Die Rede von "Basis und Überbau" scheint heute hoffnungslos veraltet. Die Gesellschaft habe keinen Angelpunkt, nicht in der Staatsspitze, aber auch nicht in der Ökonomie, sondern in ihr mischten sich viele Prozesse und "Subsysteme", sagen die Soziologen. Oder sie sagen, es könnten in einer Gesellschaft überhaupt keine Naturgesetze wirksam sein außer dort, wo man Dinge tue, ohne über sie nachzudenken, was aber nie ein Zustand von Dauer sei. Damit falle der Basisbegriff dahin, der eben gerade die Dauerhaftigkeit von Quasi-Naturgesetzen in einer gegebenen Gesellschaft behaupte.
Mag sein. Als Begriffe fallen "Basis und Überbau" schon deshalb dahin, weil sie gar keine sind. Als Bild aber halten sie etwas Störendes fest. Gibt es wirklich keinen Angelpunkt der Gesellschaft? Wenn wir unterstellen wollten, dass eine gegebene Gesellschaft - zum Beispiel unsere - endlich ist, hätten wir sehr wohl eine Art Fundament anzunehmen: einen Boden, auf dem sich entscheidet, ob die Gesellschaft noch die Kraft hat, ihr Ende aufzuhalten, oder ob sie bereits am Verfaulen ist. Das Bild von Basis und Überbau benutzt Marx gerade da, wo er auf die Signatur des Endes von Gesellschaften zu sprechen kommt. In der Basis kommt es zu bestimmten Widersprüchen, sagt er. Diese werden im Überbau bewusst (Klassenbewusstsein) und dort auch ausgefochten (Klassenkämpfe). Die Widersprüche lassen ein Weiterwursteln der Gesellschaft nicht mehr zu. Vielmehr lassen sie Kämpfende auf den Plan treten, die sich anstrengen, Neues zu errichten (aus den Klassenkämpfen gehen die Institutionen hervor, die den Überbau der neuen Gesellschaft bilden).
Im Hintergrund steht der Marxsche Satz, es sei "das Bewusstsein nur das bewusste Sein". Damit ist nicht gesagt, dass der Überbau nur aus Bewusstseinsphänomenen bestünde - er besteht auch aus Kämpfen und Institutionen -, sondern dass dem Bewusstsein der Kämpfe und Institutionen keine Wahl bleibt als die, um jenes "Sein" zu kreisen, von dem schon Hamlet sprach: Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.
Kunst der Hebamme
Wenn man der Bildlogik in den Texten von Marx und Engels, später von Antonio Gramsci nachgeht, stellt man leicht fest, dass "Basis und Überbau" tatsächlich Ausdrücke sind, die um das Ende kreisen. Das verrät sich auch in dem Text, in dem sie unmöglich fehlen könnten: dem berühmten Marxschen "Leitfaden" in Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort. Da hören wir, eine Gesellschaft gehe nie unter, bevor nicht die materiellen Existenzbedingungen der Folgegesellschaft in ihrem eigenen "Schoß" schon "ausgebrütet" seien. Der Widerspruch in der Basis einer Gesellschaft ist also einer auf Leben und Tod: Damit eine zunächst nur embryonal existierende Basis ins eigenständige Leben übergehen kann, muss erst einmal sozusagen der "Mutterboden", die "Mutterbasis" sterben.
Gramsci hat sich nach der Hebamme umgeschaut. Er fand den Überbau. Dort entwickle sich, schreibt er, "ein neues, umfassenderes, höheres gesellschaftliches Bewusstsein, das sich als einziges Leben, als einzige Wirklichkeit setzt" gegenüber einer "so gut wie toten Vergangenheit, die nicht sterben will". Eine solche Interpretation kann sich auf viele Passagen bei Marx stützen. So wird im Kapital die "tote Arbeit" analysiert, die über die "lebendige" herrsche. Sie herrscht so lange, wie sich das Lebendige noch im Gefängnis des toten Schoßes befindet. Ja, noch während die Mutter gebiert, ist sie in einem höheren Sinn schon tot! Und noch wenn das Kind geboren sein wird, wird es "Muttermale" tragen, fügt Marx in der Kritik des Gothaer Programms hinzu.
Der sexistische Charakter dieser Bildwelt ist unverkennbar: Es ist die, die Luce Irigaray in ihrer Studie über Platons Höhlengleichnis aufgedeckt hat (Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts). Schon bei Platon geht es um Kinder, die durch revolutionäre Hebammengewalt aus der mütterlichen Höhle ins Sonnenlicht herausgeholt werden sollen. Marx´ "Leitfaden" hangelt sich also seinerseits an einem Leitfaden entlang, und der ist so alt, dass es Marx nicht einmal gelingt, sich ihn auch nur bewusst zu machen. Er ist auch selbst in einem Überbau gefangen - was die Plausibilität des Basis-Überbau-Bilds ja nur unterstreicht. Keineswegs aber kann dieses Bild auf den sexistischen Subtext reduziert werden. Es ist vielmehr gar nicht erstaunlich, dass Menschen, die über Leben und Tod nachdenken, unbewusst und ungewollt auf Geschlechtliches kommen. Denn die Metapher, dass die Geschlechter einander lebendig machen, aber auch füreinander den Tod darstellen, ist noch weit älter als Platon; es ist wahrscheinlich die älteste Metapher überhaupt.
