Europäische Union Die Klagen gegen den Lissabon-Vertrag greifen zu kurz. Die eigentlichen Probleme sind das Demokratiedefizit und das Machtgefälle zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten
Dass die EU über ein Zwei-Kammer-System verfügt wie Deutschland oder die USA, wird nicht gleich ersichtlich. Aber es ist nun einmal so: Vereinigte Staaten werden immer ein Vertretungsorgan dieser Staaten und daneben eines der Bürger der Vereinigung einrichten müssen. Das sind in Deutschland der Bundesrat und der Bundestag, in der EU sind es der Rat der Ministerpräsidenten und das Europäische Parlament. Doch nun sticht der Unterschied ins Auge: Während in Deutschland die gesetzgeberische Dynamik eher beim Bundestag als beim Bundesrat liegt, sind es in der EU die Regierungschefs, welche die EU-Richtlinien aushandeln, und erst im zweiten Schritt wird das Parlament einbezogen. Auch eine Gemeinsamkeit wird sofort deutlich: in Deutschland werden die Bundesl
#228;nder nicht durch Vertreter der Wahlbevölkerung, sondern durch die Regierungen im Bundesrat repräsentiert. Genauso verhält es sich in der EU mit den Einzelstaaten. Das ist schon lange so, der Lissabon-Vertrag erweitert nur die Materien der Gesetzgebung, die durch die Doppel-Legislative geschleust werden können. Auch Justiz- und Innenpolitik sollen künftig Gegenstand von EU-Richtlinien werden können. Das Verfahren, in dem der Rat Gesetzesmaterien an sich ziehen kann, wird vereinfacht. Und die Beschlüsse des Rats werden nicht mehr wie früher einstimmig gefasst, so dass die Ähnlichkeit mit dem deutschen Bundesrat noch zunimmt.Gegen all das klagt Peter Gauweiler von der CSU, aber es ist klar, dass es ihm um mehr geht. Ihm passt die ganze Richtung nicht. Am 30. Juni wird das Bundesverfassungsgereicht seine Entscheidung verkünden. Die Staaten würden zu „bloßen regionalen Selbstverwaltungskörpern“, sagt Gauweilers Rechtsvertreter. Das sind sie schon jetzt, was spricht denn dagegen? Sie sind autonom, auch und gerade wenn sie, so Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) bei der Gerichtsverhandlung, von ihrem Recht Gebrauch machen, Rechte abzutreten.Deutschland dominiertDass Gauweiler schlechthin gegen eine EU ist, sieht man auch an seinem Widerstand gegen eine weitere Neuerung des Lissabon-Vertrags: dass nämlich die EU im Ganzen eine Rechtsperson werden soll. Dann könnte sie internationale Verträge abschließen, während solche Verträge heute noch von allen EU-Staaten einzeln abgezeichnet werden müssen. Auch hiergegen können europäisch Gesonnene doch nur dann etwas haben, wenn sie mit der Art des Zustandekommens der Verträge nicht einverstanden sind. Eben das ist der Grund, weshalb auch die Linksfraktion im Bundestag Klage eingereicht hat.Die Linke denkt proeuropäisch, doch ihr Rechtsvertreter Andreas Fisahn sagt, das Demokratieverständnis des Vertrags bewege sich „auf dem Niveau des deutschen Kaiserreiches von 1871“. Denn auch dort galten die Regierungen mehr als das Reichsparlament. Gerade weil das so war, setzte sich durch, was die Linke für Europa befürchtet oder schon eingetreten sieht: Wie die Einzelstaaten unterschiedlich bedeutsam und mächtig waren, so auch ihre Regierungen; es war natürlich, dass in ihrem Rat, wo man sich meist hinter verschlossenen Türen einigte, diejenige Regierung den Ton angab, die am mächtigsten war – die preußische. Entsprechend dominiert im Europäischen Rat die deutsche Regierung. Man sieht es immer wieder, etwa wenn es um EU-Richtlinien zur Ökologie geht und die deutsche Autoindustrie davon betroffen ist.Also