... befand ich mich in einem dunklen Wald

Musikfest 2015 Pelleas und Melisande: Ein Vergleich der Versionen Schönbergs und Debussys bringt eine Eigentümlichkeit deutscher Musik zum Vorschein

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

... befand ich mich in einem dunklen Wald

Foto: Kai Bienert

Schönberg

Arnold Schönbergs Tondichtung Pelleas und Melisande op. 5 , aufgeführt heute vor einer Woche vom SWR-Sinfonieorchester unter Francois-Xavier Roth, ist 1902/03 die nächste Komposition nach Verklärte Nacht gewesen und kann wie dieses Streichsextett, unter Vorbehalt und in erster Annäherung, noch spätromantisch genannt werden. Unter Vorbehalt: Wir haben schon beim Streichsextett, das am vorvorigen Donnerstag in der späteren Fassung für Streichorchester aufgeführt worden war, gesehen, dass das Spätromantische eher der Gegenstand der Schönbergschen Musik, das von ihr Gedeutete und so als Deutung Präsentierte, als ihre eigene Perspektive war. Dieser Eindruck muss sich beim Orchesterwerk Pelleas und Melisande noch verstärken.

Man glaubt zunächst etwas wie Richard Wagner zu hören, wenn man überhaupt viel hört beim ersten Hören. Die Komplexität dieser Musik war von Anfang an berüchtigt, selbst Schönbergs Schwager und Musiklehrer Alexander Zemlinsky schrieb ihm zurück, er halte sie für unaufführbar und schon die Partitur für kaum lesbar. Übrigens ist das allein schon ein Zeugnis ihrer Modernität trotz der Wagner-Fassade, die sie zeigt. Denn für einen Dirigenten wie Pierre Boulez, der 2011 eine bravouröse Einspielung vorlegte, wird sich die Dichtheit des Werks nicht viel anders dargestellt haben als die seiner eigenen Kompositionen. Interessant aber, dass selbst Boulez einen Weg zurücklegen musste, um das Werk so zu bewältigen, wie es ihm zuletzt gelang. Denn in einer Einspielung von 1992 vermittelt er noch den Eindruck, in der Arbeit des Analysierens zu stecken; die Analyse gelingt, doch die Interpretation wirkt insgesamt akademisch; 2011 dagegen führt er so viel Emotionalität vor, dass es fast nicht mehr erträglich ist und man kaum noch auf die Idee kommt, den packenden Gesamteindruck im Hören analytisch zerlegen zu wollen. Die Aufführung des SWR-Sinfonieorchesters unter Roth kam dieser Leistung nahe. Es war wohl auch eingestimmt auf diese trauernde Musik, denn das Orchester wird demnächst aufgelöst. Roth sprach darüber nach dem Ende des Konzerts vom Pult aus und bedankte sich beim Publikum für langjährige Verbundenheit.

Der Text, der hinter der Musik steht, ist ein Drama von Maurice Maeterlinck aus dem Jahr 1892, das zur selben Zeit wie von Schönberg auch von Claude Debussy vertont wurde, zur Oper in seinem Fall. Die Komponisten wussten voneinander nicht, dass sie es taten. Ganz kurz zur Handlung: König Golo streift durch den Wald, findet an einem Brunnen ein geheimnisvolles Mädchen, verliebt sich, zieht sie gegen ihr Widerstreben in sein Schloss, heirate sie, was sie nur eben geschehen lässt. Später begegnet sie Golos Bruder Pelleas, da lieben sich beide auf den ersten Blick. Golo ist furchtbar eifersüchtig. Als er später die beiden in einer Liebesszene antrifft, erschlägt er den Bruder. Melisande stirbt, nachdem sie eine Tochter zur Welt gebracht hat. Golo bleibt allein zurück. Wie man sieht, ähnelt die Konstellation tatsächlich derjenigen von Wagners Tristan und Isolde, so dass es für einen deutschen Komponisten nahelag, hieran musikalisch anzuknüpfen. Bei Wagner ist Isolde die Frau des Königs Marke, liebt aber stattdessen Tristan, Markes Freund und Brautwerber, von den dreien bleibt zuletzt nur Marke im Leben zurück.

