Auf der Treppe

Der Kanzler spricht Gerhard Schröder trägt dem Parteitag ein peinlich simples Gesamtkonzept vor

Das soll also Gerhard Schröders Gesamtkonzept gewesen sein. Einen richtigen "Rahmen" soll er seiner Politik in seiner Parteitagsrede gesetzt haben. Ob auch die Delegierten es glauben, ist zweifelhaft. Olaf Scholz und Wolfgang Clement, die seine Politik verkörpern, bekamen gnadenlos wenig Stimmen bei der Wiederwahl in die Parteispitze. Den Parteivorsitzenden konnten sie nicht abstrafen, weil er zugleich Kanzler ist und ihre Macht, ihre Pfründe sichert. Noch. Lange wohl nicht mehr in so einem "Rahmen". Es ist ja eigenartig genug, dass selbst wohlwollende Beobachter den Eindruck haben, sie verstünden jetzt erst den Zusammenhang der Handlungen dieses Mannes. Man fühlt sich da an Hegel erinnert. Hegel sagte, die Eule der Minerva fliege erst in der Dämmerung. Kann Schröder seine Politik zusammenhängend darstellen, weil er am Ende ist - weil er selbst erkennt, dass ihm nichts Neues mehr einfallen wird?

Schröders Zusammenhang ist von peinlicher Simplizität. Die Kosten der Arbeit müssen reduziert werden, damit die Wirtschaft wachsen kann und weil nicht immer weniger Arbeiter immer mehr Rentner bezahlen können. Mehr hat er nicht zu sagen. Er ist insofern ein echter Sozialdemokrat, als sein Glaube an den Fortschritt des ökonomischen Selbstlaufs noch immer ungebrochen ist. Das muss man ihm lassen: Wenn er "Wachstum" sagt, denkt er nicht nur an den Profit der Kapitalisten. "Die Möglichkeiten sind fast unbegrenzt." "Innovation ist gleichsam eine umfassende gesellschaftliche Kultur." Deshalb sind Biomedizin und Nanotechnologie immer unbesehen gut. Welche schöne neue Welt wir dann bekommen, werden wir ja sehen. Jedenfalls wird Deutschland "Arbeit für alle" haben, "anspruchsvolle Arbeit, gut bezahlt und sozial abgesichert", und das schon 2010 infolge der gleichnamigen Agenda.

Was er den Arbeitern zumutet, hat keinen sozialdemokratischen Charakter. Es ist nicht wahr, dass man die Arbeiter davor schützen muss, auf Kosten ihres eigenen Lebensglücks immer mehr Rentner durchbringen zu sollen. Vielmehr wäre es Aufgabe des Kapitals, die Arbeiter und somit die Rentner für die geleistete Arbeit zu entlohnen - denn die Rentner, und übrigens auch die Arbeitslosen, das sind ja die Arbeiter selber. Arbeiter sind zeitliche Wesen. (Da Schröder das Selbstverständliche verschweigt, müssen wir es laut sagen.) Arbeiter leben nicht nur jetzt, sondern auch in ihrer Zukunft. Dafür, dass sie leben können - nicht nur 2003, sondern auch 2010, müssten sie hinreichend entlohnt werden von einem Kapital, das wächst und wächst, eben weil sie arbeiten. Es ist ungerecht, wenn nur die angewandte Arbeitskraft entlohnt wird, statt dass der Arbeiter für seine Lebensleistung die lebenslange Gegenleistung erhält. Schröder, der Marx von vorn und hinten gelesen hat, kennt diesen Zusammenhang ganz genau. Es ist nicht der Zusammenhang seiner Politik.

Ansonsten borgt er bei den Grünen aus, aber auch das geht nur noch mit Selbsttäuschung. "Wir sind führend im Klimaschutz" - Schröder tut so, als ob er das Handelsblatt nicht liest. Europas Autohersteller verabschieden sich von den Klimaschutz-Zielen, war der Aufmacher vom 10. November überschrieben. Die Absatzkrise mache es ihnen unmöglich, in umweltfreundliche Motoren und leichtere Karosserien zu investieren. Im Januar wird VW-Chef Bernd Pischetsrieder Vorsitzender des europäischen Herstellerverbands ACEA, der den Abschied von der Ökologie bedauernd mitteilte. Die EU-Kommission will sich mit den Autokonzernen zwar anlegen. Aber jeder weiß, dass die im Kanzler einen starken Verbündeten haben. Beim "Atomausstieg" gibt er wenigstens selbst zu: "Das wird nur gehen, wenn wir regieren und solange wir regieren." Es wird also nicht mehr lange gehen.

Seine Politik ist neoliberal, er kann es nicht verstecken. Natürlich versucht er, die große Distanz zur Unionspolitik zu beschwören. Roman Herzog habe "eine Kopfprämie auf den Tisch gelegt: einheitlich für die Sekretärin und den Vorstandsvorsitzenden zur Bezahlung der Gesundheitskosten", das sei unsolidarisch. Aber dafür trägt er selbst die Verantwortung, denn die Union kann nur Dinge vorschlagen, die den Wählern als nächster Schritt auf der Treppe der vorhandenen, also der Schröderschen Politik erscheinen. Niemand anders als Schröder hat die soziale Grausamkeit so weit getrieben, dass nun auch ein Vorschlag wie die Kopfprämie anschlussfähig und daher salonfähig geworden ist.

Deshalb ist es auch so daneben, wenn Schröder behauptet, die Union unter Kohl habe 16 Jahre lang die nötigen "Reformen" versäumt, sie solle nun wenigstens ihn, wenn er sich auf den Weg mache, nicht "blockieren". In Wahrheit war es so, dass Kohl von der SPD blockiert wurde, als er genau die "Reformen" plante, die Schröder jetzt ausführt. Das waren gute Zeiten: Da schon die ersten Schritte des Kohl´schen neoliberalen Programms an der sozialdemokratischen Blockade scheiterten, konnten die schwindelerregenden übernächsten Schritte niemals auch nur öffentlich bekannt werden.

Man hatte damals gar nicht die Phantasie, sie sich vorzustellen. Jetzt hat man sie, dank Schröder. Jetzt wird schon vorgeschlagen, dass Menschen erst mit 67 Jahren in die Rente, aber schon mit vier Jahren zur Schule gehen sollen. Jetzt wird schon eine "Vereinfachung" des Steuersystems vorgeschlagen, die in der gänzlichen Abschaffung der Einkommensteuer bestünde. Alle Menschen sollen nur noch Konsumsteuern bezahlen, die Sekretärin, der Vorstandsvorsitzende und alle Sozialhilfeempfänger. Konsumieren wird dann eben ein bisschen teurer. Das hätte zu Kohls Zeiten niemand auszusprechen gewagt. Heute dürfen wir uns noch darüber entrüsten. Wir brauchen so eine Idee gar nicht ernst zu nehmen. Aber wie lange noch? Je schneller die SPD die Regierungsmacht verliert, desto sicherer ist es, dass die neoliberale Eskalation noch rechtzeitig gestoppt werden kann. Erst wenn die SPD in der Opposition ist, wird sie den grausamen Kletterern Einhalt gebieten.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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