Von Woche zu Woche wird deutlicher, dass die Reaktion der republikanischen US-Regierung auf die Anschläge des 11. September die Gefahr eines neuen Weltkriegs heraufbeschwört; ja, vielleicht ist die Schwelle zu ihm schon überschritten, seit die palästinensische Autonomiebehörde sich dem Bombenterror der israelischen Regierung ausgesetzt sieht und die US-Regierung dies unterstützt. Auch die indische Kriegsdrohung gegen Pakistan folgt dem neuartigen Muster, das die USA vorgegeben haben: Angriff auf Staaten, in denen Terroristen wohnen. Und sie plant weitere Kriege: Die Gefahr eines Militärschlags gegen den Irak ist keineswegs ausgeräumt. Die hier wirksam werdende Eskalationsstrategie wird von der öffentlichen Meinung nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas einhellig abgelehnt. Die Regierungschefs in der EU haben sich ihr entgegenzustemmen versucht, indem sie den Krieg der USA gegen das Taleban-Regime als Akt der Selbstverteidigung zwar billigten, vor jeder Ausweitung auf Territorien außerhalb Afghanistans jedoch warnten - erst intern im NATO-Bündnis, dann immer lauter auch öffentlich.
Diese Haltung begegnet in Teilen des linken Spektrums einem erstaunlich ungezügelten Misstrauen. Man unterstellt Bundeskanzler Schröder wahlweise, er ergreife nur die Gelegenheit zur deutschen militärischen Weltmission, oder auch, seine Warnungen seien völlig illusionär, da US-Präsident Bush ja doch nicht auf die EU höre. Die Vorstellung, dass die USA auch gegen den erklärten Willen der EU einen Weltbrand direkt vor deren Tür entzünden könnten, soll hier keineswegs als unrealistisch hingestellt werden. Ganz im Gegenteil. Aber muss die EU nicht tun, was sie tun kann, um es zu verhindern? Wer so fragt, muss aber weiterfragen: Was kann sie - und was nicht? In der Debatte um die Vertrauens-Fragwürdigkeit des Kanzlers wird Eines nicht gesehen: dass eine Gegnerschaft zwischen Europa und den USA die Gefährlichkeit des sich anbahnenden Weltkriegs noch vermehren würde. Manche scheinen ja zu glauben, das Beste, was der Kanzler hätte tun sollen, wäre die Absendung einer Art Emser Depesche an Präsident Bush gewesen. Bei diesen Menschen ist noch nicht angekommen, wie explosiv die Weltlage wirklich ist.
Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa
Unter Radikalen wird es hilfreich sein, an die Gedanken eines Radikalen zu erinnern, an Lenin. Lenin kämpfte vor und im Ersten Weltkrieg als radikaler Pazifist. Jeder, der sich irgendeiner Kriegspartei anschloss, war in seinen Augen ein Verräter. "Brot und Frieden" war die Losung, ohne die die bolschewistische Revolution nicht siegreich gewesen wäre. Doch Lenin bekämpfte den Weltkrieg nicht nur, sondern analysierte auch die Bedingungen seines Zustandekommens, und zwar so: "Unter dem Kapitalismus ist ein gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten unmöglich. Unter dem Kapitalismus gibt es kein anderes Mittel, das gestörte Gleichgewicht von Zeit zu Zeit wiederherzustellen, als Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik." Wie ein Menetekel wirkt es, dass sich diese Überlegung in einem Text mit dem Titel Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa findet. Ja, soll man es denn für möglich halten, dass zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union - beide kapitalistisch verfasst, daran ist kein Zweifel möglich - irgendwann einmal ein Krieg ausbrechen könnte?
Die Frage scheint auf den ersten Blick unsinnig. Aber warum eigentlich? Gehen wir den Gründen einmal nach. Der erste Blick mag auf die NATO fallen. Es scheint unsinnig, potentielle Kriegsgegner in den Partnern ein und desselben Militärbündnisses zu sehen.
Aber das ist es ja gerade: Was wäre, wenn die Partner das Bündnis auflösen würden? Dann fiele dieses erste, so elementare Argument schon einmal dahin. Und nun scheint es doch, als ob eben darauf die Kritiker des Bündnisfalls der NATO und der Schröderschen Vertrauensfrage zielen. Oder worauf zielen sie sonst? Es gibt einen Konflikt in der NATO, der aber von der EU nicht so weit getrieben wird, dass sie das Bündnis verlässt oder den Amerikanern einen Vorwand liefert, sich aus seinen Konsenszwängen zu befreien. Das gefällt den Kritikern nicht. Ihnen wäre es lieber gewesen, wenn die Europäer bestritten hätten, dass die USA überhaupt kriegerisch angegriffen worden sind. Nachdem Bush die Partner gebeten hat, den Bündnisfall festzustellen, sollten diese antworten: Nein, uns lass in Frieden ... Das wäre natürlich das Ende der NATO gewesen. Dann hätte man also schon einmal Partner ohne Militärbündnis oder ohne funktionierendes Militärbündnis.