Was Schönberg aber ganz anders als Wagner macht, ist dass er die Geschichte gleichsam aus Markes Perspektive erzählt, was in Tristan und Isolde ganz und gar nicht der Fall ist. Da ist Marke eine Randfigur, wenn er auch eine lange Szene am Ende des Zweiten Aufzugs hat. Golos Motiv und Thema in Pelleas und Melisande hingegen beherrscht dieses Werk von Anfang bis Ende. Denn obgleich auch die Szene der Liebenden breit ausgemalt wird, kann sie Golo, dem eine lange Coda ganz allein gewidmet ist, doch auch musikalisch das Gleichgewicht nicht halten. Ich sage „Motiv und Thema“, weil man auch sagen kann, unter all den vielen Motiven, die zu Gehör kommen, ist es gerade das von Golo, aus dem ein weit ausgeworfenes Thema wird. Dieses Thema steht Tristan und Isoldes Liebesmotiv, den berühmten Anfangstakten der Wagneroper, sogar nahe: Es strebt in mehreren Anläufen nach oben, wo es nie ankommt. Allerdings hat es nicht wie bei Wagner die Tendenz, sich noch immer weiter zu steigern, sondern seine traurige Unendlichkeit besteht darin, dass es auf der Höhe der Resignation, die durch eine Triolenfigur angezeigt ist, immer- und immerzu wiederholt werden könnte. Wie es schon nach wenigen Takten zuerst anklingt, zeigt es von Anbeginn eine abgedunkelte Pracht, die so wehrlos gegen sich selbst ist, dass sie nicht einmal das Weiterlaufen einer Hoffnung verhindern kann, die längst widerlegt ist, obgleich sie gar nichts vor sich verbirgt und keinen Zweifel daran lässt, dass der Ausgang ein tragischer sein wird. Die Musik scheint suggerieren zu wollen, dass sie sich eines vergangenen Glücks nur erinnert, das es zudem gar nicht gegeben hat.

Das Werk ist in allen Details analysiert worden und man hat gezeigt, wie Schönberg praktisch jeder Wendung des Maeterlickschen Dramas eine musikalische Entsprechung gegeben habe. Ich selbst brachte mir diese Analyse jetzt erst zur Kenntnis und kann sie bestätigt finden, meine aber, dass man sie nicht kennen muss. Die Musik lebt trotz allem aus sich selbst als Musik. Wichtiger schon ist die Analyse, die Schönbergs Schüler Alban Berg vorgenommen hat. Der zeigt, dass man das Werk als einsätzige Symphonie auffassen kann, in der es da, wo der zweite Satz integriert ist, ein Scherzo gibt, beginnend mit Pelleas‘ erwachender Liebe, und an dritter Stelle als langsamen Satz seine große Liebesszene mit Melisande. Von der erstgenannten Analyse scheint mir am wichtigsten, dass sie die Fülle der von Schönberg geschaffenen Leitmotive verzeichnet. Aber ist es nicht so, dass diese Musik aus gar nichts anderem besteht als aus sich variierenden Leitmotiven und dass sie ihr sich entwickelndes Netzwerk ist? Dann wäre der Ausdruck „Leitmotiv“ gar nicht mehr passend, da nichts übrig bleibt, was zu „leiten“ wäre. Wenn meine Beschreibung treffend ist, muss gesagt werden, dass diese Komposition praktisch schon so angelegt ist wie die Fünf Stücke für Orchester op. 16 (1909), die ich mit einem sich entwickelnden dreidimensionalen Mosaikbild verglichen habe. Nur dass sich die Fünf Stücke einer radikalen Verknappungskur unterwerfen werden.

Von Golos Trauer ist Pelleas und Melisande beherrscht, als sollte gesagt werden, es würden ja auch musikalische Wendungen zu Gehör gebracht, „noch einmal, zum letzten Mal“, wie Wagner manchmal textet, deren historische Zeit abgelaufen ist. Als verhielte sich Schönberg wie Antigone: komme der Pflicht des Beerdigens nach.

Debussy

Sehr glücklich folgte am Abend danach ein Konzert, das Debussys Version vorstellte – nicht die ganze Oper, aber eine Verdichtung derselben zur Symphonie, eingerichtet 1983 von Marius Constant – und dieser wiederum den konzertant gegebenen Zweiten Aufzug von Wagners „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal (1882) zur Seite stellte (Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin, Leitung Donald Runnicles). Denn wie ich schon sagte: Debussy war glühender Wagner-Verehrer gewesen, wollte sich dann aber radikal von ihm und vom Gestus der „Tiefe“ deutscher Musik überhaupt emanzipieren, wovon gerade seine Pelléas-Oper ein bedeutendes Zeugnis ist; von der schreibt aber Adorno, sie höre sich wie ein Schatten des Parsifal an. Tatsächlich kehrt etwa der Rhythmus von Parsifals Motiv bei Debussy immer wieder und es gibt Akkordfolgen, die in der Art ihrer Verhangenheit sehr direkt an Akkorde im Parsifal erinnern. Dennoch kommt mit Debussys Musik etwas ganz Neues auf die Welt, und der Unterschied zur deutschen Musik ist wirklich schneidend. Sie ist nämlich, wenn ich es nur kurz andeute, objektivistisch statt subjektivistisch. Sie lässt sich trotz der Tragik der Handlung zu keinerlei Gefühlsausbrüchen herab, nicht jedenfalls, wohlgemerkt, in der Instrumentalmusik, sondern klingt da wie ein großes Blumenfeld, von dem allenfalls gesagt werden kann, es gebe ja auch typische Trauerblumen und die seien hier im Spiel.

