Auf der Suche nach dem anderen Leben (1)

Bedürfnis und Bedarf Kollektive können nützlich sein bei der Erforschung der ökologischen Lebensweise. Es muss aber etwas herauskommen, das alle praktizieren können, selbst Singles

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Konsumgewohnheiten müssen sich schon vor der Revolution ändern – zuweilen reicht auch einfach eine Reduzierung des Konsums
Konsumgewohnheiten müssen sich schon vor der Revolution ändern – zuweilen reicht auch einfach eine Reduzierung des Konsums

Foto: Terry Fincher/Express/Getty Images

Ich will zur Frage, was eine ökologische Lebensweise sein könnte, etwas schreiben. Sie ist in einigen Texten von mir schon angeklungen, zuletzt im Dezember (Käufer, vereinigt euch, Ausgabe 52/2019), aber immer nur ganz kurz und es war klar: Um im Kampf für den Erhalt, oder inzwischen schon die Wiederherstellung, der ökologischen Gleichgewichte voranzukommen, musste gerade hier angesetzt werden, gerade diese Frage bedurfte der Ausarbeitung. Da sie kompliziert ist, kann ich nicht einen Artikel aufs Blatt werfen, sondern muss mich der Antwort im ausführlichen Schreiben nähern. Ich habe mich dieses Verfahrens schon früher bedient, zuletzt bei den Vier Bögen zur Geschichte der Grünen. Auch meine jetzige Niederschrift wird aus vier Teilen bestehen. Um den Zusammenhang zu wahren, wiederhole ich auch Dinge, die ich in anderen Texten geschrieben habe, doch es kommt Neues hinzu.

Die Frage der ökologischen Lebensweise kann nicht, wie manche meinen, auf einen Zeitpunkt „nach der Revolution“ verschoben werden. Erst „die Konzerne entmachten“ und dann die Konsumgewohnheiten ändern, besser gesagt die Konsumismus-Gewohnheiten, das geht nicht. Aus zwei Gründen: Erstens ist es zwar richtig, dass der Kapitalismus wegen seines inneren Zwangs zum permanenten „Wachstum“ die Haupt- und entscheidende Schuld an der Zerstörung der ökologischen Gleichgewichte trägt, so dass alles daran hängt, ihn durch eine andere Produktionsweise zu ersetzen. Doch kann man ihn nicht auf die Kapitalisten und ihr Eigentum an den Produktionsmitteln, den Unternehmen reduzieren. Denn er besteht auch im Erfolg dieser Kapitalisten, ganze Bevölkerungen für ihre Waren zu interessieren. Wer glaubt, man müsse nur sie, die Kapitalisten, dazu zwingen, bestimmte Waren nicht mehr produzieren oder anders produzieren zu lassen, wird nicht nur mit ihnen in Konflikt geraten, sondern sich auch mit den Käuferinnen überwerfen.

Was zum zweiten Grund führt: Selbst wenn es möglich wäre, erst die Kapitalisten zu entmachten und dann zuzusehen, wie sich anschließend die Konsumenten freiwillig (?) verändern – worauf zu hoffen die einstige SED infolge der Umstände ihres Machtantritts gezwungen war, aber ob gezwungen oder nicht, hat es sich da schon um eine kühne wenn nicht unplausible Hoffnung gehandelt -, selbst dann müsste es ja außerdem noch möglich sein, diese Entmachtung der Kapitalisten erst einmal überhaupt stattfinden zu lassen. Wem aber soll sie denn gelingen, wenn nicht eben den Konsumentinnen, aus denen die Bevölkerung besteht? Eine Partei, die es „besser weiß“ als sie, sie aber nicht überzeugen kann - vor der Revolution, zum Zweck der Revolution und ihrer Nachhaltigkeit -, wird scheitern, egal ob sie den Aufstand oder einen Wahlsieg versucht.

Es stimmt schon, eine andere Lebensweise setzt eine andere Produktionsweise voraus. Aber auch die Umkehrung ist wahr: Eine andere Produktionsweise setzt eine andere Lebensweise voraus. Diese muss zumindest schon gewollt werden, von immer größeren Teilen der Bevölkerung. Deshalb ist es wichtig, sie hier und heute zu diskutieren. Klar, das wird längst schon getan. Aber es geht nicht nur darum, eine solche Diskussion nur auszuweiten. Damit sie sich ausweiten kann, muss sie auch qualifiziert werden. Drei Mängel sehe ich, zu deren Behebung mein Text beitragen will, und einem bin ich durch die Art, wie ich begonnen habe, schon ausgewichen: Die bisherige Diskussion ist zu sehr der Frage des ökologischen oder antiökologischen Charakters einzelner Güter, zum Beispiel des Fliegens oder Autofahrens, verhaftet. Man muss vielmehr fragen, wie sich die Güter im Leben der Menschen zum System zusammenschließen. Das System verändert sich mit seinen Elementen, aber auch umgekehrt das Element mit dem System. Deshalb bin ich von der Lebensweise ausgegangen.

