Am 3. Juni, Fronleichnam, beginnt ein auf anderthalb Jahre angelegtes Moskauer Raumfahrt-Experiment. Anderthalb Jahre dauert der Flug von der Erde zum Mars und wieder zurück. So lange sollen drei Russen, zwei Westeuropäer und ein Chinese in einen 180 Quadratmeter großen Containerkomplex eingesperrt werden, und man will testen, wie sie mit der Isolation und mit simulierten Katastrophen fertig werden. Das Experiment ist nicht außergewöhnlich. Auch im vorigen Jahr ließen sich Menschen 105 Tage lang in Moskau isolieren. Die jetzige Veranstaltung zeichnet nur klarere Konturen. Warum wollen Menschen zum Mars? Um ihn zu „erforschen“? Gewiss. Es ist auch ein deutsches Institut beteiligt, das den Zusammenhang von Bluthochdruck und erhöhter Kochsalzzufuhr untersucht. Doch Forschung ist nur ein Mittel zum Zweck. Der Zweck wird nicht fasslich.
In dem Buch Myth of the Machine, das einst als Klassiker der ökologischen Bewegung galt, hat sich Lewis Mumford schon früh gewundert: Die Lebensqualität auch nur eines Quadratkilometers Erde nehme es mit allen Planeten des Sonnensystems auf, schrieb er 1970. Zunächst klingt das forschungsfeindlich. Man kann Dinge ohne Lebensqualität erforschen, wie den Urknall oder eben den Mars. Doch Mumford sagt auch: Das Raumfahrtprogramm lenke die Menschheit von der Aufgabe ab, sich um ihre Heimat zu kümmern, die Erde.
Tatsächlich gibt es einen fatalen Zusammenhang zwischen Raumfahrt und Ökologie. Er besteht darin, dass man die höchste Forscherintelligenz nicht in die Erde, sondern ins Weltall investiert. Künftigen Marskolonisten zuliebe, so erfuhren wir im März, werde ein Warnsystem für Weltraumstürme entwickelt. Es soll sich auch auf der Erde dazu eignen, drei Tage früher als bisher vor solchen Stürmen zu warnen – zur Zeit ist das nur kurzfristig möglich. Der Zusammenhang von Raumfahrt und Ökologie ließ sich auch am Experiment „Biosphere-2“ in der Wüste von Arizona gewahren. Dort wurden in den Neunzigern Menschen und Pflanzen zugleich isoliert. Viele redeten sich damals ein, der ökologische Kreislauf werde getestet, das Recycling der Luft und überhaupt alles Natürliche im geschlossenen System. Doch „Biosphere-2“ war die Simulation eines Weltraumszenarios, dessen inszenierte Ökologie nicht der Rettung der Erde diente, sondern zeigen sollte, dass man Ökosysteme überall hin mitnehmen kann. Auch auf den Mars.
Erde und Mensch als Feinde
Von James Lovelock, den man als Vater der „Gaia-Hypothese“ kennt, als kybernetisch und „spirituell“ beschlagenem Ökologen, stammt die Idee, den Mars zur zweiten Erde zu machen, indem man ihn mit CO2 der ersten umhüllt. Sie wird heute ernsthaft verfolgt. Lovelock forschte im Auftrag der NASA, deren früherer Planungschef Jesco von Puttkamer sagte, Erde und Mensch seien Feinde. Da der Mensch einen Energiehaushalt ganz anderer Größenordnung brauche, vertrügen sie sich nicht miteinander. Kurzum: Energiesparen ist keine Option, eher wird die Erde eingespart.
Gehen wir in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Robert Jungk, der erst später zum Ökologen wird, besucht Forschungslabors in Kalifornien und findet Gelegenheit, die ersten Pioniere der Schwerelosigkeit zu besichtigen – Menschen, die „geschüttelt, geschlagen, gebeutelt, verbrüht, vereist, erstickt, zerquetscht“ werden, so steht es in seinem Bericht von 1952. Das alles geschieht auf freiwilliger Basis. Wie wir sehen, sind Menschen nicht nur willens, die Erde zu verlassen; sie sind auch, um das tun zu können, bereit, die größten Qualen auf sich zu nehmen.
Menschen? Männer. Auch jetzt am Moskauer Experiment sind nur Männer beteiligt, Frauen fehle es noch an der nötigen Qualifikation, steht in der Zeitung. Kein Zweifel, dass irgendwann auch Frauen dazu kommen werden. Doch das Verlassen der Erde ist zunächst ganz eindeutig eine männliche Idee. Vom russischen Raumfahrtpionier Ziolkowski sind die Worte überliefert, dass die Erde zwar die Wiege der Menschheit sei, der Mensch aber ja nicht ewig in der Wiege bleiben könne. Die Erde erscheint als Mutter, die Mutter als Kehrseite der femme fatale, und gegen alle drei richtet sich zu Ziolkowskis Zeit, also um 1900 herum, eine seltsame Mordlust-Ästhetik – man weiß nicht recht, wie sie gemeint ist. Mörder, Hoffnung der Frauen heißt ein Drama Oskar Kokoschkas. „Hasst die Erde! Hasst die Erde!“, dichtet Hermann Scheerbarth, ein Pionier der Glashaus-Architektur. Der Futurist Marinetti will von der Venus von Samothrake nichts mehr wissen und bezeichnet die Erde als unrein. In seinem Roman Mafarka wird sie von einem zum Mars fliegenden Maschinenwesen vernichtet. Der Roman beginnt mit einer Massenvergewaltigung von Afrikanerinnen durch Soldaten.
Diese und viele weitere Beispiele zeigen: „Mann“ will die Erde nicht deshalb verlassen, weil sie bedroht ist, sondern umgekehrt, er bedroht sie, weil er sie verlassen will. Wie eine gehasste Mutter oder zu schwierige Geliebte. Später regen sich deshalb auch Schuldgefühle. Das Ökologieproblem wird vielleicht weniger darum bewusst, weil man es lösen will – unsere Politiker scheinen das nicht zu beabsichtigen –, denn weil es als Projektionsfläche endlose Schuldeingeständnisse ermöglicht.
Die Qual als Sühne
Das begann schon mit den ersten Erdfotos aus dem All, die von vielen als Beginn weltweiten ökologischen Bewusstseins angesehen werden. Diese Fotos hätten spontan schockiert, wird oft berichtet. Warum nur? Lovelock zum Beispiel wollte gesehen haben, dass die Biosphäre „nur eine dünne, verletzliche Hülle“ um die Erde herum bilde. Seltsam. Bin ich schockiert, wenn ich im Winter eine bekleidete Frau sehe? Vielleicht wenn mir der Gedanke kommt, ich könnte es ihr vom Leib reißen, um sie erfrieren zu lassen. Von Lovelock stammt auch das Wort, die Erde zelebriere eine „sacred ceremony“. Als Norman Mailer sich fragte, was wohl in dem Mann vorgegangen sei, der als erster die Erde vom Mond aus sah, schrieb er: „Wie mit dem Auge eines gerade ermordeten Opfers starrte die Erde Armstrong ins Gesicht.“ Armstrong selbst verglich sie mit einer „blauen Pupille“.
Es ist sicher schwer zu ertragen, von solchen Phantasien heimgesucht zu sein. Man kann gut verstehen, dass manche sich selbst opfern oder quälen lassen, um die Opferung der Erde zu sühnen. Das schlechte Gewissen wird auch in dem Roman Solaris von Stanislaw Lem sichtbar, der ein Jahr vor Armstrongs Mondlandung veröffentlicht wurde. Die Forscher, die den rätselhaften Planeten Solaris umkreisen, empfangen „Gäste“ von ihm, unzerstörbare Bilder ihrer Schuld. Der Held der Geschichte wird von seiner früheren Frau heimgesucht, die er in den Tod getrieben hatte. Wenn er glaubt, es sei ihm gelungen sie erneut zu töten, hat sie es nicht einmal gemerkt. Mit demselben Gesicht, das „alles mit gedämpfter Verwunderung besah, die sich nur in den Augen ausdrückte“, kommt sie zurück. Die Männer sehen schließlich keinen anderen Weg, als den zwar faszinierenden, aber unbegreiflichen Planeten zu vernichten. Solaris ist natürlich die Erde. Lem projiziert sie in den Himmel und kehrt die Reihenfolge um, denn tatsächlich zerstört man sie nicht, weil man schuldig ist, sondern ist schuldig, weil man sie zerstört.
Es geht leider nicht nur um Poesie. Phantasien, wie man nicht nur die Erde, sondern das ganze Weltall vernichten könnte, werden heute nicht mehr von Dichtern, sondern von Physikprofessoren wie jenem Frank Tipler unterbreitet, dessen Bücher im Piper-Verlag erscheinen. Einer der bedeutendsten lebenden Theologen, Wolfhart Pannenberg aus München, hat ihn des öffentlichen Gesprächs gewürdigt: Der deutsche Lutheraner und der US-amerikanische Baptist streiten darüber, was „Auferstehung“ bedeutet. Dass es Physiker gibt, die der Menschheit bescheinigen, sie sei evolutionär am Ende und habe einer „intelligenten“ Maschinenpopulation Platz zu machen, war das letzte, was André Gorz seinen Lesern mitteilte, bevor er starb.
Doch nun greifen wir weit ins Utopische voraus. Vorerst werden Astronauten nicht abgeschafft, sondern müssen sich quälen. Die Einsicht, dass auch die Qual nichts nützt, wird ihnen noch kommen. Berechnungen haben ergeben, dass 18 Monate in der Schwerelosigkeit die Knochenmasse um ein Viertel schrumpfen lassen. Robert Jungk hörte in Kalifornien, „der Mensch sei eigentlich eine Fehlkonstruktion, weil er so wenig geeignet sei, die künftigen Beschwernisse eines grenzenlosen Fortschritts zu ertragen“. Der Mensch? Der Mann vielleicht. Weil er vor Maschinen abdanken will, statt Frauen zu ertragen.
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