Aus Trauer werden Engelstänze

Lauschangriff Keine inkommensurable Quasi-Mathematik, sondern durchaus sinnlich und dabei nicht ohne gedankliche Tiefe: Matteo Messori lässt uns Bachs Spätwerke neu hören

Schon allein durch die Zusammenstellung zieht dieses Bach-Album die Aufmerksamkeit auf sich: neben Der Kunst der Fuge und dem Musikalischen Opfer die kaum bekannten Canonischen Veränderungen über das Weynacht-Lied (Vom Himmel hoch da komm’ ich her). Tatsächlich bilden die drei Werke eine Einheit, es sind Bachs späte Meisterwerke einer Musikkunst, die sich als axiomatische Wissenschaft versteht. Lorenz Mizler, ein Mitglied von Bachs Collegium musicum, hatte in seiner Dissertation nachweisen wollen, dass alle Musik sich in Ableitungen aus dem Dreiklang ergehe; er gründete dann selbst eine Sozietät, in die Bach 1747 mit der Gabe der Canonischen Änderungen eintrat. Das ist spröde Musik, wenn man sie von Helmut Walcha gespielt hört. Matteo Messori jedoch, ein Bologneser, 35 Jahre alt, der Interpret unserer Aufnahme, kann sie zum flimmernd sinnlichen Erlebnis machen.

Ebenso sinnlich, aber deshalb nicht ohne gedankliche Tiefe, gestaltet er am Cembalo die beiden bekannteren Werke. Er macht deutlich, dass sie ihren Ruf als inkommensurable Quasi-Mathematik durchaus nicht verdienen. Die Kunst der Fuge (postum veröffentlicht) hat einen Inhalt, ist voller Leben und Ereignis. In der Tat aus dem Dreiklang sich entwickelnd, macht sie sich zunächst immer sperriger, lockert sich dann, um Raum für Trauer zu schaffen, und kann die Trauer zuletzt in Engelstänze ummünzen.

Messori orientiert sich an der barocken Aufführungspraxis. Die Spielweise, Einzeltöne etwas zu früh oder zu spät erklingen zu lassen, hört man häufig und meist mit Unwillen, sehnt sich nach Glenn Goulds aufgezogener Bach-Uhr zurück. Hier aber wird das Manierierte zum Medium des Dramatischen. Teils meint man, man erlebe mit, wie Bach nach Worten sucht, wo es keine gibt, teils begreift man wie selten sonst seine „fortspinnende“, aus der Improvisation geborene Kompositionsweise. Man begreift, dass die Komposition in Klängen voranschreitet. Ein Contrapunctus der Kunst der Fuge besteht zwar aus der poly­fonen Überlagerung von Linien, die pausenlos weitergehen. Sie sind es, die traditionell hervorgehoben werden; die zuhörende Aufmerksamkeit findet dann keinen Haltepunkt, kann nur irgendwie mitschweben. Tatsächlich aber kommentiert je ein Gesamtklang mit komplexer Architektur den vorhergehenden. Wenn es keine Pausen gibt, dann doch die schweren Akzente, den Schlag der Wogen. Damit wir die Wogen spüren, verzögert oder beschleunigt Messori die Töne. Wir hören, wie sie einstürzen, sich zusammenbrauen und wieder aufbäumen. Diese Art, Bach zu spielen, verrät auch den Geist der Avantgardemusik.

Königserforschung

Das musikalische Opfer (1747) ist eine Sammlung von Fugen, Canons und einer Triosonate auf ein Thema, das Bach sich von Friedrich dem Großen hat vorgeben lassen. Wahrscheinlich stammt jedenfalls die abfallende chromatische Linie im Mittelteil des Themas vom preußischen König, ist sie doch Ausdruck der an seinem Hof gepflegten Kultur der „Empfindsamkeit“, der Bach in der Triosonate unüberhörbar huldigt. Messori mit der Cappella Augustana spielt sie gefühlvoll und äußerst virtuos. Auch an den Cembalo-Fugen und -Canons betont er das „Empfindsame“. Etwas einseitig vielleicht. Denn Bach tut mehr, als das Selbstverständnis des Königs zu spiegeln. Er erforscht ihn anhand seines Themas. Für uns aber ist das eine fremdartige Musik, in die niemand besser einführt als der Bologneser.

J.S. Bach

Die Kunst der Fuge

, Musikalisches Opfer, Canonische Veränderungen (3 CDs und CD-ROM). Matteo Messori, Cappella Augustana. Brillant Classics 2011

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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