Das ändert ja nichts daran, dass eine Gesellschaft, die endlich ist, mit dem steht und fällt, wovon sie sich reproduziert. Also mit ihren "Lebensmitteln". Der Bereich, in dem es sich entscheidet, ob Mittel zum Leben da sind oder nicht, verdient es in allem Ernst, als die Basis der Gesellschaft ausgezeichnet zu werden. Das bedeutet nicht, dass hier irgendwelche "Gesetze" automatisch und unwiderstehlich wirken. Es bedeutet: Was hier (nicht) gedacht und (nicht) getan wird, entscheidet über alles. Daraus, dass Menschen nur leben, wenn sie Lebensmittel haben, folgt ein Zwang zur Produktion solcher Mittel natürlich nur dann, wenn sie leben wollen, was durchaus nicht immer der Fall ist. Man denke nur an die Beliebtheit von Kriegen. Nicht der Bereich des Lebens allein ist entscheidend - was sollte das sein: ein Bereich des Lebens ohne Tod? -, sondern der Bereich, wo es um Leben und Tod geht.
Produktion des Lebens
Der Bereich der Produktion von Lebensmitteln ist insoweit entscheidend, als mit ihnen das Leben reproduziert wird. Daraus folgt, dass genauso entscheidend wie die Produktion der Lebensmittel die Produktion des Lebens selber ist. Das haben Marx und Engels ausdrücklich gesagt: Unter der ökonomischen Basis verstünden sie beides. Deshalb bezeichnen sie das Verhältnis von Mann und Frau als das historisch erste Produktionsverhältnis. Das ist keine Aussage über den sexuellen Zeugungsvorgang, sondern über das Ökonomische daran - über die dabei stattfindende Produktion. Also über das, was die Geschlechtlichkeit zur gesellschaftlichen Basis beiträgt. Marx und Engels beginnen mit der Ausarbeitung dieser Seite der Sache recht spät (Marx: Ethnologische Exzerpthefte, Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates), sie wird aber schon früh (in der Deutschen Ideologie) als zentral benannt. Wenn wir das Bild der Basis von der Geschlechtlichkeit her aufdröseln, führt es rasch in Debatten hinein, die auch dem aktuellen nichtmarxistischen Bewusstsein geläufig sind, und zeigt seinen Realitätsgehalt.
Man kann der Aussage über die sexuelle Produktion des Lebens nicht vorwerfen, sie bilde das Verhältnis der Geschlechter ökonomistisch ab. Denn sie beansprucht gar nicht, es umfassend zu behandeln. Sie wirft nur die Frage nach den Auswirkungen der Ökonomie der Geschlechter auf alles andere Gesellschaftliche auf, auch auf alles Gesellschaftliche im Umgang der Geschlechter selber. Ökonomie der Geschlechter? Das ist nicht nur "Hausfrauenarbeit" und dergleichen; es ist zuerst und vor allem die Arbeit an der Lebensentstehung. Welche Folgen hat es für die Geschlechtsrollen, wenn Mann und Frau in ihrer Eigenschaft als Arbeiterin und Arbeiter, Kapitalistin und Kapitalist dazu übergehen, das Leben ganz anders zu produzieren als bisher, nämlich vermittels des Reagenzglases und ohne physischen Kontakt? Oder umgekehrt gefragt: Was wäre die Ursache, wenn der Kontakt zwischen den Geschlechtern abnähme und sie sich mehr und mehr separierten? Oder hätte das gar keine Ursachen? Würde es nur zeigen, wie frei wir sind? Es ist nicht veraltet, so zu fragen. Vielmehr wäre es Verdrängung, die Frage auszulassen. Mir scheint, dass wir Heutigen noch mehr in die Verdrängung der basalen Sachverhalte flüchten als unsere Vorfahren.
Friedrich Engels schrieb einmal, die Basis-Überbau-Konzeption sei gar nicht deterministisch, da ja vom Überbau eine "Rückwirkung" auf die Basis ausgehen könne. Das klingt zunächst grauenhaft physikalistisch, ist aber auch wieder nur eine - diesmal der Mechanik entlehnte - Metapher. Auch hier dürfen wir die Metapher nicht mit der ausgesagten Sache verwechseln. Es geht um die Frage, ob man auf die Basis überhaupt "wirken" will. Nun, dann müsste man sie gedanklich und tätlich berühren. Man dürfte die Fragen von Leben und Tod nicht verdrängen. Engels fragt gleichsam zurück: Ihr sagt, die Basiskonzeption sei deterministisch? Ja, dann werft die Basis doch um! Ich sage nicht, das sei unmöglich, sondern im Gegenteil: Ich bin derjenige, der euch drängt, es zu tun. Was, ihr wollt nicht? Das macht mich nicht irre. Ich werde euch weiter in den Ohren liegen.
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