Schon der erste Tag war ein Höhepunkt: Alexander Melnikov spielte Debussys Bücher der Préludes pour piano (1909–1913). Die Genauigkeit, mit der er die oft dahinhuschenden Läufe artikulierte und ihre Struktur offenlegte, war ein Genuss. Diese Musik scheint sich zu fragen, wo das Wirkliche beginnt, wie es aus dem Unwirklichen auftaucht oder dorthin wieder zurücksinkt. So ist „Nebel“ die Bezeichnung des ersten der zwölf Stücke im Livre II: Nur manchmal löst sich eine klare Linie. Bei „Welke Blätter“ verlieren sich umgekehrt die anfangs erkennbaren Konturen. Dann „Das Tor des Weins“, das gleichsam lärmend auf die spanische Bühne springt, dann verunklaren die Gitarrenklänge. Das vierte Stück bleibt ganz im Unwirklichen: „Die Feen sind ausgezeichnete Tänzerinnen“, der Titel deutet es schon an. Alle Titel sind den Stücken nachgestellt, denn der französische Komponist wollte keine Programmmusik schreiben; die Bilder, von denen sie ausgehen, sind nur Anlässe.
Messiaen vermissen
Wie Debussy sie behandelt, unterscheidet ihn stark von der deutschen Musiktradition. Man vergleiche „Spuren im Schnee“ mit den „Intermezzi“ 2, 3 und 5 der Fantasias op. 116 (1892) von Johannes Brahms, die von sehr ähnlichem thematischen Material ausgehen: Während Brahms melancholisch in sich hineinhorcht, rührt die Trauer bei Debussy offenbar daher, dass man nicht wissen kann, wer die Spuren hinterlassen hat. Man wird Debussy bei diesem Musikfest noch häufiger begegnen und darf sich vor allem auf seine viel zu selten aufgeführte Bühnenmusik Le Martyre de Saint Sébastien (1911) freuen. Schade, dass nur Wagnerklänge sie ergänzen und nicht auch etwas von den ersten Kompositionen Olivier Messiaens, denn dann würde nachvollziehbar, was diesen anfänglich inspiriert hat.
Überhaupt stehen interessante Serien auf dem Programm: Nachdem Pierre Boulez mit dem Rituel in memoriam Bruno Maderna für Orchester in acht über den Konzertsaal verteilten Gruppen (1974/75/1987) vertreten war – wobei die Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim an die unmittelbar erschütternde Wirkung, die das Werk hat, wenn Boulez selber es dirigiert (Aufnahme von 1976 bei Sony), bei Weitem nicht heranreichte –, folgt etwa noch Le Marteau sans maître nach Texten von René Char (1953/55), eins seiner wichtigsten Werke und überhaupt ein Hauptwerk des 20. Jahrhunderts, am 10. September.
Bernd Alois Zimmermann wäre am 20. März 100 Jahre alt geworden und wird entsprechend geehrt. Schon am vorigen Sonntag wurde seine Sinfonie in einem Satz in der nicht oft gespielten Erstfassung mit Orgel (1951) gespielt und mit Bravorufen gefeiert, auch wegen der angemessen wuchtigen Darbietung durch das Rotterdam Philharmonic Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin, das zum ersten Mal bei den Berliner Festwochen gastierte. Beim Musikfest Berlin kommt die klassische Moderne nun schon seit Langem gleichberechtigt neben der älteren Klassik zur Geltung; so war Zimmermanns Sinfonie mit der Vierten von Anton Bruckner zusammengestellt (Fassung 1878/80), wohl weil man über dessen Sinfonien sagt, sie seien von der Orgel her empfunden. Sooft man solche Werke gehört hat, man hört immer Neues heraus. Diesmal war ich frappiert, wie der Hornruf, der die ersten drei Sätze beherrscht, im vierten einen Moment lang hinter das ganz Unerwartete zurückzutreten scheint.
Info
Musikfest Berlin noch bis 18. September 2018, Informationen unter berlinerfestspiele.de
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