Ein anderer Mangel, der mit dem eben genannten eng zusammenhängt, liegt vor, wenn der Übergang zur ökologischen Lebensweise als „Verzicht“ auf die antiökologische gedacht wird. Denn es ist zwar richtig, dass man um der Ökologie willen auf bestimmte einzelne Güter verzichten oder den Umfang, in dem wir sie zu konsumieren belieben, reduzieren muss; schaut man aber auf die ganze Lebensweise, geht es umgekehrt darum, eine bessere zu bekommen, nicht also zu verzichten, sondern zu gewinnen. Das ist möglich und es ist die Vorbedingung dafür, dass der Übergang zu einer anderen Lebensweise überhaupt gewollt werden kann. Aber was macht eigentlich eine Lebensweise aus? Dieser Frage will ich hier nachgehen. Eine Lebensweise, sei sie ökologisch oder antiökologisch, hat eine Struktur oder ist vielmehr eine Struktur aus Strukturen; diese zu benennen und ins Verhältnis zueinander zu setzen, will ich versuchen. Im Maß wie es gelänge, würde man sehen, wo Veränderungen der jetzigen Lebensweise ansetzen könnten.

Interindividuelle Bedürfnisse

Drittens sind es in der Regel Kollektive, die eine neue Lebensweise auszuarbeiten versuchen, wenn das denn überhaupt einmal geschieht. So findet man auf der Website der Heinrich-Böll-Stiftung einige Hausgemeinschaften, die ihren Konsum kleinhalten und ökologisch korrekt gestalten, auch durch kollektive Arbeit und gemeinsame Nutzung bestimmter Güter, soweit das alles in der Welt von heute möglich ist. Ältere werden sich überdies an Rudolf Bahros Landkommune erinnern. Solche Projekte sind wichtig, egal ob sie erfolgreich sind oder scheitern, denn ihr experimenteller Weg wird immer zu Entdeckungen oder zur Widerlegung von Erwartungen führen. Wenn sie aber das Einzige sind, was als Weg zur neuen Lebensweise erscheint, haben wir ein Problem, denn es versteht sich nun keineswegs von selbst, dass man, ökologisch oder nicht, im Kollektiv besser lebt als nur zu zweit, in der Kernfamilie oder im Singlehaushalt, wo man stets nur fallweise mit den Bekanntschaften, Freunden und Freundinnen zusammentrifft. Mehr noch, mir scheint es evident, dass jeder Mensch letztendlich allein ist, was nicht einsam heißen muss, und das fast immer auch weiß; man braucht die Schutzorte des Alleinseins, wie man das Zusammensein mit Anderen braucht; gilt das zwar auch für Menschen, die im Kollektiv leben, ist es doch für die meisten ein Grund, die kollektive Lebensform abzulehnen. Ich sehe auch nicht, warum das schlecht sein sollte. Für unser Thema heißt es, dass wir unsere Frage, wie eine neue Lebensweise aussehen könnte, nicht an Kollektive richten, sondern ans gewöhnlich außerhalb ihrer lebende Individuum. Wir grenzen damit die Kollektive nicht aus, denn auch wer diese Lebensform gewählt hat, ist einem individuellen Bedürfnis gefolgt.

