar nichts mit dem Vorigen zu tun - fällt es unangenehm auf, dass die Pekinger Stadtverwaltung im Kampf gegen Abgase und Verkehrschaos eine starke Beschränkung der Auto-Neuzulassungen in 2011 plant. In anderen chinesischen Städten wird erwogen, Autokäufe an den Nachweis eines Parkplatzes zu binden. Das alles "dämpft die Nachfrage" und wird vom chinesischen Autoindustrieverband entsprechend kritisiert. Wunderlich, was sich Kommunen da herausnehmen. In Deutschland wäre es undenkbar. China ist offenbar wirklich ein unfreies Land.

Doch zurück zur europäischen Krise. China zweifelt also an der europäischen Selbstrettungskraft. Zweifelhaft ist, ganz allgemein gesprochen, dass Staaten beliebig viel Geld ausgeben oder erst einmal am Kreditmarkt erwerben können, um immer wieder überall helfend einzugreifen, wo die Krise ihr Haupt erhebt. Überschuldete Staaten erhalten gar keine bezahlbaren Kredite mehr. Wenn der "Rettungsschirm", den andere Staaten über ihnen aufspannen, immer breiter werden muss, geraten auch sie in die Überschuldung. Darauf läuft's auch hinaus, wenn der Schirm zwar aufgespannt wird, aber gar nichts nützt, so dass es zu neuen Verwerfungen kommt und neue helfende Gaben erforderlich werden. Nach den Worten des Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank müssen die europäischen Banken in den kommenden beiden Jahren rund eine Billion Euro an fällig werdenden Schuldtiteln am Markt refinanzieren. Die Zentralbank ist auch selbst betroffen, ihr geht es eigentlich nicht anders als anderen Banken, die Schuldtitel halten, weshalb im Europäischen Parlament schon "die Frage" aufgeworfen wurde, "was geschieht, falls die EZB und mit ihr die Notenbanken des Euro-Systems die Anleihekäufe im großen Stil fortsetzen und am Ende eines oder mehrere der Schuldenländer Zins und Tilgung nicht mehr aufbringen können". Das war schon im Mai in der Zeitung zu lesen.

William White, ehemaliger Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, sagte in einem Zeitungsinterview (FAZ vom 16.10.2010), ihm scheine "die Schlussfolgerung unangemessen, man könne Defizite und Schulden ohne Ende machen". Darin dürfte wohl eingeschlossen sein, dass die Defizite und Schulden der Einen nicht ohne Ende von Anderen hilfreich übernommen oder gestreckt werden können. Auf absehbare Zeit könnte zwar China mit seinen gewaltigen Devisenreserven die EU über Wasser halten. Doch wird die EU sich in diese Abhängigkeit begeben?

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In Irland, wo die Krise keine Atempause macht, bleiben die Bürger nicht ruhig wie hierzulande. Bis zu 150.000 Menschen sollen am Tag nach dem Vier-Jahres-Sparplan der Regierung demonstriert haben, eine gewaltige Menge in einem Land, das überhaupt nur 4,5 Millionen Einwohner hat. Diese Menschen sind empört darüber, dass ihr Land sich von der EU kreditieren lassen muss, nur damit den Finanzriesen geholfen wird. Sie selbst müssen ja die Kredite zurückzahlen. Wenn man fragt, warum ihnen so bewusst ist, dass sie "die Zeche zahlen", den Menschen in Deutschland aber viel weniger, ist die Antwort klar: Die irische Regierung hatte anders als die deutsche keine Zeit, ihren "Sanierungs"plan zeitlich zu strecken; sie musste alles Üble sofort auf den Tisch legen; da konnte es nicht ausbleiben, dass man es erkannte als das, was es war. Im Vier-Jahres-Sparplan steht, dass die Mehrwert- und Einkommenssteuer steigen soll, der Mindestlohn und zahlreiche Sozialleistungen gekürzt werden und im öffentlichen Dienst Zehntausende Stellen wegfallen.

Diese Menschen sagen sich ganz richtig, dass es für sie das Beste ist, wenn "ihre" irischen Finanzriesen pleite gehen, statt auf ihre, nun wirklich ihre Kosten saniert zu werden, und es dann eben zu keiner Anleiherückzahlung an die ausländischen Banken kommt. Dann wären nur die einheimischen und ausländischen Banken geschädigt, aber nicht sie, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen. In einem Zeitungsbericht wird ein Schullehrer zitiert, der die die wunderbar klaren Worte spricht: "Die irischen Bürger sind nicht bereit, diese Suppe auszulöffeln, damit eure deutschen Banken davonkommen!" Da sieht man, worin Krisenbewusstsein in Deutschland, wenn es das gäbe, bestehen würde. Die deutschen Bürger müssten begreifen, dass wenn ihr Staat mit ihren Steuergeldern den "Rettungsschirm" über Irland aufspannt, es eigentlich nicht um die Rettung Irlands - schon gar nicht der irischen Bürger, aber auch nicht einmal des irischen Kapitals oder Staates -, sondern der deutschen Banken geht. Aber sie begreifen es nicht. Sie begreifen noch nicht, dass nur fortgesetzt wird, was in Deutschland 2008 schon begann, und dass die Zeche immer mehr wächst.

Um die ganze Absurdität dieser Krise zu erfassen, muss man wissen, dass selbst die deutsche Regierung darunter leidet, dass immer wieder nur die Bürger belastet werden. Sie wollte ursprünglich durchsetzen, dass private Investoren in die Haftung für die Schulden zahlungsunfähiger Staaten einbezogen werden. Doch als das bekannt wurde, stiegen die Risikoaufschläge für Anleihen etwa Irlands und Portugals. Die EU-Finanzminister mussten deshalb schleunigst erklären, eine Beteiligung Privater werde es nur von Fall zu Fall geben. Ein EU-Diplomat beschrieb das Dilemma so: "Einerseits ist die Beteiligung privater Investoren unvermeidlich. Andererseits zwingt ein falscher halber Satz des Schlusskommuniqués Portugal unter den Rettungsschirm."

Man ist also schon an den Punkt gelangt, oder er kommt wenigstens ins Blickfeld, wo sich die Dinge auf rein ökonomischem Weg gar nicht mehr kontrollieren lassen. Denn haben Regierungen nicht die Kontrolle verloren, wenn sie "systemrelevante" Banken nur noch stützen können, indem sie krass ungerecht werden und also die Betroffenen gegen sich aufbringen - heute in Irland, morgen vielleicht in Deutschland? In solchen Lagen kam es früher zum Abbau nicht nur des Sozialstaats, sondern schließlich auch der Demokratie.

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In der Reihe "Tagebuch der Krise" schon erschienen:
Stuttgarter Impressionen (2.11.2010)
Protest ohne Partei (9.11.2010)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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