nicht deshalb besteht Grund, eine EU-Verfassung zu kritisieren, weil Souveränitätsrechte abgetreten werden. Das Bundesverfassungsgericht betonte schon in der Entscheidung zum Maastricht-Vertrag: Dem Bundestag müssen Aufgaben „von substanziellem Gewicht“ bleiben, eben weil die EU sich mehr durch den Rat ihrer Regierungen als durchs Europaparlament legitimiert. Die Position des Gerichts ist klar, es hat keinen Grund, den Ansichten Gauweilers zu folgen. Aber was die Linke im Auge hat, ist eine ganz bestimmte „Aufgabe von Gewicht“: Sie klagt gegen den Vertrag, weil er europäische Militäreinsätze vorsieht. Sie will, dass hierüber das deutsche Parlament entscheidet.Frieden statt KriegWenn man nun fragt, wie die EU demokratisch reformiert werden könnte, hilft uns auch die Linke nicht mehr weiter. Sie ist ja mehr am Inhalt der Materien interessiert – Frieden statt Krieg, soziales statt monetäres Europa –, als dass sie an einer anderen Verfassungskonstruktion arbeitete.Man kann jedenfalls die Frage der Demokratisierung nicht so beantworten, dass man die vorhandene Antwort einfach umdreht, also dem Rat die legislative Dominanz wegnimmt und sie dem Europaparlament gibt. Das hieße ja, ein Einheitsgebilde würde sich repräsentieren durch Vertreter der Summe ihrer Individuen – dann müssten aber diese Individuen selbst schon einheitlich geworden sein, sie müssten rufen können: „Wir sind ein Volk!“ Die Bedingung war 1871 gegeben, alle Bürger sahen sich zuerst als Deutsche. Deshalb hätte damals, wäre es demokratisch zugegangen, die Macht beim Parlament und einer parlamentarischen Regierung liegen müssen. In der EU leben aber verschiedene „Völker“ zusammen, und die Verschiedenheit nimmt desto mehr zu, je mehr sie sich erweitert, vielleicht gar um die Türkei.Sind die „Völker“ erst vereint, gleichen sie sich auch wieder an, das kann man besonders in Westeuropa beobachten, wo der Integrationsprozess schon ein halbes Jahrhundert Zeit hatte, sich zu entfalten. Aber die EU ist auf Erweiterung geradezu angelegt, das heißt, es kommen immer neue Verschiedenheiten hinzu, so dass erst einmal diese dominant bleiben. Und mit ihnen bleibt die Dominanz des Rats der Ministerpräsidenten, ohne dass man sagen könnte, das allein mache die Verfassungskonstruktion schon undemokratisch. Den Verschiedenheiten entsprechend muss dann auch die Europäische Kommission, die als Gesamtregierung der EU figuriert, eine vom Wohl der Ministerpräsidenten abhängige und nicht eine parlamentarische Regierung sein. Demokratisierung wäre gewiss nötig. Sie kann aber nur das Ziel haben, die Machtdominanz einzelner Staaten auszuschalten. Das heißt, entsprechende Reformen hätten mehr noch an der Konstruktion des Rates als an den Rechten des Europaparlaments anzusetzen.Die Aussage, dass die EU auf Erweiterung angelegt sei, ist vielleicht nicht unstrittig, aber sie bezeichnet etwas Gutes. Es gibt die EU aus zwei Gründen: Erstens, weil ehemalige Kriegsgegner nunmehr gemeinsame Sache machen. Zweitens, weil diese Sache von der Integration eines kapitalistischen Marktes getragen wird. Vor allem dieser Markt tendiert zur Erweiterung. Je mehr potentielle Kriegsgegner er einbezöge, über desto längere Zeit wäre das eine begrüßenswerte Tendenz. Ja, die EU sollte nicht nur die Türkei, sondern auch Russland und noch ganz andere Staaten einbeziehen – dafür würde sich ein Engagement lohnen. Eben für eine EU als Friedensprozess. Aber nicht für eine, die Militäreinsätze vorbereitet und sich als Macht gegen andere Mächte setzt.
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