Bach wäre das alles egal

Kirchenmusik Ein Mädchen darf nicht in den Knabenchor. Ein Fall von Männerjustiz?
Ausgabe 38/2019
Als die Kleriker die Kirche übernahmen, endete auch der Gesang der Frauen
Als die Kleriker die Kirche übernahmen, endete auch der Gesang der Frauen

Montage: der Freitag; Material; Getty, Istock

Im Berliner Staats- und Domchor singen nur Jungen. Eine Mutter wollte das nicht hinnehmen, schickte ihre Tochter trotzdem zur Aufnahmeprüfung: Als sie abgelehnt wurde, klagte die Mutter vor Gericht. Das Gebot der Gleichberechtigung, der gleichen Teilhabe an staatlichen Leistungen und Förderungen werde verletzt. Die Klage scheiterte am 16. August. Das Klangbild von Knaben- sei anders als das von Mädchenstimmen, daher sei die Bildung reiner Knabenchöre gerechtfertigt, argumentiert das Gericht; man habe es hier nicht mit Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun (Art. 3 Abs. 3 GG), sondern mit einem Fall von Kunstfreiheit (Art. 5). Ist das „Genderjustiz“ in der männerbeherrschten Gesellschaft? Ich glaube nicht. Doch im Berliner Stadtmagazin ZITTY lesen wir, mit dem Klang der Stimmen habe die Ablehnung des Mädchens gar nichts zu tun: „Knabenchöre existieren, weil Frauen im Mittelalter und stellenweise bis ins 19. Jahrhundert hinein am Altar verboten waren.“ Ja, es ist gut, in dieser Sache historisch zu argumentieren. Man darf nur nicht vergessen, dass wir uns auch heute noch in der Relativität des Historischen bewegen.

Knaben zu Priesterscharen

In der Tat gibt es Knabenchöre zuerst in der Kirche, dies aber nicht vor dem fünften Jahrhundert nach Christus. In den urchristlichen Gemeinden hatten Frauen genauso wie Männer gesungen. Noch von Augustin, der viel später lebte, kam keinerlei Widerspruch. Ambrosius, sein Lehrer, der Bischof von Mailand, der einen Kaiser zum Bußgang zwang, befürwortete den Frauengesang ausdrücklich.

Das Ende des Frauengesangs im fünften Jahrhundert fällt mit dem Ende des Gesangs der Laiengemeinde überhaupt zusammen. Im Zuge der Klerikalisierung übernahm eine ausschließlich männliche Geistlichkeit die Kontrolle über die Kirchenmusik und das bedeutete, dass nur noch sie selber sang und Knaben zur Verstärkung hinzugezogen wurden. Für diese war es ein erster Schritt, selbst Priester zu werden. Mit der Gründung der römischen Schola Cantorum im siebten Jahrhundert wurde der Karriereweg formalisiert. Mehrere Päpste gingen aus ihr hervor.

Die Schola cantorum verlor später ihre herausragende Bedeutung, aber das Schema wirkt bis heute nach. So gibt es die 975 gegründete Regensburger Domschule noch immer. Zweck der Gründung war die Ausbildung des Klerikernachwuchses. Heute nennen sie sich „Domspatzen“ und rühmen sich, einer der ältesten Knabenchöre der Welt zu sein. Christian Heiß, seit 1. September neuer Leiter, überlegte einen Tag nach Amtsantritt öffentlich, der Chor werde vielleicht irgendwann auch für Mädchen geöffnet, tags darauf hieß es aber, er sei falsch verstanden worden. Man muss übrigens, wenn man über die „Spatzen“ spricht, auch der sexuellen Übergriffe gedenken. Eine Ausbildung von Internatszöglingen nur durch Männer sollte auf jeden Fall verboten werden.

Katholisch oder protestantisch macht bei unserem Thema kaum einen Unterschied. Der bekannteste evangelische Knabenchor dürften die Leipziger „Thomaner“ sein. Die Klosterschule, aus der sie hervorgingen, wurde 1212 gegründet und diente wiederum der Heranbildung des geistlichen Nachwuchses. Die Reformation säkularisierte zwar das Kloster und die Schule ging in städtische Verwaltung über. Sie bildete nun keine Priester mehr aus, im Übrigen war sie weiterhin keine bloße Gesangsschule. Das ärgerte noch Johann Sebastian Bach, der 1723 Thomaskantor wurde und es bis 1750, seinem Todesjahr, blieb: Er hatte gar keine Lust, den Knaben etwa auch Latein beizubringen, war dazu aber verpflichtet. Indessen kam kein Mensch auf die Idee – obwohl Luther den Klerus abgeschafft und sich als früherer Mönch mit einer früheren Nonne verheiratet hatte -, aus dem Knaben- einen gemischten Kinderchor zu machen. Das ist nun in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen sehen wir, dass es sich mit der Thomasschule nicht anders verhält als mit der gehobenen Ausbildung überhaupt. Überall ging ja aus den Klosterschulen, die der Priesterausbildung gedient hatten, das Gymnasium hervor, wie es seit der frühen Neuzeit genannt wird. Die Reformation spielte dabei eine wichtige Rolle. Ausgebildet wurden wie selbstverständlich nur Knaben. Gymnasiale Klassen für Mädchen wurden erst am Endes des 19. Jahrhunderts eingerichtet, gemischtgeschlechtliche nach dem Zweiten Weltkrieg, manchmal sehr lange danach: in Baden-Württemberg 1966, in Österreich 1975.

Getrübter Verstand

Zum andern, um auf Bach zurückzukommen, dürfte es schwerfallen, ihm zu unterstellen, er habe seine Kantaten unbedingt von Knaben ausführen lassen wollen. Der unterschiedliche Klang von Knaben- und Mädchenstimmen kann ihn kaum besonders interessiert haben, hatte er doch häufig dieselbe Musik verschiedenen Instrumenten zugewiesen. In seiner vielleicht bedeutendsten Komposition, der Kunst der Fuge, ist die Frage der Instrumentation sogar ganz offengelassen. Ich habe sie schon von Saxophonen ausgeführt gehört, warum nicht auch von einem Chor in der Art der Swingle Singers? Und ob das dann ein Kinder- oder Erwachsenenchor, Knaben-, Mädchen- oder gemischter Chor ist, was soll’s? Jedenfalls werden Bachs Kantaten heute ganz überwiegend von gemischten Erwachsenen-Chören gesungen. Andererseits hält der Knabenchor seine Stellung: Dirigenten, die Bach „historisch getreu“ aufführen wollen, halten an ihm fest wie auch an den Instrumenten, die zu Bachs Zeit zum Einsatz kamen.

Diese Dirigenten erinnern uns daran, dass wir ja auch heute noch in einem Geschichtsverlauf stehen, der uns womöglich den Verstand trübt – und nicht nur, wenn es darum geht, einer vergangenen Geschichtsepoche gerecht zu werden. Wie kommt es, dass mich ein Unbehagen beschleicht, wenn ich der Argumentation jener Rechtsanwältin zuhöre, die für das vom Berliner Staats- und Domchor abgewiesene Mädchen klagt? Berechtigt, so Susann Bräcklein, wäre eine Abweisung nur, wenn „Mädchen wegen ihres Geschlechts grundsätzlich nicht singen“, sondern „nur fiepen oder brummen können“. Dass Knabenstimmen anders klingen als Mädchenstimmen, stellt sie gar nicht in Abrede, auch nicht dass es Hörer und Hörerinnen, ja auch Komponisten und Komponistinnen geben mag, denen das wichtig ist. Gustav Mahler zum Beispiel hat für seine 8. Symphonie neben zwei gemischten Erwachsenenchören auch einen Knabenchor vorgesehen. Na und? Es sei problematisch, die Diskussion nur aus der Perspektive der Hörer und Konsumenten zu führen.

Kann man wirklich die gleich hohe Ausbildungsqualität von Mädchen nur dadurch garantieren, dass man Knabenchöre verbietet? Und übrigens, der Musikbetrieb braucht ausgebildete Sänger und Sängerinnen in gleicher Zahl, er schafft es offenbar auch, sie hervorzubringen. Nein, diese Tendenz, nur das Gleiche, Homogenisierte gelten zu lassen, also nur gemischte Chöre in unserm Fall, die hat nichts mit Gendergerechtigkeit zu tun. Das ist ein Fall von Normalismus, wie der Literaturwissenschaftler und Soziologe Jürgen Link es genannt hat, und Normalismus ist ein Stück kapitalistische Ideologie. Die Frage der historischen Herkunft etwa von Knabenchören spielt dabei überhaupt keine Rolle. Man wirft ja auch – um Nietzsches Beispiel in Erinnerung zu rufen – der Elternliebe nicht vor, dass Zöglinge in der Evolution zunächst nur deshalb gehütet wurden, weil sie später aufgefressen werden sollten.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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