Beilage zur Propagandaversion

Die Andere Gesellschaft Erster Teil der Beilage: Die archäologischen Schichten des Menschenbildes

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Das Stichwort „Propagandaversion“ fiel in der 137. Notiz. Gemeint war, dass die Andere Gesellschaft in der öffentlichen Kommunikation umfassender vorscheinen muss, als dass nur ihre neuartige ökonomische Basis bekannt wird. Zwar ist die neue Ökonomie, eine nichtkapitalistische Marktwirtschaft, deren Umfang und Proportionen durch allgemeine Wahlen festgelegt werden, das wichtigste Moment solcher Kommunikation und ist auch der entscheidende Hebel der Umwälzung. Denn mit ihr ist allen, die einen Ausweg aus der ökologischen Krise und den periodischen ökonomischen Krisen des Kapitalismus suchen, ein realistisches und funktionsfähiges Ziel gewiesen. Daran hat es bisher gefehlt. Aber man kann nicht erwarten, dass ein nur ökonomisches Modell die Herzen und Sinne der Menschen so sehr ergreift, dass sie allein mit ihm ausgestattet schon revolutionär werden. Fehlt so ein Modell, kann man jede revolutionäre Hoffnung vergessen, ist es aber da, reicht es wegen seines gewissermaßen nur technischen Charakters nicht aus.

Es ist natürlich gar nicht angemessen, in dem, was da noch hinzukommen müsste, bloß fehlende „Propaganda“ zu sehen. Nein, es fehlt offenbar in der Sache etwas, wenn eine Gesellschaft nur durch ihre Ökonomie statt umfassend kulturell bestimmt wird – wenn man so täte, als seien die gesellschaftlichen Individuen nur oder vor allem homines oeconomici. Es geht daher in den nachfolgenden Überlegungen nicht bloß um „die Propagandaversion der Anderen Gesellschaft“ – ich habe den Ausdruck in die Überschrift gesetzt, um an jene Notiz anzuschließen -, sondern um die kulturelle Perspektive, in der man sich zu dieser Gesellschaft auf den Weg macht. Wenn ich hierzu jetzt noch etwas nachschieben kann, ist das dem Umstand zu verdanken, dass ich vor einem Monat meinen Traktat über die Revolution abschloss („Der Weg zur Gründung“, 141. bis 148. Notiz), der mein erster Versuch überhaupt gewesen war, mich dem Thema theoretisch-konzeptionell zu nähern. Ist dergleichen nämlich einmal zu Papier gebracht, wirkt es wie eine deutlich ausformulierte Frage, die im Kopf fortwuchert und ihn für neue Antworten öffnet. Solche zu generieren, reicht dann schon das erste anregende Buch, auf das man anschließend stößt, indem eine dort fallende Bemerkung zu neuen Assoziationen führt.

So ist es gekommen. Nur einen kleinen Schritt hat die Anregung weitergeführt, ich halte ihn aber für mitteilenswert. Übrigens werden später wohl noch weitere kleine Schritte folgen, denn ich merke, dass auch diese Beilage, deren zweiter Teil morgen im Netz stehen wird, noch nicht alles sagt, was aus meiner Perspektive gesagt kann. - Im gerade erscheinenden neuen Buch von Heinz Bude, dem in Kassel lehrenden Soziologen, fand ich diese Passage über „den Menschen“:

„Der Mensch ist zweifellos nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Vielmehr wissen wir nach fünfzig Jahren humanwissenschaftlicher Selbsterforschung, dass der Mensch mit seinen Eigenarten, Unterschieden und Ähnlichkeiten eine ziemlich junge Erfindung der europäischen Kultur des sechzehnten Jahrhunderts darstellt. Allerdings sieht es nicht danach aus, dass wir inzwischen Erkenntnisse gewonnen und Dispositionen vorgenommen hätten, die den Menschen, so wie wir ihn kannten, zum Verschwinden gebracht hätten wie ein Gesicht im Sand am Meeresufer – so einst Michel Foucaults Bild des Abschieds. Für eine Welt, in der Jahr für Jahr Werber, Investmentbanker und Radiologen aus aller Welt zu dem spirituellen Spektakel »Burning Man« in die Wüste von Nevada und zugleich junge Menschen aus Bordeaux, Wolfsburg und Liverpool zum IS nach Syrien aufbrechen, in der im Netz jeden Moment Millionen von Mikroentscheidungen durch Maschinen getroffen werden und zugleich keine Patientenverfügung ausreicht, um zu entscheiden, was mit einer sterbenden Person geschieht, in der die Prosumenten aller Länder mit Hilfe von Big Data eine strenge Kategorisierung nach Vorlieben, Ansprechbarkeit und Verbindbarkeit erfahren und zugleich innerhalb der Gesellschaften der soziale Graben zwischen den Privilegierten und den Unterprivilegierten tiefer wird, in der in vielen Regionen soziale Rechte generalisiert und in anderen die Menschenrechte für bestimmte Gruppen außer Kraft gesetzt werden: in so eine Welt passt Foucaults Bild des verschwindenden Menschen nicht. Helmuth Plessner hat stattdessen schon in den frühen 1930er Jahren als Leitlinie für ein phänomenologisches Vorgehen das »Prinzip der Unergründlichkeit oder der offenen Frage« benannt und damit das Wort »Mensch« zur Chiffre des Rätsels, das wir uns selbst sind, gemacht.“ (Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen, München 2016, S. 36 f.)

