Bilder und Klänge

Musikfest 2020 Von Dionysos heißt es, er bringe seine rasenden Dienerinnen zu beglückender Befreiung – Wolfgang Rihm scheint es ihm gleichtun zu wollen
Die Berliner Philharmonie ist ein Spielort des Musikfestes 2020
Die Berliner Philharmonie ist ein Spielort des Musikfestes 2020

Foto: Sean Gallup/AFP/Getty Images

George Benjamin, der am Donnerstag das Ensemble Modern dirigierte, ist ein britischer Komponist, der sein Handwerk unter anderm bei Olivier Messiaen erlernte; es heißt, er habe sich als einer von Messiaens Lieblingsschülern ausgezeichnet. Er führte zuerst ein eigenes Werk auf, At First Light für Kammerorchester (1982). Ein spätes Gemälde William Turners (1775-1851) war, wie er sagt, seine Inspirationsquelle. Es sei ihm darum gegangen, „fest umrissene Objekte – musikalische Phrasen etwa – zu schmelzen“ und in einen Klangfluss zu transformieren.

Welches Gemälde könnte er im Auge gehabt haben? Sonnenaufgang mit einem Boot zwischen Landspitzen und Norham Castle, Sonnenaufgang, beide um 1835-1840 gemalt, haben gemeinsam, dass sie in Turners eigenen Augen unvollendet waren, er allerdings gewünscht haben soll, auch seine unvollendeten Bilder möchten nach seinem Tod in besonderen Ausstellungen gezeigt werden. Sie gelten heute als sein größtes Vermächtnis, so sagt der US-amerikanische Kunsthistoriker John Walker von Norham Castle, das sei „in unseren Augen eines der schönsten Gemälde Turners“. Unsere Augen sind welche von Menschen, die gewohnt sind, abstrakte Kunst anzuschauen. Schon Paul Signac (1863-1935), neben Georges Seurat der bedeutendste Vertreter des Pointillismus, war von ihm begeistert gewesen und hatte in Kenntnis früherer Fassungen gesagt, es sei „vereinfacht und von allem Nutzlosen befreit“ – so gesehen das Gegenteil von unvollendet; auch Walker sagt, dass „jeder weitere Pinselstrich nur noch hätte Schaden anrichten können“. (Joseph Mallord William Turner, Köln 1978, S. 112)

Dabei zeigt das Gemälde fast nichts, einen überwiegend ins Schwachgelbe tendierenden Hintergrund, von dem sich etwas links der Mitte ein schwachblauer Farbklecks abhebt. Er soll wohl den Anfang eines nach rechts verlaufenden Gebirgszugs darstellen, den man auf den ersten Blick gar nicht sieht, auch spiegelt sich wohl ein Stück von ihm in einem Gewässer. Ja, das wirkt wie abstrakte Kunst und scheint verglichen mit Malewitsch oder El Lissitzky noch zukunftsweisender, weil der blaue Klecks einerseits nicht zur mathematischen Eins vereinfacht und verfälscht ist, das Wort „Klecks“ aber andererseits nicht einmal zutrifft, denn was wir sehen, ist doch irgendwie eine Gestalt. First light hatte Turner schon früher gern gemalt, allerdings so sehr auf den Spuren Lorrains, dass man manche dieser noch vollkommen gegenständlichen Turner-Gemälde dem Franzosen zuzuschreiben geneigt ist. Jetzt aber malte er das Licht selber und etwas ließ ihn zögern, es mit Dingen zu verstellen.

