Von drei Veranstaltungen habe ich hier noch zu berichten, zweimal Igor Levit mit den letzten sechs Klaviersonaten Ludwig van Beethovens und einem Konzert der Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko. Dieses besuchte ich am Samstag Abend. Auf dem Programm standen Alban Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“ (1935) und Antonin Dvořáks fünfte Sinfonie F-Dur op. 76 (1875). Eigentlich eine erstaunliche Zusammenstellung.
Dvořáks Fünfte, die er neben seinem Brotverdienst als Organist in fünf Wochen niederschrieb, gilt als Wendepunkt seiner musikalischen Entwicklung, ja als „seine erste wirklich reife Sinfonie“ (Ray Minshull). Reif an ihr, oder im Zusammenhang mit ihr, erscheint erst einmal der pure Zeitpunkt, denn genau gleichzeitig mit der Komposition bewarb er sich um ein staatliches Stipendium für junge, mittellose Komponisten. Im Grunde war das der Wendepunkt, denn Johannes Brahms und der bekannte probrahmsische, antiwagnerische Musikkritiker Eduard Hanslick saßen in der Kommission und waren von den eingereichten Arbeiten so beeindruckt, dass sie ihm ein Stipendium gleich für fünf Jahre zusprachen. Sehr wahrscheinlich gehörte die Streicherserenade E-Dur dazu, die er im Frühling desselben Jahres komponiert hatte, und dann kann man über die Freude der Kommissionäre nicht erstaunt sein. Brahms sagte einmal, er beneide Dvořák um seine Einfälle, woraus jedenfalls spricht, dass er ein ähnliches Schönheitsempfinden hatte, und was kann in der Tat schöner sein als das zweite Stück jener Serenade. Übrigens verschaffte Brahms dem jungen Kollegen auch endlich einen Verleger, Fritz Simrock, seinen eigenen. Dvořák hatte bis dahin, 1877, keinen gefunden. So ganz jung war er gar nicht mehr, 36 Jahre inzwischen.
Sicher fühlte Brahms eine Art Seelenverwandtschaft, die über das Schönheitsempfinden noch hinausging. Denn beide hatten sich dem, was damals als sinfonische Musik galt, nur mit Mühe angenähert. Für Brahms ist das bekannt; er rang um die Beethoven-Nachfolge, doch erst 1876 kam es nach einer Inkubationszeit von 14 Jahren zur Uraufführung seiner ersten Sinfonie, die denn auch ein Dokument der Auseinandersetzung mit dem großen Vorbild geworden ist; noch 1877 nahm er letzte Änderungen daran vor. Und wenn nun etwas an Dvořáks Fünfter interessant ist, dann dass auch sie, von musikalischen Qualitäten ganz abgesehen – er komponiert auch hier, wie sonst, mit wenig analytischer Zerlegung, darin ganz anders als Brahms –, vom sinfonischen „Geist“ zum ersten Mal etwas spüren lässt. Noch seine Vierte (1874), die ich selbst viel lieber höre, ist schön durch ihre lieblichen Erinnerungen, die quasi in Form einer Ballade vorgetragen werden. Die Fünfte aber, immer noch in solche Gestalten verliebt, bewegt sich auch kraftvoll in eine Richtung, in welche, weiß man nicht. Musikalische Ausrufezeichen, die das signalisieren, werden in kurzen Abständen gesetzt. Das ist schon ein Wendepunkt. Die erinnerten Träume, hat man den Eindruck, sollen nun verwirklicht werden. Höhepunkt und Abschluss dieser Entwicklung wird die Achte sein (1890).