Gegen Bahro allerdings wenden wir ein, dass er zwischen Individuum und Kollektiv einen regelrechten Gegensatz aufgerissen hat, an dem er nicht nur persönlich gescheitert ist, sondern der überall scheitern müsste. Er macht nämlich „das Ego“ an und für sich für die ökologischen Probleme verantwortlich, indem er es für überhistorisch „expansiv“ hält, und eben das ist sein Grund, den Menschen das Kollektiv vorzuschlagen; sie sollen sich ihr Ego abgewöhnen. Diese Zweideutigkeit, in der „ego“ an „egoistisch“ denken lässt, an sich aber ja nur die Übersetzung von „ich“ ins Lateinische ist, weisen wir zurück, zumal sie der von Bahro ganz offen geforderten Ökodiktatur zuarbeitet. Andererseits ist es nun gerade Bahro, an dessen Beantwortung der Frage, was eine bessere und dabei ökologieverträgliche Lebensweise sein könnte, wir am ehesten anknüpfen können; er arbeitet nämlich heraus, dass Lebensfreude nicht im Konsum gewonnen wird (obwohl sie von ihm mit abhängt). „Das, worauf es ankommt: wirkliche Begegnung mit Anderen, Freundschaft und Liebe, Schönheit und Ordnung eines Milieus, Weisheit und Kultur im Umgang mit Konflikten“, „volle Entfaltung jenes humanen Potentials [...], das in der Polarität der erotischen und spirituellen Energien liegt“. Schade, dass er es als Ordnung denkt, die er uns überstülpen will und die dann natürlich „spirituell“ überhöht werden muss („Zentrierung des Alltags um eine spirituelle Praxis [...], in der sich Eros, Logos und Arbeit versöhnen und überhöhen lassen“); aber auch wenn wir selbstbestimmt leben, wird uns Freundschaft, Liebe, Schönheit wichtiger sein als irgendein Kaufobjekt, das nicht nur Geld kostet, sondern zudem noch die Umwelt verseucht. An diesen wirklich grundlegenden Gedanken knüpfe ich an.

Wir gehen also vom Individuum aus – fügen aber gleich hinzu: Es gibt kein individuelles Bedürfnis, das nicht immer schon auch interindividuell wäre. Ich eröffne mit diesem Satz meine Strukturanalyse. Er ist deren Axiom. Interindividuell heißt nicht kollektiv; man denke nur an die erotische Liebe, gewiss ein elementares oder das elementarste Bedürfnis jedes Individuums; sie kann überall entstehen und so auch im Kollektiv, wie ebenso in der Wüste, wenn plötzlich nach Tagen ein zweiter Mensch auftaucht; aber wo immer sie entsteht, schließt sie, auch wenn sie sich nicht erfüllt, den anderen Menschen ein. Ich spreche von Ökologie, der ökologischen Lebensweise, aber wie wir mit Bahro sahen, führt Liebe nicht vom Thema ab; es bedeutet nur, dass wir beim Bedürfnis, diesem wie jedem andern, nicht stehenbleiben können, vielmehr den Bogen von ihm zum Bedarf schlagen müssen. Der Bedarf, als Übersetzung des Bedürfnisses ins Ökonomische, in die Anwendung nämlich meiner Kaufkraft auf das Gut oder die Güter, die mir zur Bedürfnisbefriedigung angeboten werden, ist freilich eine weder kollektive noch interindividuelle, sondern weiter nichts als individuelle Erscheinung. Zum Beispiel, ich kaufe etwas, um es der Frau, die ich liebe, zu Weihnachten zu schenken. Was ich kaufe, ist allein meine Sache, obwohl oder, in diesem Fall, gerade weil es sich der Beurteilung durch die Empfängerin aussetzt. Aber da sieht man schon, es fällt nicht vom Himmel - es rührt von einem Bedürfnis her und an dem bin nicht nur ich beteiligt. Und ich behaupte nun, diese Relation von Liebesbedürfnis und –bedarf ist für jeglichen Bedarf das Modell, auch wenn die Liebe sicher ein zugespitztes Beispiel ist. Mehr noch, gerade die Zuspitzung macht sie zum ökologischen Modell, denn beim Liebesbedürfnis wird besonders deutlich, dass seine Interindividualität sich nicht an der Höhe des Preises misst, den ich etwa für ein Geschenk ausgebe. Unser Glück, um es allgemeiner zu sagen, hängt wahrscheinlich nicht davon ab, dass besonders viel produziert und verkauft werden muss. Und wenn sich Produktion und Konsum in Grenzen halten, dann auch die Schadstoffe.

Es ist eine zentrale Einsicht: Um den ökologischen oder antiökologischen Charakter einer Lebensweise zu erkennen, müssen wir zwar die Struktur des Bedarfs herausarbeiten, den ein Individuum „sich leisten kann“ und dann auch beansprucht. Der Bedarf ist für sich genommen eine rein ökonomische Kategorie, hat den homo oeconomicus zum Subjekt und dieser wird, in der mit Geld operierenden Marktwirtschaft, als pures Individuum gedacht. Das ändert aber nichts daran, dass die Analyse dieser Struktur – mit der ich im morgigen Eintrag beginne - an der Lebensweise und das heißt am interindividuellen Charakter der Bedürfnissen ansetzen muss. Denn darin, dass sie diesen Charakter haben, erklären die Bedürfnisse den Bedarf und nicht umgekehrt.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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