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Um zu zeigen, was Budes Überlegung mit unserer Frage nach der kulturellen Perspektive des Aufbruchs zur Anderen Gesellschaft zu tun hat, reicht es fast schon, das „Spektakel ‚Burning Man‘“ herauszuheben, von dem ich nichts gewusst hatte. Dieses 1986 entstandene Festival, in dem sich derzeit um 70.000 Menschen eine Woche lang (2016 vom 29.8. bis 5.9.) in einer „temporären Stadt“ aus Kunstinstallationen versammeln, wofür sie bereit sind, zwischen 200 und 800 Dollar Eintritt zu zahlen, gipfelt in der Verbrennung eines hölzernen Mannes, der ganz entfernt an die Stadtskulpturen Jonathan Borofskys erinnert. Irgendeinen deklarierten Gesamtsinn scheint das nicht zu haben, obwohl man natürlich liest, „die Vergänglichkeit“ werde gefeiert und dergleichen. Es gibt aber seit 1995 vielsagende jährliche Mottos wie „Gutes und Schlechtes“, „das Inferno“, „unklare Einheit“, „der Körper“, „sieben Alter des Menschen“, „jenseits des Glaubens“, „die Weite des Himmels“ und so fort. Der Mensch als unbekanntes Wesen scheint das Gesamtthema zu sein. Unbekannt ist er, weil seine Geschichte ja noch nicht abgeschlossen ist und man nur von seinem Ende her würde sagen können, was das ist, worauf er irgendwie immer schon zusteuert.

Dass er in Gestalt der weithin sichtbaren hölzernen Skulptur verbrannt wird – sie war 2014 32 Meter hoch -, erinnert uns natürlich an Wolfgang Mattheuers Linolschnitt „Prometheus verlässt das Theater“, den ich in der 137. Notiz als denkbare aktuelle Verbildlichung des revolutionären Wegs erörtert habe. Er ist übrigens nicht lange vor dem Burning Man entstanden: 1982. In beiden Fällen ist eine als Repräsentant „des“ Menschen lesbare Figur mit Feuer und Ende konfrontiert, der Unterschied ist nur, dass Mattheuers Figur vor dem Feuer flieht, während die Figur in der Wüste ihrerseits verbrennt. Ich sage „nur“, weil dies sicher keinen Abschied vom Menschen bedeutet, denn man sieht ja, es ist der Höhepunkt einer Woche, in der sich menschliche Vitalität zur Schau stellt. Gutbetuchte in diesem Fall, aber trotzdem. Bei allen Katastrophen, die der Mensch sich zufügt, scheint er doch ganz ungebrochen, nur dass er sich wieder einmal umwälzen muss – darum geht es und so liest es auch Bude. Es ist eine Art Sylvester-Ritual, das vielsagenderweise am Tag vor dem Tag der Arbeit, den man in den USA nicht am 1. Mai sondern am ersten Montag im September feiert, begangen wird: Morgen, scheint es zu sagen, krempeln wir die Ärmel hoch, arbeiten an uns und erneuern uns. Aber damit haben wir eine Metapher, die weiter trägt als Mattheuers Bild, in dem doch nur dargestellt ist, wie ein oder der Mensch seine bisherige Welt verlässt - nicht aber, dass er mit dieser dasselbe war und daher gar nichts ausrichtet, wenn er nicht auch sich selbst verlässt.

Bude führt den Burning Man und anderes an, um zu illustrieren, dass „der Mensch“ ein Projekt, eine offene Frage ist und dass es ihn so lange gibt, wie er das ist. Er weist damit Michel Foucaults einstiges Urteil zurück, „der Mensch“ sei eine recht junge Diskurserfindung und sei schon wieder verschwunden. Die „offene Frage“ zitiert er von Plessner, er hätte auch Hannah Arendt zitieren können (und sollen), die darauf hinweist, dass der Topos schon bei Augustinus auftaucht. „Ich bin mir zur Frage geworden“, quaestio mihi factus sum, ist in Confessiones IV 4.9 zu lesen. Plessner verallgemeinert den Topos allerdings, und wer wollte ihm und Bude widersprechen, wenn sie sagen, nicht irgendein Einzelner, sondern der Mensch als solcher sei das Wesen, das sich selbst ein Rätsel sei?

Nun, es gibt schon welche, die offen oder heimlich widersprechen. Jene, die ihn durch „künstlich intelligente“ Maschinen ersetzen wollen, glauben ja offenbar, den Menschen kenne man hinreichend, wenn man nur den heutigen Menschen kenne, der so viele Katastrophen anrichtet. Aber das lassen wir beiseite, weil es allzu lächerlich ist. So kurz dürfen Urteile nicht springen. Man überlege doch, was die Dimension der Frage ist: Den Menschen als Begriff gibt es, wie Foucault wusste und Bude erinnert, zwar wirklich erst seit dem 16. Jahrhundert nach Christus; ist er aber einmal da, bezeichnet er rückwirkend ein Wesen, das seit 195.000 Jahren herumläuft - mit Vorformen von 3 bis 4 Millionen Jahren; das Feuer zum Beispiel wurde vor 1,4 Millionen Jahren gezähmt, die ältesten bekannten Steinartefakte sind mehr als zweieinhalb Millionen Jahre alt und den aufrechten Gang gar, für Friedrich Engels noch das Entscheidende, gibt es seit sechs Millionen Jahren -, so dass seine „geschichtliche“ Zeit von nur wenigen Jahrtausenden wie ein Wimpernschlag, aber auch wie eine Explosion anmutet. Eine gewaltige Umwälzung „des Menschen“ ist nicht seit dem 16. oder gar erst 19. Jahrhundert, sondern seit den sumerischen und ägyptischen Anfängen im Gange, ja eigentlich seit dem Neolithikum - das ist nicht langsam, sondern geht rasend schnell! In dieser extrem kurzen Zeitspanne, die noch andauert, aber vielleicht insgesamt nur ein Übergang ist, taumelt „der Mensch“ hin und her. Er probiert recht wild noch herum, weil er so viel immerhin bemerkt, dass er weit mehr ist – auch im Bösen, aber doch nicht nur darin -, als er sich vorgekommen war. Er ist so sehr von sich selbst überrascht, dass er nicht annähernd schon weiß, wer er ist. Wohin sich wenden, um es zu entdecken? Die Frage ist tatsächlich noch offen.

Was mir an all dem zu denken gegeben hat, ist dies: Der Mensch, so als Ganzes genommen, könnte geradezu als das nihilistische Wesen missverstanden werden. Denn niemand kann angeben, welchem Ziel er eigentlich zustrebt. Gerade dass übergreifende Ziele verdämmern, definiert bei Nietzsche den Nihilismusbegriff. Das Missverständnis auszuräumen, ist zwar nicht schwer: Wann glaubte der Mensch nicht, am Ziel entweder sowieso zu sein (in welchem Fall er es nicht als Ziel, sondern als immerwährenden Kreislauf dachte) oder eins zu haben, wenn es auch wechselte? Er glaubte es immer, nur gab es Ausnahmezeiten und da erst macht der Begriff Nihilismus Sinn: wenn er ein Ziel hatte, es aber nicht mehr aufrechterhalten konnte, ein neues suchte und nicht schon gleich fand. So macht der Mensch zwar nihilistische Phasen durch – und gleiten wir derzeit in eine hinein -, per se und als Mensch aber ist er so lange, wie er Mal für Mal aus einer solchen Phase auch wieder herausfindet, das Gegenteil eines nihilistischen Wesens.

Nachdem uns diese Klärung aber gelungen ist, ist unser Blickfeld erweitert.

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Vom derzeitigen Nihilismus und der Frage, wie man ihn überwinden kann, war im Kapitel über die Revolution viel die Rede. Dem Nihilismus ein Ziel entgegenzuhalten, ist das Anliegen meiner ganzen Blogserie gewesen. Es war aber ein rein ökonomisches Ziel: Proportionswahlen und eine ihnen angepasste, nicht mehr kapitalistische Marktwirtschaft. Jetzt, nach der Erweiterung des Blickfelds, geht es um viel mehr: Was ist das Ziel „des“ Menschen? Und wie sieht er sich selbst? So fragen wir jetzt. Es ist wieder so weit, dass eine neue Vorstellung davon gebraucht wird. Man erwarte nicht, dass ich sie vorlege, was ich aber versuchen kann, ist eine Richtung vorauszuahnen. Es ist nicht unwichtig, weil wenn die Revolution einmal Fahrt aufnehmen und erkennen lassen wird, was das neue Menschenbild ist, wird das den Sog der Anderen Gesellschaft wesentlich verstärken. Methodisch gehe ich davon aus, dass die Vorstellung, die wir jetzt noch vom Menschen haben, aus allem zusammengesetzt ist, was je in nihilistischen Phasen über ihn gedacht wurde. Denn das waren die Zeiten, in denen er versuchen musste, sich seiner selbst zu vergewissern.

Unsere europäische Kultur ist sowohl von der jüdischen wie von der griechischen Wurzel her von Anfang an durch solche historisch bestimmten Selbstvergewisserungen geprägt. Dabei wissen wir eigentlich nicht, welche reale Situation der Exodus-Geschichte zugrunde liegt, die im zweiten Buch Mose erzählt wird. Alles aber, was in so einer Situation geschieht, kommt exemplarisch und paradigmatisch vor: der Verlust des eigenen Gottes, an den sich die in Ägypten gefangenen Israeliten buchstäblich nicht mehr erinnern; der Druck, sich einer unerträglich werdenden Lage entziehen zu müssen; die aktuelle Zuspitzung dieses Drucks (alle Knaben sollen getötet werden); der Ausweg, der erst einmal darin besteht, dass man es sich bewusst macht, in einer Wüstenwanderung begriffen zu sein; und die neu gefundene Zielsetzung, neue Gesetze vom Berg Sinai herab. Hinter der Erzählung wird mindestens stehen, dass ein Volk für eine (wohl nicht in Ägypten, sondern in Kanaan) erlittene Katastrophe seine Religion verantwortlich macht und sie daher ändert: An die Stelle des Opfers des erstgeborenen Knaben tritt das Opfer des Erstlings eines Tiers. Dies geschieht im mosaischen Gesetz und ist bekanntlich schon im ersten Buch Mose als Geschichte von Abraham und Isaak präsent. In Form der zehn Gebote wird aber auch ein „Menschenbild“ geschaffen. Noch was wir heute unter dem Menschen verstehen, enthält es als wirksame, ja grundlegende archäologische Schicht. Auf historische Vorformen der zehn Gebote gehe ich hier nicht ein.

In Griechenland treten Sokrates und Platon nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg auf. Mit seinem Modell, wie ein Staat künftig funktionieren solle, war Platon weniger erfolgreich, umso mehr aber mit seinem Angriff auf die polytheistische Religion, wie sie in den Texten der griechischen Dichter artikuliert war, und deren Ersetzung durch eine neue monohierarchische Vernunftliebe. Die beherrschte von da an das Denken der Eliten, auch der römischen dann, obwohl man die Gebräuche des Polytheismus beibehielt. Was in der griechischen Krise als menschliches Ziel entstand, war das noch unbekannte aber erforschbare Bessere, wozu ein suchendes Wesen gehörte, das sich im Zweifel auf nichts stützt als seine vernünftige Methode, die bei Platon im geordneten Fragen und Antworten besteht.

Als das Judentum zur Zeit Jesu seine Niederlage erlebt, fasst dieser die zehn Gebote zu zweien zusammen: den einen Gott ehren und den Nächsten lieben wie sich selbst. Doch er geht weiter und verlangt auch Feindesliebe – der Mensch wird nicht mehr als Krieger aufgefasst. Jesu Menschenbild, das er in der Bergpredigt entfaltet, und die Nachwirkung bis heute sind hinreichend bekannt. Dass es sich durchgesetzt hätte, kann man nicht sagen. Indessen vertrug sich sein Monotheismus mit der platonischen Monovernunft.

