Berio und Eco

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Heute sehr in Zeitnot, will ich meinen gestern begonnenen Hinweisen auf Berios Sinfonia, die am Abend im Eröffnungskonzert des Berliner Musikfests zu hören sein wird, nur ein paar Zitate hinzufügen. Ich hatte berichtet, dass in der Mitte der Sinfonia, dem dritten von fünf Sätzen, Musik von Gustav Mahler (2. Symphonie, 3. Satz) zur Fischpredigt des Antonius von Padua "übernommen" und mit vielen musikalischen Einzelzitaten von Beethoven bis Boulez, aber auch mit gesprochenen Sätzen von Claude Lévi-Strauss und Samuel Beckett noch überlagert wird. Es ist eine Predigt, die gehalten werden muss, weil sie wahr ist, und die doch auf kein Verständnis stößt. Berio sieht darin ein Sinnbild der politischen Vergeblichkeit des Komponierens, vielleicht aber auch der politischen Aktion selber, die zur Entstehungszeit der Komposition von den 68ern in Szene gesetzt wird. Die Sinfonia beklagt in ihrem zweiten Satz den gerade geschehenen Mord an Martin Luther King.

Ich habe angedeutet, dass es zu einer Wucherung von Zitaten und zitatähnlichen Bezügen kommt, die gleichsam auf den Versuch hinausläuft, "1968" aus dem Off der ganzen Menschheitsgeschichte zu kommentieren. Dies wird besonders durch den Rekurs auf Lévi-Strauss unterstrichen, von dem Berio indianische Wassermythen zitiert, so dass tatsächlich die älteste heute noch bekannte menschheitliche Sinnschicht in der Sinfonia präsent ist. Vom Wasser der Mythen schlägt er dann den Bogen etwa zu La Mer von Debussy und schafft so einen gewaltigen, eben gesamthistorischen Resonanzraum für das Flüsslein, vor dem jener Antonius steht und die Fische sich tummeln sieht.

Ja, so vergeblich er auch predigt, steht er doch auf einer ganz großen Bühne, und wenn er das selber wüsste, bräuchte er schon deshalb nicht verzweifelt zu sein. Er ist es freilich sowieso nicht, so wenig es die 68er waren, sondern hält ganz frohgemut seine Predigt und auch die Fische springen lustig herum; das ist ja das Anrührende an Mahlers von Berio übernommener Musik, dass sie gerade von dieser beidseitigen Naivität mit abgründigem Humor erzählt.

Hierzu will ich nun noch ergänzen, dass die Sinfonia auch einen großen Bogen zum Roman Finnegans Wake von Joyce und zur Theorie des offenen Kunstwerks von Umberto Eco spannt, und es der Eile halber aus dem Aufsatz von Markus Bandur, den ich gestern schon erwähnte, einfach zitieren (der Aufsatz trägt es im Titel: "I prefer a wake". Berios Sinfonia, Joyces Finnegans Wake und Ecos Poetik des 'offenen Kunstwerks', in Musik-Konzepte 128, S. 95-109). Zunächst kann Bandur eine Fülle einzelner Parallelen zwischen der Sinfonia und Finnegans Wake aufweisen; dann stellt er fest, nicht zuletzt lasse das

"Verfahren Berios, die gewählten Zitate durch gleiche Tonhöhen [...] oder andere Gemeinsamkeiten mit der Scherzomotivik von Mahlers drittem Satz zu verknüpfen, das Bestreben erkennen, durch musikalische Mittel die in Finnegans Wake einzigartige und virtuose - häufig an der Grenze zum Kalauer angesiedelte - Wortbildungstechnik der Übereinanderlagerung und Verschränkung von Wörtern mit lautlichen oder 'buchstäblichen' Gemeinsamkeiten in einer Zeichenkonfiguration annäherungsweise zu parallelisieren." (S. 105)

Entscheidend für diese Konvergenz sei aber

"weniger Berios Rezeption von Joyces schriftstellerischem Oevre allgemein und Finnegans Wake im Besonderen als vielmehr Ecos Bewertung des Finnegans Wake als Inbegriff eines 'offenen Kunstwerks'.
Kam Berio mit Joyce wohl schon während seines Unterrichts 1952 bei Luigi Dallapicola in Berührung, [...] so resultierte doch die intensive [...] Beschäftigung mit Joyces Hauptwerken aus der Zeit der Zusammenarbeit mit Eco im italienischen Rundfunk RAI in den Jahren 1957-58 [...].
Zwar weist Eco darauf hin, 'dass die Untersuchungen über das offene Kunstwerk ausgelöst wurden durch das Verfolgen der muskalischen Erfahrungen Luciano Berios und die Erörterung der Probleme der neuen Musik mit ihm, Henri Pousseur und André Boucourechliev.' Doch ist anzunehmen, dass umgekehrt erst Ecos Bewertung des Finnegans Wake, die auf der Grundlage seiner Beschäftigung mit mittelalterlichen Strategien der Textauslegung (etwa des vielfachen Schriftsinns [muss wohl heißen vierfachen, M.J.]), der Logik, Semiotik und Informatik erfolgte, Berios späteren Versuch einer vergleichbaren Konzeption der Sinfonia als opera aperta (mit den an Finnegans Wake gleichsam nur modellhaft anknüpfenden Besonderheiten) motivierte." (S. 106 f.)

Was ist nun ein "offenes Kunstwerk"?

"Ecos Poetik [...] zielt auf das 'Kunstwerk (...) als eine(r) grundsätzlich mehrdeutige(n) Botschaft' und darüber hinaus auf die 'modernen Poetiken', die diese Mehrdeutigkeit als 'ausdrückliches Ziel des Werkes' formulieren. Mit Blick auf Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI, Berios Sequenza I, Henri Pousseirs Scambi und Pierre Boulez' Klaviersonate Nr. 3 heißt es, dass 'eine Form ästhetisch gültig (ist) gerade insofern, als sie unter vielfachen Perspektiven gesehen und aufgefasst werden kann und dabei eine Vielfalt von Aspekten und Resonanzen manifestiert, ohne jemals aufzuhören, sie selbst zu sein'. In Finnegans Wake - dem nicht nur zeitlich äußersten Endpunkt in Ecos historischem Überblick - führt diese ästhetische Ausrichtung dazu, dass '(j)edes Ereignis, jedes Wort (...) in einer möglichen Beziehung zu allen anderen' steht: 'Das heißt nicht, dass das Werk keinen Sinn habe: wenn Joyce Schlüssel in es einführt, so darum, weil er möchte, dass dieses Werk in einem bestimmten Sinn gelesen werde. Doch besitzt dieser >Sinn< den Reichtum des Kosmos, und der Verfasser hat den Ehrgeiz, ihn die Totalität von Raum und Zeit einschließen zu lassen - der möglichen Räume und Zeiten.'" (S. 107 f.)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden