Auf Autostopp mit Hegel

Leben Unser Redakteur verstand anfangs nur alle fünf Seiten einen Satz. Doch er blieb dran, und es lohnte sich: Hegels Denken lehrte ihn, mit Verlust umzugehen
Ausgabe 35/2020
„Du darfst mich getrost mit Schnee bewirten“ – verstehen Sie das?
„Du darfst mich getrost mit Schnee bewirten“ – verstehen Sie das?

Foto: Imago Images/Schöning

Als ich studierte, in der 1968er-Zeit, wurde wieder Marx gelesen und daher in großem Stil auch Hegel. Unzählige Bücher erschienen über ihn oder wurden neu aufgelegt, so von Dieter Henrich und Georg Lukács, Manfred Riedel und Alexandre Kojève, Oskar Negt und Theodor W. Adorno. Ich selbst hätte eigentlich Politikwissenschaft studieren sollen, doch als ich nach vier verschulten Semestern mit Mühe die Zwischenprüfung bestanden hatte, tat ich nichts anderes mehr, als Hegel, gelegentlich auch Marx zu lesen. Hegel gehört zu meinen seltsamsten Lektüre-Erlebnissen, denn anfangs verstand ich nur alle fünf Seiten mal einen Satz, oder bildete mir das wenigstens ein, und las ihn doch mit Begeisterung, nahm ihn sogar auf meine Autostopp-Reisen in den Sommersemesterferien mit.

Jenseits des Verstehens

Vielleicht kam es daher, dass man Hegel wie einen Dichter lesen konnte, obwohl er gegen Dichterphilosophen polemisierte. Oh, er war selbst einer, all seine Knochentrockenheit konnte das nicht verbergen. Und ja, es gibt Dichtung, die einen verändert, obwohl man kein Wort versteht. Zum Beispiel Celan: „Du darfst mich getrost mit Schnee bewirten“ – verstehen Sie das? Hell begeistert war ich von dieser Stelle in der „Vorrede“ der Phänomenologie des Geistes:

„Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen“ – zu der ein Konkretes wird, wenn Analyse es auseinanderlegt –, „ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit hasst den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgendetwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt. – Sie ist dasselbe, was oben Subjekt genannt worden ...“

Ich glaube, was hier über „das Leben“, auch mein Leben gesagt wird, ahnte ich schon damals recht gut. Hegel weist zurück, was Goethe seinen Mephisto sagen lässt: „Vorbei! ein dummes Wort. / Warum vorbei? / Vorbei und reines Nichts, vollkommnes Einerlei. / Was soll uns denn das ewge Schaffen, / Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen? / Da ists vorbei! Was ist daran zu lesen? / Es ist so gut als wär es nicht gewesen, / Und treibt sich doch im Kreis als wenn es wäre. / Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.“ Das stimmt eben nicht. Hegel sagt, dass es nicht stimmt. Wenn etwas vorbei ist, hat es deshalb sein Sein nicht verloren und wird es nie verlieren.

Harter Trost, der überzeugt

Wenn ich über den Tod eines mir nahen Menschen traurig bin, weiß ich doch, er wird immer gewesen sein, noch in Milliarden Jahren. Aber es geht nicht nur um den eigentlichen Tod. Hegel spricht so über ihn, dass man viel eher an die „Verwüstung“ und „Zerrissenheit“ denkt, die jede(r) während des Lebens hin und wieder erfährt. Eine Liebe etwa hält oft nicht ewig, vielleicht geht man im Streit auseinander, oder man wird verlassen und ist verzweifelt. Manche machen dann den Partner nachträglich schlecht, aber Hegel würde sagen, was willst du, ihr habt euch gehabt! Es ist zu Ende, ja, du kannst es aber auch Voll-Endung nennen. Wenn du das Ende „erträgst und in ihm dich erhältst“, hältst du damit auch fest, was gewesen ist. Es ist zwar „aufgehoben“ wie eine einkassierte Freiheit, du aber „hebst“ es „auf“ wie ein Dokument, das du noch mal brauchen wirst. Hast ja vielleicht auch etwas gelernt.

Das hätte Hegel jedenfalls dann gesagt, wenn seine Ansichten über die Liebe nicht so knochentrocken gewesen wären. Was sollen all diese Liebesromanzen, schreibt er sinngemäß: Ob man schließlich die oder eine andere Frau bekommen hat, ist gehupft wie gesprungen. Aber wenn es um die „Aufhebung“ anderer Sachen geht, die ja auch wirklich viel wichtiger sind als die Liebe (?), nimmt er es ernst und hat seinen harten Trost. Ich finde, er überzeugt.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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