Auf der Suche nach dem anderen Leben (3)

Bedürfnis und Bedarf In einer befreiten Gesellschaft, schrieb Marx, werde „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“ sein. Ist das plausibel?

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Marx hatte Recht: In der befreiten Gesellschaft tritt die Befriedigung, die mit der Arbeit einhergeht in den Vordergrund
Marx hatte Recht: In der befreiten Gesellschaft tritt die Befriedigung, die mit der Arbeit einhergeht in den Vordergrund

Foto: Johannes Eisele/AFP via Getty Images

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Auf die Frage, welche Bedürfnisse so grundlegend sind wie die, zu deren Befriedigung man vor allem Kommunikationsfähigkeit braucht, war der vorige Eintrag hinausgelaufen. Zwei finden wir, von denen es gesagt werden kann: Sicherheit und Aufgabe / Beruf. Zum Sicherheitsbedürfnis muss nicht viel ausgeführt werden, eine Wohnung gehört für jede(n) dazu, manche denken auch schon in jungen Jahren an „Alterssicherung“. Beim anderen Grundelement der Bedürfnisstruktur, das auf die „Arbeitswelt“ verweist, sich in ihr aber nicht erschöpft, sollten wir länger verweilen.

Auch in der Arbeitswelt hängt viel an der Fähigkeit zu kommunizieren, wie etwa am Vordringen der Frauen abzulesen ist. Sie dringen einerseits weniger vor, als ihrem Können entspricht, weil das Patriarchat noch immer mächtig ist; andererseits ziehen sie da, wo die Verhältnisse es zulassen, an den Männern vorbei, weil ihre besondere Kommunikationsweise im Durchschnitt überlegen ist. Es ist gerade diejenige, die zur „Perspektivenübernahme“ der anderen Person befähigt. Um sie von den sonstigen Kommunikationsweisen zu unterscheiden, sprechen wir am besten in Sprachspieltermini von ihr: Frauen, besonders wohl Mütter, können gut die Fragestellung ihres Gegenübers erfassen, auch wenn diese nicht geäußert wird, ja dem Gegenüber gar nicht bewusst ist. Fragen- und Antwortenkönnen, darauf läuft es hinaus, es hat auch viel mit der von Hartmut Rosa untersuchten „Resonanz“ zu tun. Die Kommunikationsweise vieler Männer erschöpft sich hingegen darin, oder hat es bis kürzlich getan, dass sie Behauptung und Gegenbehauptung tauschen, dabei argumentieren oder auch nicht. In der Arbeitswelt ist das als Minimalausstattung meist schon hinreichend (in der Liebe heute nicht mehr). In Befehl und Gehorsam, oder heute Leiten und Folgen, müssen sich alle Arbeitenden fügen, ob aber jemand das „Befehlsspiel“ mittels des „Fragespiels“ zu relativieren vermag oder nicht, macht einen Unterschied.

Neben dem Kommunizieren, das immer auch gekonnt sein muss, gibt es dieses andere Grundbedürfnis, das sich spezifisch mit der Arbeitswelt verbindet: eine Aufgabe zu haben und für ihre Bewältigung tätig sein zu können. Am besten eine Lebensaufgabe. Um daran zu erinnern, was das ist, will ich es von der Arbeitswelt auch unterscheiden, denn wenn es auch in ihr das Wichtigste ist, greift es erheblich über sie hinaus. Da ich gerade Jan Assmanns Buch über die Achsenzeit lese (München 2018), mag mir der Held des ersten Kapitels zur Veranschaulichung dienen: Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron (1731-1805), der 23 Jahre alt eine Anstellung an der Pariser königlichen Bibliothek erhielt. Noch im selben Jahr 1754 bekam er dort „etwas vorgelegt, das auf den ersten Blick über sein künftiges Leben entschied: die Kopie der ersten Seiten einer Oxforder Handschrift, die als Werk Zarathustras galt und von der noch niemand auch nur ein Wort hatte entziffern können. Anquetil beschloss sofort, nach Indien zu reisen und sich bei den dortigen Parsen in die Religion und die Schriften Zarathustras einführen zu lassen. [...] Er wartete gar nicht erst einen entsprechenden Auftrag und finanzielle Unterstützung ab, sondern ließ sich als Soldat anmustern, um mit dem nächsten Militärtransport nach Indien aufzubrechen. Gerade noch rechtzeitig erreichte ihn im Hafen von Lorient der offizielle wissenschaftliche Auftrag mit Freistellung vom Militär, bescheidenem Stipendium und Passage auf einem Schiff der Indien-Kompanie.“ Bis 1759 brauchte er, seine Übersetzung des Zend-Avesta abzuschließen. Er „war aber bei seiner Indienreise noch von einem tieferen und weiterreichenden Interesse getrieben“, suchte nämlich „über die Bibel hinausgehend nach den ältesten Quellen der Offenbarung, die er in Indien vermutete. [...] Aus zahlreichen Briefen der 60er- und 70er-Jahre geht sein leidenschaftliches Interesse an den Veden als dem Schlüssel zur Urreligion Asiens (und damit der Menschheit) hervor.“ Über sein weiteres Leben war damit entschieden. „1804 verweigerte Anquetil den Eid auf Napoleon und verlor Sitz und Einkünfte in der Akademie.“ Ein von Mensch zu Mensch geleisteter Treueid, schrieb er, um seine Weigerung zu begründen, habe „einen Charakter von Servilität, zu der meine indische Philosophie sich nicht bereit finden kann“.

Die meisten Menschen können oder wollen so weit nicht hinausgreifen, aber eine Aufgabe bescheidenerer Art wünscht sich jeder. In der Regel hofft man, sie im Beruf zu finden, den man ausübt, oder geht einer „Berufung“ folgend in ihn schon hinein. Eine Aufgabe ist kein „Hobby“: nicht nur, weil dieses kein Geld einbringt, vielmehr weil man sie für andere statt nur für sich selbst bewältigt. Sie ist interindividuell wie alle Bedürfnisse. Das geht so weit, dass man sich einer Aufgabe auch dann widmen möchte, wenn kein Einkommen mit ihr zu erzielen ist. Charles Ives zum Beispiel (1874-1954) gründete eine Versicherungsgesellschaft, als seine Aufgabe sah er aber das Komponieren an, das er in seiner Freizeit betrieb. Da seine Musik zu seinen Lebzeiten ignoriert wurde, wäre es anders nicht gegangen. Andere sehen vielleicht eine Aufgabe, finden aber keinen Beruf, der die Arbeit daran einschließt oder irgendwie zulässt, und sind auch nicht vermögend; dann bleibt das Bedürfnis unbefriedigt. Man ist aber meist schon zufrieden, wenn man in einem Beruf arbeiten kann, oder in mehreren nacheinander, in die man hineinwächst und wo es um Aufgaben geht, deren gesellschaftliche Notwendigkeit einem einleuchtet. Das ist nun gar nicht mehr hochgegriffen, versteht sich aber auch nicht von selbst, denn oft bleiben nur Jobs, für die weiter nichts spricht als dass sie „Lohn“, sprich Geld abwerfen.

Im Übrigen kann einem natürlich auch ein Beruf, den man an sich akzeptieren würde, durch Unterbezahlung und/oder schlechte Arbeitsbedingungen verleidet werden. Das alles in Rechnung gestellt, ist die bekannte Voraussage von Marx, in einer befreiten Gesellschaft werde „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“ sein, vollkommen plausibel. Schlechte Bedingungen gäbe es nicht mehr, so dass die Befriedigung, die die Arbeit als solche gewährt, rein hervortreten würde. Man muss nur sehen, dass es sich eigentlich um ein Bündel von Befriedigungen handelt. Was macht die Arbeit zum Bedürfnis? Sicher die „Funktionslust“, dass man also merkt, man kann es, auch überhaupt die Erfahrung, eine Kraft ausleben zu können, die man in der Ausbildung erhalten hat, und auch dass die Kollegen einen anerkennen (das von Oskar Negt besonders hervorgehobene Moment). Am wichtigsten dürfte aber doch sein, dass durch Arbeit eine Aufgabe bewältigt wird, die gesellschaftlich sinnvoll ist. Der mehr abstrakt gegen „Faulheit“ gerichteten Arbeitsethik eines Martin Luther hätte sich Marx nicht angeschlossen.