Ich erwähnte schon den Satz Augustins, er sei sich zur Frage geworden. Auch er lebte in einer nihilistischen Situation. Als er im Sterben lag, standen schon die Vandalen vor den Toren der Stadt und brachten den Sterbenden zur Verzweiflung. Die Verwüstung Roms durch einfallende Goten hatte er noch aus der Ferne erlebt und auf den Vorwurf, das Christentum sei an der Katastrophe schuld, mit seinem Werk über die Kirche als den Gottesstaat reagiert. Jener Satz aber steht in den „Bekenntnissen“, Confessiones, wo er den Menschen als Individuum fasst, das sich selbst erforscht und auf die eigene Besserung hofft. Von Martin Luther, der seinen geistlichen Weg als Augustinermönch begann, ist das erneuert worden. Auch er starb in einer Situation, die zum Verzweifeln war: mitten im Schmalkaldischen Krieg, von dem er nicht wissen konnte, ob er nicht zur Auslöschung des Protestantismus führen würde. Vorher während der ganzen Zeit seines reformatorischen Wirkens hatte er geglaubt, das Ende der Welt zu erleben.

Auch zum neuen Menschenbild der Renaissance muss ich nicht viel sagen. Der Mensch wurde wieder kraftvoll und selbstbewusst gedacht. Von seiner „Würde“ schrieb in Florenz der Philosoph Pico della Mirandola. Die Künstler, die es darstellten, griffen auf antike Vorbilder zurück. Dennoch geschah Neues, wie allein die von Leonardo da Vinci gezeichneten Technik-Phantasien zeigen. Was nicht so bekannt ist, ist der nihilistische Charakter auch dieser Epoche. Italien war in Poleis zerfallen, die ständig übereinander herfielen, dem Peloponnesischen Krieg durchaus vergleichbar. Nicht zufällig schrieb Machiavelli in dieser Zeit. Leonardo war vom Projekt eines Gemäldes fasziniert, das den Augenblick des Umschlags in der noch tobenden Schlacht, von dem man im Nachhinein sagen wird, da sei sie entschieden worden, festhalten sollte.

Ich glaube, am Menschenbild hat sich seitdem nichts Grundlegendes mehr verändert. Auf Europa bezogen treten wir erst heute wieder in eine Katastrophenzeit ein. Deutschland zwar hatte am Dreißigjährigen Krieg und seinen furchtbaren Folgen lange zu tragen. Doch holte es dann nur nach, was anderswo schon im Gange war. Auf eine kleinere Katastrophe reagierte die Französische Revolution (Kleine Eiszeit, Engpass der Staatsfinanzen), doch brauchte auch sie nicht nach neuen Zielen zu suchen, sondern konnte welche umsetzen, die schon entwickelt worden waren. Ob man das Menschenbild der Renaissance nimmt oder ihren Zielhorizont, sie wurden nur immer weiter radikalisiert. So wird, wer Fichte liest, bereits den technischen Utopismus der Kommunisten finden. Die Sahara mit Atomkraft bewässern: Das wurde zwar erst im 20. Jahrhundert von John Desmond Bernal erdacht, doch der „Geist“ solcher Projekte ist bei Fichte schon voll vorhanden.

Dem Menschen ist nun alles möglich, und wie sinnvoll wäre es in der Tat, die Wüste fruchtbar zu machen! Welch bezeichnende Phantasie auch, wenn wir an den Wüstenzug der Israeliten zurückdenken! Heute streben wir aber nur noch das Ziel an, die besonders heiße Wüstensonne aufzufangen, denn seit kurzem, den 1970er Jahren, ist uns die ökologische Katastrophe bewusst geworden und erleben wir tagtäglich, dass es unmöglich ist, ihr zu entkommen, wenn die Gesellschaftsverfassung bleibt wie sie ist. Wüsten werden nicht fruchtbar gemacht, sondern breiten sich aus, unter anderm weil die Menschen das „Ziel“ haben, sich mit Rindfleisch buchstäblich krank zu fressen. Denn dass auf drei Menschen ein Rind kommt, ruiniert die Böden. Noch in den 1960er Jahren hatte man „Zukunftsforschung“ in der Art Fichtes betrieben, und vom technischen Optimismus war nicht nur der Kommunist erfüllt, sondern auch der Westler, der es sich in James Bond-Filmen mit Sean Connery spiegeln ließ. Damit ist es nun vorbei, auch wenn es die in jenem Jahrzehnt, dem der Mondlandung, eingerichtete NASA immer noch gibt und sie fortfährt, von der Kolonisation des Weltraums zu träumen – und vom dazu passenden Menschen, der sich nach und nach beseitigen müsste, weil sein Körper, anders als die Maschine, zum Surfen im All wenig geeignet ist.

Morgen im zweiten Teil mache ich mir Gedanken über das neue Menschenbild, das in der Revolution der Anderen Gesellschaft dominant werden wird.

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Das Tagebuch zum Blog, mit letzter Eintragung vom 7.2.2016, finden Sie hier

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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