Die Parallelität der Wege von Brahms und Dvořák ist frappierend, mich lädt sie zu der Spekulation ein, dass sie ihre Zeit lange als eine Art Geschichtslosigkeit erlebt haben könnten, die dann um 1875 herum zu Ende ging. Wenn es einen „Geist“ der Sinfonik seit Beethoven gibt, ja vielleicht seit den letzten Sinfonien Mozarts und Haydns, dann ist es sicher ein geschichtlicher. Nun hatte 1873 die „Große Depression“ begonnen, aus der letztendlich der Erste Weltkrieg hervorgehen sollte, und zwar hatte sie mit einem Börsenkrach in Wien begonnen, der Hauptstadt Österreich-Ungarns, zu dem auch Dvořáks Böhmen gehörte und wo Brahms seit 1872 lebte. Das Ende der Geschichte war nun vertagt, obgleich doch die Bürger eine so vollendete Zivilisation in ihrem 19. Jahrhundert geschaffen hatten. Wenn man unterstellt, dass in Sinfonien Geschichte musikalisch reflektiert wird, dann findet man bei Brahms sehr düstere Erwartungen, während sich wohl bei Dvořák die Hoffnung auf nationale Befreiung spiegelt. In dessen Neunter allerdings nicht mehr („Aus der neuen Welt“, 1893), das ist eher eine sachlich klingende, zugleich sehr schwermütige Beschreibung von etwas Anderem, man kann nicht sagen von was. Sie hat einen ekstatischen Höhepunkt im vierten Satz, genauso wie das bei Brahms‘ Vierter (1885) der Fall ist; über diese Vierte war Brahms‘ Freundin Clara Schumann sehr erschrocken, denn ihr apokalyptischer Charakter lag offen zutage.
Zurück zu Dvořáks Fünfter; Petrenko spielte sie sehr kraftvoll, etwas zu kraftvoll vielleicht; ich hätte mir mehr Hörbarkeit der nicht ganz unparadoxen Mischung von Dvořáks gewohnten Idyllen und deren Zurichtung zum Vorwärts! gewünscht. Das Publikum war aber begeistert. Ich selbst war es nach dem Violinkonzert von Berg. Der „Engel“, dessen da gedacht wird, war Marion Gropius, die Tochter von Alma Mahler, der Witwe Gustav Mahlers, aus ihrer Ehe mit Walter Gropius. Diese Tochter erkrankte mit 17 Jahren an Kinderlähmung und starb ein Jahr später. Im zweiten Satz, der den frühen Tod evoziert, spielt Berg auf Johann Sebastian Bachs Choral „Es ist genug“ an (aus der Kantate "O Ewigkeit, du Donnerwort!", BWV 60), doch noch erschütternder ist der erste Satz, in dem die Solovioline (Frank Peter Zimmermann) an die naive Lebensfreude des jungen Mädchens erinnert; der drohende Hintergrund ist schon da, hörbar aber nur für das Publikum. Den Kontrast habe ich noch nie so aufwühlend erlebt wie an diesem Abend. Man hört das Mädchen, als wäre es mit Wenigem zufrieden gewesen, doch dem Leben, oder vielmehr dem Tod war das vollkommen egal. Durch ein Foto im Programmheft steht uns Marion Gropius vor Augen.
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Zu Beethovens letzten sechs Klaviersonaten gehören alle fünf, die zu deren „dritter Periode“ gezählt werden. Ich will fast nur zum Pianisten etwas sagen, den ich am Samstag Nachmittag und Sonntag Abend hörte. Er hatte Beethovens sämtliche Sonaten schon bei den Salzburger Festspielen dargeboten, wozu Anfang August ein Artikel von Jan Brachmann in der FAZ erschienen war. Sein Urteil: „Vom ersten Ton an ist klanglich alles ausbalanciert.“ „Man staunt über seine blitzsauberen Oktaven, über die Schleuderfiguren in Überschallgeschwindigkeit, noch mehr aber darüber, dass er schärfste Lautstärkekontraste auf kleinstem Raum in dieser Raserei darstellen kann. Das macht ihm so leicht keiner nach. Aber – die Musik keucht atemlos davon. Sie wird um ihre Sprache gebracht, kennt weder Punkt noch Komma. Sie saust dahin wie auf einem Gleis, eingepfercht durch Leitplanken und Fahrpläne.“ „Levit leistet viel, enorm viel. Und es entsteht im Druck, den er sich selbst macht, durchaus Poesie.