Wir sind nicht nur konsumistisch

Alle bisher betrachteten Fälle, in denen jemand sich eine Aufgabe zuschreibt, zeigen die Zusammengehörigkeit von Aufgabe und Sicherheit, denn auch wer noch so besessen von seiner Berufung ist, braucht Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf. Das ist es ja eben, was die Klassengesellschaft ausmacht: Wer nur seine Arbeitskraft hat, muss sie verkaufen und dann wird es schwierig, sein Leben nach der Logik einer selbstgewählten Aufgabe einzurichten. Das heißt aber nun nicht, nicht jedenfalls in den reichen Ländern, dass es stattdessen nur von den körperlichen Bedürfnissen beherrscht würde. Es heißt auch nicht, dass außerhalb der Arbeitswelt Befriedigung nur allenfalls noch für die kommunikativen Bedürfnisse erlangt werden kann. Vielmehr bleibt innerhalb ihrer bestehen, dass man, wie gesagt wurde, auch in Aufgaben, die andere gesetzt haben, hineinwachsen und sie als sinnvoll einsehen kann, und zudem kommt außerhalb ihrer etwas Zentrales, dabei Selbstbestimmtes hinzu: Kinder in die Welt zu setzen und sich um ihr Fortkommen zu sorgen. Dahin orientiert sich die Mehrheit der Menschen, Familien werden deshalb gegründet. Man nimmt arbeitend teil am Aufbau der Welt, beziehungsweise an ihrem Erhalt, ihrer Reproduktion, und indem man Kinder hat, verlängert man etwas von der eigenen Existenz über den Tod hinaus. Das sind natürlich starke Bedürfnisbefriedigungen, die übrigens ihrerseits mit dem anderen Grundbedürfnis, der Sicherheit, stehen und fallen, denn Familien können scheitern. Sie können unter anderm an der Kommunikation scheitern, die sich somit selber, im Fall dass sie gelingt, als eine Form von Sicherheit erweist. Aufgabe, Kommunikation und Sicherheit, wir haben wohl wirklich die Struktur der Bedürfnisse gefunden. Alle drei hängen zusammen, durchdringen sich auch. Weil sie sich durchdringen, wird jedes prekär, wenn es sich vereinseitigt. Auch die Sicherheit, die bei Übertreibung als Gefängnis erlebt werden kann.

Die wichtigste Schlussfolgerung ist diese: In unserer Gesellschaft jedenfalls kann es nicht sein, dass die meisten Menschen bloß Opfer des Konsumismus wären, der den ökologischen Gleichgewichten so sehr ins Gesicht schlägt. Ihre Lebensweise funktioniert zwar im Rahmen einer Ökonomie, die den Konsumismus braucht und flächendeckend hervorzubringen bestrebt ist, ihnen selbst aber ist wichtiger, was sie als ihre Aufgaben ansehen. Überhaupt wird man sagen dürfen, dass im Leben eines Menschen unserer Zeit das Aufgabenbedürfnis von den drei Strukturelementen der Gruppe der Bedürfnisse, die jedermann hat, weil wir alle nach Zufriedenheit oder „Glück“ streben, das wichtigste geblieben ist. Das liegt daran, dass wenn wir unsere Aufgabe bewältigen, wir unser Leben transzendieren. An eine Fortsetzung des eigenen Lebens nach dem Tod glauben wir nicht mehr, brauchen aber etwas Analoges und das sind entweder unsere Kinder oder die von uns miterbaute Welt, die uns überdauern wird, oder beides. Man bietet uns zwar an, wir sollten nur ans eigene Leben denken und so viel wie möglich aus ihm herausholen. Die Methode soll im Konsumismus bestehen. Aber das reicht uns nicht. Unsere Lebensweise ist daher nicht bloß eine kapitalistische Lebensgeworfenheit. Obwohl sie vom Konsumismus stark geprägt ist, geht sie in ihm nicht auf.

Es wäre also verkürzt und falsch zu fordern: Wir sind konsumistisch, hören wir auf damit! Denn in solcher Anrede würden wir uns nicht wiedererkennen. Wir wenden besser etwas anderes gegen uns ein: dass wir uns in einem Selbstwiderspruch verfangen. Wollen wir nicht, dass es den Kindern besser geht als uns selber, mindestens aber ebenso gut? Und wissen wir nicht, dass das in der Welt zu geschehen hätte, die wir selbst aufbauen – für die wir also verantwortlich sind? Tatsächlich ist das aber eine Welt, die im Niedergang begriffen ist, und es kann uns nicht verborgen bleiben, dass wir es sind, die sie zerstören. Wir muten den Kindern Schlimmes zu und sind schuld daran. Vor hundert Jahren war es vernünftig, immer mehr Autos zu bauen, aber heute? Der Kapitalismus ist schuld, mögen wir uns wehren. Das stimmt auch, aber er ist deshalb schuld, weil er den Konsumismus hervorbringt, und an dem nehmen wir teil. Ohne unsere Teilnahme könnte er die Welt nicht zerstören. Wir sind zwar nicht vom Konsumismus beseelt, liefern ihm keineswegs unser ganzes Leben aus, von dem wir vielmehr wollen, dass es gute Aufgaben bewältigt – es ist aber tatsächlich eine böse Welt, die wir in unserer Eigenschaft als Produzenten hervorbringen. In der Produktion bestimmen wir nicht selbst, da kommandiert die Kapitallogik. Und unsern Arbeitsplatz können wir nicht verlassen. Das hat aber schon die klassischen Arbeiterparteien nicht gehindert, die Kapitallogik dennoch anzugreifen. Ebenso können wir heute den Konsumismus bekämpfen. Wie könnte eine Lebensweise zur Zufriedenheit, ja zum Glück führen, in der diese Aufgabe nicht vorkommt?

Wie fügen sich Einzelgüter in eine Lebensweise?

Wir kommen nun vom Bedürfnis zum Bedarf. Der Bedarf setzt das, was wir gern kaufen würden, mit unserer Einkommenshöhe ins Verhältnis. Diese hängt von unserem Job oder Beruf ab, korreliert insofern auch mit unserer selbstgesetzten oder akzeptierten Aufgabe oder tut es gerade nicht. Außerdem spielt der „Lebensabschnitt“ eine Rolle. Im späteren Abschnitt arbeiten wir vielleicht besser und das Einkommen mag gewachsen sein. Wir können aber auch erwerbslos werden. Das beeinflusst die Entwicklung unserer Bedürfnisse und bestimmt teils darüber vermittelt, teils unmittelbar unsern Bedarf. Dass wir so oder so eine Lebensweise haben, die durch Aufgabenbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit und die Sicherheitsstützpunkte, über die wir verfügen, strukturiert ist, bleibt davon unberührt. Was aber den Bedarf angeht, so lässt er sich, in der Perspektive dieser Vorgaben, viel mehr im Einzelnen betrachten.

Wohlgemerkt, das ist eine andere Perspektive, als wenn wir fragen, welche Waren ökologieschädlich sind und welche es weniger oder gar nicht sind. Auch unser Ansatz zielt zwar gerade auf den Ausschluss ökologieschädliche Waren und/oder Warenmengen, doch wollen wir ihn nicht erreichen wie diese Internetseiten, die es gibt und die bloß abfragen, wie oft wir fliegen und Fisch essen, oder welchen Fisch, und wie groß unsere Wohnung ist. Das ist der Ansatz, der bei den Einzelgütern ansetzt, sich nicht darum kümmert, wie sie sich in eine Lebensweise einfügen, und daher bloß den Verzicht nahelegt. Wir hingegen, die wir von der Lebensweise her denken, gehen so heran, dass wir die Lebensweise unterteilen – näher den jeweiligen Abschnitt einer Lebensweise – und von da aus nach dem Bedarf fragen, wie man ihn zu brauchen glaubt, er aber vielleicht anders besser wäre und in Teilen auch überflüssig sein könnte. Kann man eine Lebensweise unterteilen? Ja, denn sie setzt sich aus „Lebenszyklen“ zusammen. Dazu mehr im nächsten Eintrag, es wird der letzte sein.

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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