Auf der Suche nach dem anderen Leben (2)

Bedürfnis und Bedarf Bezeichnend genug ist Prostitution ein Lieblingsthema der großen französischen Romane des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Warengesellschaft erst voll ausgebildet hat

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Auch in der voll ausgebildeten Warengesellschaft des 19. Jahrhunderts zeigt sich: Die Liebe kann man nicht kaufen. So wird die Prostitution nicht zufällig zum Thema der Romanciers dieser Zeit
Auch in der voll ausgebildeten Warengesellschaft des 19. Jahrhunderts zeigt sich: Die Liebe kann man nicht kaufen. So wird die Prostitution nicht zufällig zum Thema der Romanciers dieser Zeit

Bild: Rischgitz/Getty Images

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Welche Bedürfnisse jemand hat, mag dem oder jenem Einfluss unterlegen haben, sie zu bestimmen ist allein seine oder ihre Sache. Da sich aber Einiges doch allgemein über sie sagen lässt, will ich jetzt versuchen, in drei Analyseschritten zur Bestimmung einer Struktur der Bedürfnisse zu gelangen; wir werden sehen, dass sie ihrerseits aus drei Strukturelementen besteht. Unser Ziel sei zuvor noch einmal in Erinnerung gerufen: Wir wollen vom Bedürfnis zum Bedarf gelangen; der Bedarf ist Kaufbedarf und wird mit Gütern beantwortet, deren ökologische Verträglichkeit in Produktion und Konsum uns nicht gleichgültig sein kann; wir fragen nach einer Lebensweise, die ökologischen Schaden nicht impliziert, und setzen daher bei den Bedürfnissen an, um sie anschließend in den Bedarf zu übersetzen.

Ich gehe induktiv vor und fange mit dem Nächstliegenden an, das sind meine leiblichen Bedürfnisse. Essen, trinken, schlafen, bewegen, wahrnehmen, sexuelle Befriedigung. Im Hinblick auf den folgenden zweiten Schritt ist schon hier zu sagen, dass die Stillung dieser Bedürfnisse zwar keineswegs fehlen darf, als solche aber noch nicht zufrieden oder gar glücklich macht. Was sie zusammengenommen bewirken, ist aber immerhin Gesundheit, soweit diese von der Aktivität des Leibes abhängt, wir also von möglichen psychosomatischen Beeinträchtigungen absehen sowie davon, dass der Leib vielleicht Feinstaub aufnehmen muss oder sein Subjekt in unmittelbarer Nähe eines Atomkraftwerks lebt. Leibliche Gesundheit allein macht aber noch keine Lebensweise. Wenn wir von der Lebensweise ausgehen, stellen wir umgekehrt fest, dass die rein leibliche Natur eines Bedürfnisses eigentlich nur dann als solche hervortritt, wenn es eben unbefriedigt bleibt; es ist sonst immer schon kulturalisiert. So erleben wir die sexuelle Befriedigung als Erotik und dient sogar das Essen, wie Claude Lévi-Strauss gezeigt hat, nicht bloß der Nahrungsaufnahme, sondern symbolisiert etwa im Unterschied des Gebratenen und Gekochten verschiedene Grade der Kulturdurchdringung (oder können, was bekannter ist, verschiedene Nationen sehr unterschiedlichen Küchen haben). Über Bewegen und Wahrnehmen denken wir wohl niemals nach, falls wir nicht behindert sind, es fällt aber denen als gesundheitsnotwendig auf, die sich in „Isolationsfolter“ befinden; wenn wir es tun, gehen wir vielleicht in einer schönen Landschaft spazieren.

Es gehört zu den Fatalitäten der Kapitallogik, dass sie nur dann funktioniert, wenn sie die seit vielen tausend Jahren kulturell umkleideten leiblichen Bedürfnisse möglichst wieder auf ihre akulturelle Nacktheit zurückwirft. Sie lassen sich dann am einfachsten in den massenhaften Bedarf übersetzen. So ermutigt man die kulturell ärmsten, weil auch sonst ärmsten Bevölkerungsschichten dazu, mehr zu fressen als zu essen, überhaupt sich mehr auf Ess- und Trinkgüter zu kaprizieren, als es selbst bei relativ geringem Einkommen nötig wäre. Im 18. Jahrhundert, erinnert Yuval Hariri, riet die Königin von Frankreich, Marie Antoinette, den hungernden Massen, „wenn sie kein Brot hätten, sollten sie doch einfach Kuchen essen. Heute nehmen die Armen diesen Vorschlag für bare Münze. Während die reichen Bewohner von Beverly Hills sich an Gartensalat und gedämpften Tofu mit Quinoa erfreuen, stopfen die Armen in den Slums und Ghettos Schokoriegel, Käsesnacks, Hamburger und Pizza in sich hinein. Im Jahr 2014 waren mehr als 2,1 Milliarden Menschen übergewichtig, während 850 Millionen an Unterernährung litten. Für 2030 geht man davon aus, dass die Hälfte der Menschheit Übergewicht haben wird. 2010 starben rund eine Million Menschen an Hunger bzw. Unterernährung, während der Fettleibigkeit drei Millionen zum Opfer fielen.“ Auf dem Umweg also, dass Kapitallogik nicht nur eine Ökonomie begründet, sondern eine ganze Kultur induziert, wird die Nacktheit der Nahrungsaufnahme, die sie hervorruft, ihrerseits zur Lebensweise, und was für einer. Gerade auch ökologisch ist sie fatal: Wie ich hier nicht ausführen kann – man ziehe etwa Jemery Rifkin zu Rate, Das Imperium der Rinder, Frankfurt/M. New York 1994 -, richtet allein der Hamburger mit seinem Rindfleischverbrauch ungeheuren Schaden an, ganz abgesehen davon, dass es ihn ohne den ebenfalls schädlichen Massenautoverbrauch gar nicht gäbe.

Von der Konsumseite her bestätigt sich somit, was Marx über die Produktionsweise des Kapitalismus schrieb, dass sie nämlich auf dem Zwang der Proletarier, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, weil sie sonst verhungern würden, beruht – auf der Nacktheit also ihrer leiblichen Bedürfnisse. Die kulturelle Seite dieses Aspekts hat Karl Polanyi gebührend hervorgehoben: Ganz gleich, schreibt er, „ob es sich um den Hunger oder den Sexualtrieb handelt, in beiden Fällen ist es verhängnisvoll, die Trennung von ‚materiellen‘ und ‚ideellen‘ Komponenten des Menschen“ (wir würden sagen: von leiblichen und kulturellen Komponenten) „zu institutionalisieren. Im Zusammenhang mit dem Sexualtrieb ist diese [...] Wahrheit längst erkannt worden: sie ist die Grundlage der Institution der Ehe“ (wir würden der Ehe andere Formen der kulturellen Umkleidung zur Seite stellen). „Im gleichermaßen entscheidenden Gebiet der Ökonomie hingegen wurde sie vernachlässigt. [...] Unsere biologische Abhängigkeit von Nahrung wurde bloßgelegt und der blanken Angst vorm Verhungern die Zügel freigegeben. Unsere entwürdigende Versklavung im ‚Materiellen‘, die zu mildern der Zweck jeglicher Kultur ist, wurde absichtlich verschärft.“

Im Maß wie es gelingt, die leiblichen Bedürfnisse rein für sich zu fixieren, das heißt ihres kulturellen Kleids zu berauben, werden sie selbst zu Raubbedürfnissen oder wenigstens solchen des puren Habenwollens. Man befriedigt sie, indem man Objekte nimmt - das können Subjekte sein, die man als Objekte behandelt -, sei’s durch Zahlung oder Gewalt. Dass dieser Verhaltenskomplex seinerseits ein Stück Kultur ist und sich so auch in Lebensweisen niederschlägt, rührt daher, dass es ein nichtleibliches und dabei ebenso nacktes Bedürfnis gibt, wie es sonst nur leibliche Bedürfnisse sein können: das kapitalistische Gewinnstreben. Es war mächtig genug, eine derart akulturelle Kulturdimension hervorzubringen. Doch wie Polanyi zeigt, ist auch diese Nacktheit nur ein historischer Zwischenfall. „Das Gewinnstreben war für den Kaufmann ebenso kennzeichnend wie Tapferkeit für den Ritter, Frömmigkeit für den Priester und Stolz für den Handwerker. Der Gedanke, dass man das Gewinnstreben allgemeingültig machen könnte, ist unseren Vorfahren nie in den Sinn gekommen.“ Die Ökonomie funktionierte trotzdem sehr gut: „Die Initiativen entspringen höchst unterschiedlichen Quellen, wie Sitte und Tradition, öffentlicher Pflicht und privaten Verpflichtungen, religiösen Vorschriften und politischer Treue, gesetzlichen Pflichten und administrativen Verordnungen, festgelegt vom Fürsten, der Stadtgemeinde oder der Zunft. Rang und Status, gesetzlicher Zwang und Strafandrohung, öffentliches Lob und privater Ruf gewährleisten, dass der einzelne seinen Teil zur Produktion beiträgt.“

Nichts von all dem kann gekauft werden

So mächtig das nackte Gewinnstreben indessen ist, das heißt geworden ist, erlangte es doch nie den Status, typisch für Bedürfnisse überhaupt zu sein. Diesen wende ich mich jetzt zu, es ist mein zweiter Schritt. Dass sie insgesamt auf „Glück“ oder Zufriedenheit zielen, ist klar. Wahrscheinlich muss man hier unterscheiden, denn dass jemand glücklich sein kann, ohne auch das Unglück zu kennen, kann ich mir nicht vorstellen, da beide Zustände denselben Ausgangspunkt haben - die Offenheit des Erlebenkönnens. Dagegen ist es eine Alternative, ob ich, sei’s heute oder im ganzen Leben, zufrieden bin oder nicht. Zufriedenheit kommt zustande, wenn mindestens einige Einzelbedürfnisse, die mir als wichtigste erscheinen, irgendwie hinreichend befriedigt sind. Was ist wichtig? Würde man mich fragen, ich käme neben der erwiderten Liebe, von der schon die Rede war und die sich auf Partner, gleichzeitig aber auch auf Kinder beziehungsweise Eltern beziehen kann, auf der Liebe ähnliche Dinge wie Freundschaft, Hilfe, Anerkanntsein, dann auf ganz anders scheinende wie Wissen und Entdecken, Abenteuer, Schaffensfreude, Kunstgenuss, Ekstasen, „ewige“ Augenblicke, schließlich auf Selbstbestimmung und Ohne Angst Leben. In Wahrheit überschneiden sich die Begriffe, zum Beispiel wird, wer Anerkennung in der Arbeit findet, mit Schaffensfreude reagieren, wie diese umgekehrt das Anerkanntsein erleichtert. Dass alle genannten Bedürfnisse auf Zufriedenheit zielen, ist das eine, ihre durchgängig interindividuelle Natur das andere. Es war richtig, in der Liebe insofern das Modell zu sehen: „All you need is love“ heißt, dass ich die mich liebende andere Person brauche, wie diese umgekehrt mich braucht, und ebenso wird, wer anerkannt wird, von anderen anerkannt, was besonders dann geschieht, wenn er oder sie bereit ist, auch seiner- oder ihrerseits andere anzuerkennen; entsprechend teilt sich der Kunstgenuss in Darbietung und Rezeption, vor allem gehören auch Ausbildende dazu; Selbstbestimmung wäre kein Thema, wenn es nicht das Zusammenleben mit anderen wäre, in dem sich zeigte, ob andere sie zulassen und sie einem selber gelingt; ebenso Angstfreiheit.

Worauf ich hinauswill, ist dass nichts von all dem gekauft werden kann. Am wenigsten die Angstfreiheit, denn Bodyguards sind das sicherste Zeichen ihres Fehlens. Die Qualität der ästhetischen Ausbildung hängt gewiss vom öffentlichen oder privaten Geld ab, das in sie gesteckt wird, aber wenn der Wille fehlt, sich auf die Fremdheit ästhetischer Objekte einzulassen, ist es vertan. Dieses Beispiel zeigt ferner, wie Bedürfnisse gerade auch darin interindividuell sind, dass andere sie anstoßen. Mit Geld hat das erst einmal gar nichts zu tun, vielmehr mit Hilfe, die, wie wir sahen, selbst ein wichtigstes Bedürfnis ist. Der Arzt, der in Peter Weiss‘ Roman Die Ästhetik des Widerstands jungen Arbeitern, mit denen zusammen er im Untergrund gegen die Hitlerbarbarei kämpft, den Pergamon-Altar erklärt, nimmt natürlich kein Geld dafür. Er hat ein anderes Motiv, er weiß, die Arbeiter werden im Bildprogramm des Altars ihren Kampf wiedererkennen, zugleich aber eine Fremdheit wahrnehmen, von der sie erkennen, dass sie nicht nur im ästhetischen Gegenüber liegt, sondern in ihnen selber. Die Analogie zur Liebe ist groß, denn auch in ihr geht es darum, mit der Fremdheit des oder der anderen zurechtzukommen, dabei sich selbst besser kennenzulernen. Und auch die Liebe kann man nicht kaufen. Bezeichnend genug ist Prostitution ein Lieblingsthema der großen französischen Romane des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Warengesellschaft erst voll ausgebildet hat. Balzac oder Zola zeigen, wie noch so viel Finanzierung nur dazu führt, dass die vom Geschäftsmann ausgehaltene Frau sich umsieht, ob ein anderer noch mehr in ihre Garderobe und schlossähnliche Wohnung investieren kann, während es aber auch Liebespaare gibt, die nur sich selbst brauchen - oder bräuchten, fehlte ihnen nicht zum sonstigen Leben das Allernötigste.

Die Erinnerung an diese Literatur gehört zur Sache, denn es ist gezeigt worden, dass unser heutiger Konsumismus auch von Vorbildern herrührt; in Europa waren es vor einem halben Jahrtausend die Päpste, die ihre Bedeutung mit glanzvoller Kleidung und Behausung zu illustrieren begannen, an ihnen orientierte sich der Adel und am Adel die Bourgeoisie, als sie im 19. Jahrhundert zur herrschenden Klasse aufstieg. Die ungeheure Verschwendungssucht, die zunächst auf sie selbst beschränkt blieb, ist dann, als eine „neue Mittelschicht“ entstanden war, in den reichsten Ländern zum Fluchtpunkt großer Teile der Bevölkerung geworden. Besonders auch, weil ohne Konsumismus längst kein funktionsfähiger Kapitalismus mehr möglich wäre. Aber schon die Verschwendung im 19. Jahrhundert hatte aufgehört, bloß eine Statusfrage zu sein; schon diese Bürger wollten Glück erlangen, Liebe, ja überhaupt einen Lebenssinn, und fanden ihn nicht. Geld scheffeln, das konnten sie, was sie aber fanden, war der Erste Weltkrieg.

Man kann fragen, wie Liebe sich denn sonst erlangen lässt, wenn nicht durch Kaufen. Die Frage hat etwas von „sich dumm stellen“, doch es einmal auszusprechen führt weiter: Zwei Menschen, die sich in den jeweils anderen nicht nur hineinversetzen können, sondern sich für das, was ihnen dort begegnet, dann auch „interessieren“ und sich darauf einlassen, im Guten wie im Bösen, die sind liebesfähig. Wenn jemand anfängt, die Liebe zu suchen, hängt viel davon ab, ob das Leben in der Familie, besonders die Mutter-Kind-Beziehung, ein hilfreiches Vorbild gewesen ist. Wenn nicht, kann bis zu einem gewissen Grad die Partnerin helfen, oder der Partner. Es gibt jedenfalls ein grundlegendes Können, das man haben oder erlernen muss, die Fähigkeit zur „wechselseitigen Perspektivenübernahme“. Der Einfachheit halber will ich von Kommunikationsfähigkeit sprechen. Wir sind damit an dem Punkt, von dem aus eine Struktur der wichtigsten Bedürfnisse sich zu zeigen beginnt – dritter Schritt dessen, wonach wir gesucht haben. Denn dieses Können umfasst zwar nicht alle genannten Bedürfnisse, aber doch eine ganze Gruppe: Liebe, Freundschaft, Hilfe, Kunstgenuss... Letztendlich braucht man die Fähigkeit immer, hier aber ist sie als Voraussetzung konkurrenzlos. Wir können nun fragen, welche Bedürfnisse ebenso grundlegend sind wie diese, zu deren Befriedigung man vor allem Kommunikationsfähigkeit braucht. Ich gehe der Frage im nächsten Eintrag nach.

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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