“ „Überall, wo Beethoven sich als Virtuose der Konversation zeigt, wo er gepfefferte Bonmots streut und riskante Witze macht, ist Levit in seinem Element. Wo es aber um Feuer, ums Auf-Spiel-Setzen der eigenen Existenz geht, gerät er stets in Gefahr, Pathos als Leistungssport misszuverstehen, als Demonstration von Fitness.“ Es sei deutlich geworden, „dass bei Levit chronos über kairos triumphiert, das Abgemessene über das Einmalige und Unwiederbringliche.“ „Körperliche Kondition und konstruktive Weitsicht kommen [...] in Levits Spiel zusammen. Der Druck von Tempo und Texttreue, den er sich selbst macht, zeugt von Einsicht, Gewissenhaftigkeit und Verantwortungsgefühl. Wenn er selbst sagt, Beethoven sei Musik für uns und über uns, meint er damit vielleicht uns Menschen einer Leistungsgesellschaft, in der alles durchökonomisiert ist, einer Zeit, die keine Zeit mehr hat.“
Nein, das ist mir nicht nachvollziehbar. Mein Eindruck war ein ganz anderer, nämlich dass Levit darauf aus ist, den Sinn der Sonaten zu erfassen, und sich dieser Aufgabe mit sehr viel eigener „geistiger“ Kompetenz gewachsen zeigt. Nach der „Hammerklaviersonate“ B-Dur op. 106 hat das Publikum getobt, ich mit ihm, noch nie habe ich so oft Bravo geschrien. Wenn das nicht kairos, einmalig, unwiederbringlich ist, dann weiß ich nicht, was diese Wörter bedeuten. Im ersten Satz, ziemlich zum Ende hin, gibt es eine Stelle, wo das brutal herausfahrende rhythmisch-akkordische Eingangsmotiv wieder einmal erklingt, unerwartet jedoch, und leicht verlangsamt, in moll – Levit isoliert es in geradezu beängstigender Weise, lässt eine unheimlich lange Pause vorausgehen und auch folgen. Darin allein schon ist begriffen, was sich hier abspielt; dieser Satz spiegelt eine Art von Kampfhaltung, die Beethoven mittlerweile kritisch sieht, und die Tragik des moll-Akkords bringt es auf den Punkt. Wo, wenn nicht da, steht eine Existenz auf dem Spiel.
Oder wie er die ganz verschiedenen Schlusssatz-Fugen spielt, mit denen drei der fünf späten Sonaten enden: die der Hammerklaviersonate als Umlenkung einer im ersten Satz noch fehlgeleiteten gigantischen Kraft in ein besseres Dispositiv, wo man sich freilich immer noch fragt, wo er mit ihr denn hinauswill – man hört noch nicht auf zu erschrecken –; dann die beiden ganz anderen Fugen, von denen die eine die Umkehrung der andern ist, in der vorletzten Klaviersonate As-Dur op. 110. Da übernimmt Beethoven fast wörtlich die „dorische“ Orgelfuge von Bach (d-moll BWV 538), lässt sie wie dort in großen Stufen aufwärts gehen, dann aber, nach einer Art Glockengeläut dazwischen, als sagte ein Mensch, er sei nun „geläutert“, in denselben Stufen abwärts. Hier lässt Levit die innere Ruhe hören, die Beethoven trotz seines nicht leichten Lebensschicksals zuletzt erworben hat. Diese Sonate endet bereits in Tönen eines ekstatischen Friedens, die dann den ganzen zweiten und letzten Satz von op. 111 in c-moll beherrschen, dessen ruhiges Eingangsmotiv Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus (1947) ausführlich erörtert. Die Gedanken dazu hatte Theodor W. Adorno beigesteuert, was Mann dadurch kenntlich macht, dass er das dreitönige Motiv unter anderm zu „Wie-sengrund“ singen lässt, Adornos mittlerem Namensbestandteil und eigentlichem Namen. Und auch hier kann man Levits Spiel nicht genug loben; ist doch schon diesen ersten drei Tönen, obwohl sie sich gar nicht auffällig machen wollen, die ganze folgende Ekstase abzulesen. War das eine „Demonstration von Fitness“? Fitness wohl, doch hatte sie Besseres zu tun, als sich selbst zu demonstrieren.
Ich bedanke mich für dieses Musikfest, das unter schwierigen Umständen abgehalten werden musste und sie bewältigen konnte.
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