Leidenschaftliche Gefühlsaubrüche gibt es durchaus, doch liegen sie, eigentlich einleuchtenderweise, nur bei den Sängern. Dass Debussy es so komponiert, lässt sich gerade von Maeterlincks Drama her gut begründen, wird doch dort eine rätselhafte Welt entworfen – eine symbolistische -, in der sich die handelnden Figuren bewegen, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht. Ein Mädchen wird im Wald am Brunnen gefunden, nie erfährt man, wie und warum sie dorthin gelangte! Und der Wald selber ist ein Wald – man kann an den Beginn von Dantes Commedia denken:

Als unseres Lebens Mitte ich erklommen,
Befand ich mich in einem dunklen Wald,
Da ich vom rechten Wege abgekommen.

Dante begegnet dann einem Pardel, einem Löwen und einer Wölfin und weicht vor ihnen zurück. Golo begegnet dem Mädchen! Ja, man muss sich eher darüber wundern, dass in Schönbergs Musik vom Rätselhaften überhaupt gar nichts übrig bleibt. Sogar das Motiv des Waldes, mit dem seine Tondichtung einsetzt, ist eigentlich nichts weiter als der erste Anlauf zum Golo-Motiv. Es rollt am Boden und Golo wird rollend zum Flug ansetzen.

Mir fällt ein, wie ich vor längerer Zeit einmal im U-Bahn-Schacht des Bahnhofs Zoo stand. Er war voller Leute, die auf die Züge warteten, und irgendwo schrie ein sehr junges Mädchen, eine Schülerin wohl noch, verzweifelte Botschaften an ihren Freund, der offenbar gerade mitgeteilt hatte, dass er sie verlasse, in ihr Handy hinein. Alle hörten es mit an. Natürlich zeigte niemand eine Regung. Und auch die Wände des Schachts neigten sich nicht, die Gleise krümmten sich nicht, die Kioske fuhren nicht wie Flammen auseinander. So aber, als geschähe dergleichen, pflegt deutsche Musik Vorgänge zu schildern. Nicht nur diejenige Schönbergs, er setzte da nur eine Tradition fort, die auch nach ihm fortlief, man denke an Hans Werner Henze oder Wolfgang Rihm. Debussy hatte ein deutliches Zeichen dagegen gesetzt. Er wurde auch dadurch, neben Schönberg, zu einem Hauptbegründer der neuen Musik. Es gibt Stücke von ihm, die Igor Strawinskis Le Sacre du Printemps (1913) direkt vorbereitet haben. Übrigens hat auch Hans Pfitzer an Debussy angeknüpft, auf sehr deutsche Art natürlich wiederum und wohl nur in seiner Oper Palestrina (entstanden 1912-17). Da meint man schon in den Anfangsakten einen Nachhall von Pelléas et Mélisande zu vernehmen. Und es ist ja hervorgehoben worden, dass die Leitmotive von Pfitzners Oper nicht innere Vorgänge, sondern äußere Sachen in Töne setzen, zum Beispiel die Größe Roms oder den Engelsgesang, was zur Folge hat, dass eine handelnde Person, wenn sie auf Rom zu sprechen kommt, diese Größe mitartikulieren muss, möge sie Rom auch gerade den Rücken kehren, oder wenn auf den Engelsgesang, dessen innerkirchliche Authentizität mit zu Gehör bringt, sei dieser Gesang in ihrer Rede auch eigentlich nur ein rhetorischer Trick, eine Lüge.

Debussy und die ihm folgten, haben nicht nur Maeterlincks Welt verrätselt gefunden: Ihre Musik ist verschlossen geblieben und noch immer verschlossener geworden. Wer denkt da nicht an Max Weber, den deutschen Soziologen; der schrieb 1913: „Der Fortschritt der gesellschaftlichen Differenzierung und Rationalisierung bedeutet [...], wenn auch nicht absolut immer, so im Resultat durchaus normalerweise, ein im Ganzen immer weiteres Distanzieren der durch die rationalen Techniken und Ordnungen praktisch Betroffenen von deren rationaler Basis, die ihnen, im Ganzen, verborgener zu sein pflegt wie [sic!] dem ‚Wilden‘ der Sinn der magischen Prozeduren seines Zauberers.“ (Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie [1913], in: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart 1973, S. 97-150, hier S. 149 f.) Und wenn wir noch einmal zurückschauen, ist es doch bemerkenswert, dass Wagners Parsifal sogar noch zehn Jahre vor Maeterlincks Drama geschaffen wurde. Im Parsifal ist die rätselhafte Welt als solche zum Thema erhoben: Lange muss Parsifal in ihr herumirren infolge des Fluchs der Kundry. Immerhin findet er ganz zuletzt den Ausgang, den es bei Maeterlinck nicht mehr gibt. Man kann allenfalls hoffen, dass Melisandes Tochter ihn einst finden wird.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden