Auf der Suche nach der verlorenen Gerechtigkeit

Der Aussenminister auf Reisen Soziale Hilfe und politische Ordnung bedingen einander. Aber was sind die Ziele?

Joschka Fischers Auslandsreiseprogramm läuft zur Zeit auf Hochtouren: vorige Woche Pakistan und Tadschikistan, diese Woche Iran und Saudi-Arabien, Israel und Gaza, danach Pakistan, Indien und China. Natürlich haben diese Reisen ein gemeinsames aktuelles Ziel: der Bundesaußenminister trägt zur diplomatischen Einbettung des Anti-Terror-Feldzugs bei. Hier werden aber nicht bloß, wie beim militärischen Teil des Feldzugs, US-Wünsche abgewartet und umgesetzt (oder: hier wird auch nicht einmal öffentlich eine so passive, selbstlose Haltung suggeriert), sondern es gibt eigene westeuropäische Nuancen, in deren Umsetzung Fischer sich profiliert. In die Profilierung wiederum geht ein, was sich heute ein Grüner von Außenpolitik verspricht. Fischers Rundreise ist Anlass, erneut nach der grünen außenpolitischen Konzeption fragen.

Man stellt fest, dass sich im Konzept des Außenministers etwas verschoben hat. In den ersten Monaten der rot-grünen Regierung waren die Menschenrechte sein großes Thema. Der Kosovo-Krieg offenbarte schnell die Zweideutigkeit eines solchen Ansatzes, der sich erschreckend leicht zur ideologischen Rechtfertigung von Militärschlägen benutzen ließ. Ob es nicht eine Menschenrechtsverletzung ist, wenn täglich Tausende verhungern, wurde damals nicht gefragt. Das ist heute anders. Ohne sich der Menschenrechts-Terminologie zu bedienen, sind viele westeuropäische Politiker einig, dass das Elend der Welt ein Nährboden für Terroristen darstellt und deshalb - zum Glück wenigstens deshalb! - zurückgedrängt werden muss. Niemand aber spricht vollmundiger von der neuen Weltordnung, die jetzt entstehen soll, als Fischer. Es kann also scheinen, als habe er, auch in seiner Eigenschaft als Grüner, eingesehen, dass man von Menschenrechten hohl spricht, wenn die sozialen Menschenrechte darin nicht vorkommen. Wie aber setzt sich eine solche Einsicht in ein außenpolitisches Konzept um? Wie im allgemeinen und wie gerade heute? Unterstellen wir einmal, Fischers Reisen implizierten die Antwort.

Die Antwort wäre - versuchsweise - so zu formulieren: In der Perspektive eines Außenministers taucht die soziale Verelendung als das Problem der politischen Instabilität einer Region auf. Denn die Bewältigung der sozialen Krise setzt die politische Lösung voraus oder muss mit ihr einhergehen. Die Region aber kommt ins Blickfeld, wenn sie die Interessen des vom Außenminister vertretenen Landes berührt.

Die Interessen sind berührt, weil Deutschland so wenig wie die NATO-Verbündeten von islamistischen Terroristen heimgesucht werden will. Von daher ist der Außenminister auf die Räume um Israel und Afghanistan verwiesen. Was Afghanistan angeht, ist noch ein weiteres Interesse im Spiel: das Gas- und Ölvorkommen des Kaspischen Raums. Die Frage, auf welchen Wegen die Pipeline verlaufen soll, wenn diese Reichtümer um 2050 ausgebeutet werden, beschäftigt seit dem Ende der Sowjetunion den Westen. Daneben, dass Russland den kürzesten Weg zur Verfügung stellen und ein etwas weiterer Weg durch die Türkei führen würde, erfährt man jetzt von der Möglichkeit eines Weges durch Afghanistan und Pakistan, für den die pakistanische Regierung eintritt. In allen drei Fällen führt die Linie durch Krisengebiete: Tschetschenien, Kurdistan und eben Afghanistan.

Es ist noch niemand auf die Idee gekommen, den Bevölkerungen dieser Gebiete einen hohen Preis für das Recht der Durchleitung zuzugestehen, um sie zu befrieden. So ließe sich doch das Interesse am Öl mit dem guten Willen zur gerechteren Weltordnung verbinden.

Vieles bleibt undurchschaubar. Warum behaupten führende Zeitungen, das Interesse am Öl des Kaspischen Raums sei nur ein amerikanisches, kein europäisches? Das ist Unfug. Deutsche Sondierungen in der Region dienen bestimmt auch dazu, europäische Interessen zu wahren, den Amerikanern das Feld nicht allein zu überlassen. Es bietet sich ja auch an: Die Staaten am Kaspischen Meer, die früher der Sowjetunion angehörten, sind heute KSZE-Mitglieder. Aber wenn sich da ein untergründiges Ringen zwischen Europäern und Amerikanern abspielen sollte, dann geht es (vorerst) nicht um Fragen der Art, wer das Öl kriegt oder wer mehr davon kriegt, sondern darum, wie der absehbare Konflikt gemanagt werden könnte. Den Europäern ist, wo immer es Konflikte gibt, an verallgemeinerten Regelungen gelegen. Die Amerikaner haben solche zuletzt eher missachtet (Beispiel Kyoto-Protokoll). Von diesem Kontext sind Fischers Reisen nicht zu trennen.