Ein anderer Fall ist Licht und Farbe (Goethes Theorie) – Am Morgen nach der Sintflut – Moses schreibt das Buch Genesis, welches Gemälde er 1843 ausstellen ließ. Dieses Bild ist immerhin fast ebenso abstrakt wie das vorgenannte. Es ist übrigens umstritten, ob Turner Goethes Farbenlehre bestätigen oder widerlegen wollte. In diesem Bild dominiert ein Kreis, von außen durch Dunkelrötliches gebildet, innen hellgelblich, aber mit einem großen rötlichen Fleck in der unteren Hälfte, der wohl wiederum ein Gebirge darstellen soll, den Ararat, auf dem die Arche Noah stand. Dass auch Menschenköpfe im Wirbel angedeutet sind, und auch Moses in der oberen Hälfte, sieht man nicht sofort. Turner hat diesem Bild ein Gedicht mitgegeben, in dem es heißt, „die wiederkehrende Sonne“ habe „die feuchten Blasen der Erde“ ausgetrocknet „und spiegelte, wetteifernd mit dem Licht, ihre verlorenen Formen wider“; vielleicht weil er ein notorischer Pessimist war, geht es weiter: „... Vorbote der Hoffnung, kurzlebig wie die Sommerfliege, die aufsteigt, flattert, sich dehnt und stirbt.“ Vielleicht aber auch, weil er gerade einmal nicht Pessimist war. Denn was will man mehr als aufsteigen, flattern und sich dehnen? (Joseph Mallord..., a.a.O., S. 130)

Über Gemälde, auch moderne, spricht man leichter als über den Höreindruck, den moderne Musik hinterlässt. Aber manche Formulierungen sind übertragbar, sind es ja offenbar auch für Benjamin gewesen. „Verlorene Formen“, darum ging es auch ihm, nur dass er so spricht, und auch so komponiert hat, dass der Verlust gerade wünschenswert sei: Die „festumrissenen Objekte“, er wollte sie „schmelzen“. Damit es zu einem freien musikalischen Fließen kommt. Die Gewässer der „Sintflut“ sind erwünscht; sie müssen es nicht im Gegensatz zum Licht sein, man denke nur an Wagner, für den sich Sonne und tiefes Wasser zum „Rheingold“ vereinen. Der Höreindruck bei Benjamin ist, dass er das fest Umrissene zunächst mit annähernd gleichen Blechbläsersignalen sozusagen postuliert, dann im Mittelteil eine leise sehr schöne Akkordverschiebung zu hören gibt, ein relativ glattes Plateau, feierlich beginnend, das zum Ruhen einlädt; danach folgen wieder lautere Klänge, komplexe, an sich sehr interessante Akkorde, von denen man sich aber jetzt, mir jedenfalls ging es so, und vielleicht war es beabsichtigt, zu früh aufgeweckt fand. Wie lange schon habe ich an Turner nicht mehr gedacht. Aber waren es nicht gerade die Jahre um 1982, dass meine Lebensgefährtin sich brennend für ihn zu interessieren begann? Das waren Jahre, in denen wir fürchteten, der Atomkrieg stehe unmittelbar bevor.

Benjamins Konzept, lese ich in der Programmankündigung, „kommt Wolfgang Rihms Ideal einer ‚musique fleuve‘ sehr nahe“. Das andere Werk, das er an diesem Abend dirigierte, waren Rihms Jagden und Formen für Orchester (1995 – 2001, Zustand 2008), wo schon der Titel andeutet, dass von „Fließen“ nur euphemistisch die Rede sein könnte, jedenfalls wenn man sich ein ruhiges Fließen vorstellt. Diese einstündige Komposition war, oder ist vielleicht immer noch, ein work in progress, das in beiden bisher veröffentlichten Fassungen, der von 2001 wie der von 2008, vom Ensemble modern uraufgeführt worden ist, das übrigens auch mit Benjamin immer eng verbunden war. Rihm kommentiert seine Komposition so: „Ich öffne immer wieder Schleusen und grabe immer wieder Täler, damit das alles zusammenfließen kann, ich bin sozusagen der Landschaftsgärtner dieser Werklandschaft. Das Komponieren ist ein organischer Prozess für mich. Dahinter steht die Idee, dass etwas immer weitergetrieben wird und dadurch Neues generiert.“ In diesem Sinn also ist es musique fleuve, verschiedene Aspekte seiner „Werklandschaft“ sollen „zusammenfließen“. Es wirkt aber in diesem Prozess eine treibende Kraft, die über das ganze Werk hin gleichbleibend erscheint und tatsächlich eine zusammenhängende Folge von „Jagden“, besser eine einzige „jagende“, nie pausierende, sich selbst vorantreibende Bewegung mit Unterabschnitten ist. Ja, obwohl Rihm den ganzen Reichtum aktueller Musiksprache aufbietet, kommt eine Art Jazzstimmung auf, so dass man den Takt mit dem eigenen Körper unterstreichen, mit dem Fuß mitstampfen möchte. Ich konnte mich gegen Ende immer weniger enthalten, es andeutend zu tun, und habe auch gesehen, dass mindestens ein ausführender Instrumentalist ebenso mitswingte.

Dass Rihm beim langwierigen Komponieren – „in mehreren Schüben und Schichten von bestimmten Kernen aus“, so die Programmankündigung, „schrieb, umschrieb und überschrieb“ er die Jagden und Formen – auch außermusikalisch-gedanklich arbeitete, ersieht man vielleicht aus den Titeln einiger paralleler Kompositionen, Form / zwei Formen (zweite Fassung 1993/94), Gejagte Form für Orchester (zweite Fassung 1995-2002), Verborgene Formen für Ensemble (1995-97), Gedrängte Form für Ensemble (1995-98). Der musikalische Fluss und die geronnene Form sind für Rihm wie für Benjamin ein Gegensatz, den er auflösen will. Die Formen selber löst er aber nicht auf, sondern „jagt“ sie, verbirgt oder drängt sie zusammen – so wäre nach den Titeln zu vermuten. Was die Jagden und Formen angeht, wird man, da Nietzsche und Artaud für ihren Schöpfer Bezugspunkte sind und er früh ein so ekstatisches Werk wie Tutuguri (1981/82) komponierte, an den „rasenden Dionysos“ und sein weibliches Gefolge, die Mänaden, denken. Er hat auch eine Oper Dionysos (2010), die von Nietzsche handelt, geschrieben. Über das mänadische Jagen lesen wir bei Erika Simon, der großen Klassischen Archäologin: „In der Bildkunst lässt sich oft nur aus dem Zusammenhang erschließen, welches Rasen gemeint ist [...]. Feinde und Diener des Dionysos werden durch ihn zu Rasenden – er ist allbeherrschend. Besser aber ist es ihm zu folgen, als sich ihm zu widersetzen. Denn während er die Gegner unheilvoll wüten lässt – Lykurg, Agaue töten im Wahn die eigenen Kinder –, bringt er seinen Eingeweihten im Rasen beglückende Befreiung.“ (Die Götter der Griechen, 4. Aufl. München 1998, S. 251) In Rihms Komposition ist alles auf beglückende Befreiung gestellt.

Es lösen aber tatsächlich „Formen“ einander ab, mit Recht spricht Barbara Zuber von einer „Reise durch Werklandschaften“. Die Reise beginnt mit fröhlichem Treiben von Violinisten, in das der Kontrabass eingreift, und gleich schon enthüllt sich der Charakter des Ganzen, eine Tanzsinfonietta zu sein. Später wechseln begleitete Soli der verschiedenen Instrumente, auch ein unbegleitetes des Pianos, Duette, Terzette, Quartette und Tutti-Passagen einander ab, wobei es sich bei diesen mal um homophone Akkordfolgen handelt, mal aber auch um atemberaubend aufgespreizte Polyphonie. Und alles in diesem ekstatischen Drive – natürlich verlangt die Großform auch Ruhepunkte –, der oft durch ein von Teilen des Ensembles ausgeführtes Zeitmaß-Schlagen noch unterstrichen wird. Kurzum, es macht Spaß, sich das anzuhören, und wenn Sie Lautsprecher haben, die solche Musik hergeben, können Sie es im Internet bei Musikfest on Demand noch bis Montag 16 Uhr nachhören.

Auch das Konzert, das ich am Sonntag Abend besuchen werde, hat teils fröhlichen Charakter, so steht Beethovens Achte auf dem Programm, hier wird aber auch eine Uraufführung geboten, Concerto Noir Redux von Christian Jost, das, wie die Ankündigung mitteilt, „beeinflusst“ ist „durch die Heftigkeit, mit der die Covid-19-Krise alle überrascht und getroffen hat“.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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