Aber, wird nun gesagt werden, man kann sie als potentielle Kriegsgegner schon deshalb nicht ansehen, weil die EU gegen die USA ja gar nicht kriegsfähig ist und auch niemals werden wird. Jeder Gedanke an eine militärische Konfrontation verbietet sich von daher. Europa wird sie niemals wollen, und Amerika braucht sie nicht einmal. Um Europa niederzuhalten, braucht Amerika seine Waffen nicht einzusetzen, es reicht, dass es sie vorzeigt.
Richtig. Nur gilt dieses Argument, wenn es für die USA und die EU gilt, erst recht für die USA und den Irak. Der Irak ist militärisch noch viel schwächer als die EU, was die US-Administration aber nicht abhält, so zu tun, als plane Saddam Hussein einen Militärschlag gegen das Pentagon oder habe ihn gar - auch das versuchten einige zu behaupten - am 11. September schon vollzogen. Warum sollte dergleichen eines Tages nicht auch von einem europäischen Staatschef behauptet werden?
Das scheint nun wieder eine absurde Frage zu sein - ist doch kein Europäer "so böse" wie Saddam. Aber worin besteht Saddams Bosheit? Bekanntlich darin, dass er Massenvernichtungswaffen lagert. Es ist ebenso bekannt, dass dies auch die Europäer tun. Die US-Regierung nimmt es ihnen nur deshalb nicht übel, weil sie sich mit ihnen in ein und demselben Militärbündnis befindet. Sie hat sich früher auch mit Saddam im Bündnis befunden und ihm nichts übel genommen ... Wenn Europa das Bündnis verlassen würde, fiele auch dieses Argument dahin. Es gibt schon längst fundamentalchristliche Kreise in den USA, die darauf warten, dass die EU sich in das ultimative Reich des Bösen verwandelt. So wird in einem apokalyptischen Schmöker mit Millionenauflage, der 1973 erschienen ist (Hal Lindsay, There´s a New World Coming, Santa Ana California), vorausgesagt, die damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft werde sich mit Russland und China, dem Irak und anderen arabischen Staaten verbünden und rechtzeitig vor der biblischen Entscheidungsschlacht von Harmaggedon ins "berüchtigte Babylon" verwandelt haben.
Nun wäre ich auf weitere Argumente gespannt. Was will man vorbringen? Etwa dass zwei Kräfte, die beide besonders kapitalistisch und besonders mächtig sind, schon wegen solch starker Gemeinsamkeiten eher solidarisch als feindlich miteinander umgehen werden? Man kann ja einfach das Gegenteil von dem behaupten, was Lenin behauptet hat, trotz der Erfahrung zweier Weltkriege. Oder dass es keine großen Ungleichgewichte im ökonomischen Wachstum geben wird? Womöglich gar keinen Zusammenstoß ökonomischer Interessen, nicht einmal im Kaspischen Raum, wenn dort - ganz in der Nähe Afghanistans - in ein paar Jahrzehnten die nach heutiger Kenntnis letzten Gas- und Ölvorkommen der Erde ausgebeutet werden sollen?
Vor 1990 wurde von den Anhängern der damaligen Politik der Sowjetunion immer wieder folgende Analyse angestellt: Ja, Lenins Behauptung sei einmal zutreffend gewesen. Doch keine Wahrheit gelte ewig. Derselbe Lenin habe schließlich die "konkrete Analyse der konkreten Situation" gelehrt. Ergo, seit sich herausgestellt habe, dass die militärische Macht der Sowjetunion unüberwindlich sei, bleibe den imperialistischen Mächten nichts anderes mehr übrig, als ihre Konflikte, um gegen den neuen gemeinsamen Feind zu bestehen, untereinander auf andere Art auszutragen als militärisch. Jetzt leben wir in der Zeit nach 1990. Es sind zum Teil dieselben Leute, die ständig den "guten Rat" wiederholen, Westeuropa solle sich mit Russland gegen die USA zusammenschließen. Diese Leute wissen ganz genau, dass Westeuropa keineswegs inzwischen sozialistisch geworden ist. Ihr Rat besteht also darin, es solle in der Welt zu einem schärferen Gegensatz zwischen zwei kapitalistischen Supermächten kommen. Lenin so gründlich zu vergessen, ist nicht gut. Und selbst von Lenin abgesehen könnten solche Leute doch gelernt haben, dass scheinbare Gewissheiten, wie die von der Unbesiegbarkeit der Sowjetunion, sich manchmal über Nacht in Luft auflösen. Die Geschichte schreitet nun einmal eher hinter als vor dem Rücken der Menschen voran. Auch die Gewissheit vom ewigen Frieden zwischen den USA und der EU könnte sich als verfrüht erweisen.
Über friedliche Koexistenz
Es ist evident, dass eine verantwortungsvolle Politik westeuropäischer Regierungschefs nur darin bestehen kann, unter allen nur irgend denkbaren Umständen für den Erhalt, ja die Vertiefung der friedlichen Koexistenz der EU mit den USA zu sorgen. Diese Wahrheit gilt, obwohl die EU ganz und gar nicht die Sowjetunion ist, und sie ist unabhängig von der Frage, ob sie sich einbilden kann, militärisch gleich stark wie die USA zu sein oder werden zu können, oder ob sie das nicht kann. Gar nicht evident ist es, dass westeuropäische Regierungschefs sich dieser Verantwortung immer bewusst sein werden - auch in den nächsten Jahrzehnten und auch in jener absehbaren Zeit, in der die Frage auftauchen wird, wer über die letzten Ressourcen unserer ökologisch geschändeten Erde verfügen darf.
Aber heute, wo die Verhältnisse noch nicht so zugespitzt sind, sind die Regierenden noch verantwortungsbewusst. Ihre Politik zielt auf die Verrechtlichung aller Fragen der internationalen Beziehungen und die Einbindung nicht zuletzt der USA in dabei entstehende "internationale Regimes". Konflikte mit den USA, die es reichlich gibt, tragen sie auf gerade diesem Feld aus. Die Konflikte sind manchmal sehr hart. So im Kyoto-Prozess, so wenn es um die Einfuhr hormonbehandelten Fleisches geht. Die EU verbietet sie, die USA rächen sich mit Strafzöllen auf EU-Erzeugnisse. Auch in der NATO gibt es einen Konflikt. Die Amerikaner haben während des Kosovo-Krieges die UNO ausmanövriert, die Europäer versuchen während des Afghanistan-Krieges, die UNO wieder dauerhaft ins Spiel zu bringen. Das ist besser, als wenn sie sich ihrerseits aus der NATO herauslösen wollten.
Natürlich will ich damit nicht sagen, dass nun gerade die NATO ein hinreichendes oder auch nur besonders produktives Band zwischen den Kontinenten sei. Ich will auch nicht sagen, das Wenige und Scheiternde, das die historische Konnotation des Ausdrucks "friedliche Koexistenz" ausmacht, sei bereits eine geeignete Kennzeichnung des Bandes, das tatsächlich geknüpft werden müsste. Nein, darüber muss es weit hinausgehen, aus zwei Gründen, einem positiven und einem negativen Grund. Der positive Grund ist, dass die EU und die USA rein faktisch ein und dieselbe "westliche" Gesellschaft bilden, woraus sich auf allen Feldern - ökonomisch, politisch und in der Tat auch militärisch - viele übereinstimmende Interessen ergeben. Es wäre ganz absurd, dieses Verhältnis mit dem zu vergleichen, das zwischen dem Westen und der Sowjetunion bestand. Ich finde es besonders wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Gemeinsamkeit der Interessen überhandnehmen wird, sollte der Westen eines Tages versuchen, aus seiner ungerechten Wirtschaftsordnung auszusteigen. Denn das geht schwerlich im Gegeneinander. Die EU würde sich ganz zweifellos in den Augen amerikanischer Regierungen in einen Schurkenkontinent verwandeln, wollte sie den imperialen Kapitalismus ohne Mitnahme der USA zu überwinden versuchen.
Der negative Grund ist, dass sich, wie man weiß, aus einer Gemeinsamkeit bloß der Interessen noch keine tatsächliche Gemeinsamkeit ergibt, weil es ja möglich ist, dass die Beteiligten ein "falsches Bewusstsein" über das, was sie "objektiv" bestimmt, unterhalten. Es gibt tatsächlich Gegensätze zwischen den Kontinenten, und zwar nicht nur ökonomische Gegensätze. Wenn es sich "nur" um ökonomische Konkurrenz handelte, könnte diese in dem Moment, wo die Eliten beiderseits des Atlantiks versuchen, ihre ungerechte Wirtschaftsordnung zu überwinden, von den Akteuren ganz bewusst relativiert und unschädlich gemacht werden. Das Problem ist aber, dass die Akteure gar nicht an den Punkt kommen, wo sie ein gemeinsames Ausstiegsprogramm in ökonomischen Termini erst entwickeln und dann gemeinsam realisieren könnten. Sie können sich ja nicht einmal heute, wo noch niemand ans Aussteigen denkt, auf eine gemeinsame ökonomische Konzeption einigen. Die Amerikaner denken und sprechen anders über Ökonomie als die Europäer. Das hat nicht selbst wieder ökonomische Gründe, sondern kulturelle. Und weil das so ist, ist ihre Ökonomie tatsächlich anders als die europäische. Jeder Versuch, zu einer gemeinsamen Sicht der Weltprobleme zu gelangen, stößt auf die atlantische Kulturdifferenz. An der "ökonomistischen" Missachtung dieses Umstands sind schon drei marxistische Internationalen gescheitert, die sich immer fragen mussten, warum es niemals gelang, in den USA zu "landen". Die Schlussfolgerung ist klar: Um eine Gemeinsamkeit zwischen den Kontinenten herzustellen, muss die Verschiedenheit der Kultur selber zum Gegenstand der Kommunikation zwischen den Kontinenten gemacht werden. Nur auf diesem Weg, der weithin ein Weg des Widersprechens sein wird, lässt sich das unnötig Trennende ermitteln und überwinden.
In der nächsten Ausgabe folgt Teil II: Mit Captain Ahab in einem Boot
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