Man bemerkt zunächst, der Bundesaußenminister sucht die Parteien innerhalb und außerhalb Afghanistans, die eine politische Nach-Taliban-Ordnung mittragen müssten, an einen Tisch zu bekommen. Die Diplomatie der Amerikaner hat sich dagegen nur um ein Anti-Terror-Bündnis im engsten Sinn bemüht. Sie arbeitet gern mit der Ausübung von Druck. Sie hat von der Möglichkeit gesprochen, die Bündnispartner notfalls auch zu wechseln. Außenminister Powell sagte zwar, in einer Nachkriegsordnung sollten auch "gemäßigte Taliban" eine Rolle spielen, doch diplomatische Mühen zur Umsetzung hat es nicht gegeben. Vielleicht arbeiten amerikanische und europäische Diplomaten hier nur arbeitsteilig. Man kann aber auch sagen: Gerade wenn die Europäer etwas andere Akzente setzen wollen, müssen sie dies als eine arbeitsteilige Tätigkeit hinstellen. Sie müssen ja wollen, dass in erstrebenswerte Regelungen des afghanischen und Kaspischen Raums nicht zuletzt die USA eingebunden werden.

Fischer reist auch nach Indien und China. Der starke Öl-Bedarf dieser Länder zusammen mit der sich abzeichnenden Öl-Ausbeutung des Kaspischen Raums durch den Westen weckt für die Zukunft schlimme Befürchtungen. Wie soll die Weltordnung gerechter werden, wenn der Westen das Öl nicht teilt? Zur Zeit haben wir aber eine Situation, in der alle nahen und fernen Länder, die in diesem Raum engagiert sind, unter dem Siegel eines "Anti-Terror-Bündnisses" miteinander reden. Da könnte Fischer vernetzen. Hoffentlich will er es auch. Die Frage, ob das kaspische Öl und Gas Gegenstand einer Regelung, eines "Internationalen Regimes" werden kann, ist für den Weltfrieden der nächsten Jahrzehnte noch wichtiger als die Bedrohung durch den Terrorismus.


So scheint man Fischers Versuch, für politische Stabilität zu wirken, nicht tadeln zu können. Auch unabhängig von den derzeitigen Themen ist klar, dass soziale Hilfe und politische Ordnung einander bedingen. Es ist eine alte Erfahrung: "Entwicklungshilfe" versickert, wenn sie blind an die Träger irgendeines undemokratischen Regimes vergeben wird. Die Geber müssen schon hinschauen und einwirken. Aber wenn man es so verallgemeinert, stößt man auf zwei klassische Probleme, ein älteres und ein neueres, für die sich eine Lösung durch Fischers Ansatz keineswegs schon abzeichnet.

Das ältere war im Kalten Krieg während der amerikanischen Containment-Politik zu besichtigen. In dieser damals nicht antiterroristischen, sondern antisowjetischen Strategie galt die Regel "Entwicklungshilfe nur an politisch Verbündete". Weil aber besonders an Bündnispartnern in der räumlichen Nähe zur Sowjetunion gelegen war, verdichtete und verengte sich auch das Interesse, sozial zu helfen, auf diese Zonen. Gilt eine analoge Regel auch heute? Wird Schwarzafrika benachteiligt, weil man von dort keine Terroristen einsickern sieht?

Das neuere Problem zeigt sich an Regelungen wie dem "Balkan-Pakt". Hier gibt es Entwicklungshilfe nur zusammen mit neuen politischen Verhältnissen, die den Erfolg der Hilfe verbürgen sollen. Aber was versteht man darunter? Nicht zuletzt die Einführung einer Wirtschaftsordnung nach dem Gusto der Weltbank und Welthandelsorganisation; gute Marktbedingungen für westliche Unternehmen. Methoden, die im Kreuzfeuer der Kritik der Globalisierungsgegner stehen! Wenn man heute in den Räumen helfen will, aus denen Terroristen rekrutiert werden, soll da etwa auf dieselbe Art geholfen werden? Dann wäre es nur ein Zynismus, wenn Leute wie Fischer versprechen, es ginge jetzt um die gerechtere Weltordnung. Wenn aber anders geholfen werden soll, möchten wir, dass die neuen Konzepte öffentlich gemacht werden und wir sie diskutieren können.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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