Bitte löffelt die Suppe aus

Europawahlparteitag der Grünen Wer keine Identität mehr hat, funktioniert blind

Die Grünen sind ein trauriges Kapitel. Jeder weiß, dass sie in der Bundespolitik nichts durchsetzen, was der Kanzler nicht ohnehin will. Er ist der Koch. Sie sind die Kellner. Aber während die Umfragewerte der SPD ins Bodenlose sinken, bleibt ihr Wähleranteil stabil. Das ist logisch, denn die Wähler denken: Die Suppe hat uns der Koch eingebrockt. Die Kellner sind unschuldig. Was sollen sie denn machen? Sie könnten kündigen, aber dann würden nur andere Kellner ebenso schlimme Suppen bringen.

Was die Kellner, die wir haben, bei der Stange hält, wird uns ihr Treffen am Wochenende wieder zeigen. Dem Parteitag aus Anlass der Europawahl liegt ein Antrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit, Soziales und Gesundheit vor, dem sich der Bundesfrauenrat und der Bundesverband Grüne Jugend angeschlossen haben; die Antragsteller monieren, dass nach der Agenda 2010 die Arbeitslosenhilfe für Familien mit Kindern ab sieben Jahren niedriger ausfällt als die jetzige Sozialhilfe. Das ist happig, da würden manche Kellner das Handtuch werfen. Nicht so die Grünen, denn sie erkennen das Richtige im Falschen. Die "Vereinheitlichung" von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wird "begrüßt", weil man die Anwendung des grünen "Konzepts der bedarfsorientierten Grundsicherung" darin sieht, "einer Basissicherung, die existenzsichernd ist". Leider, denken sie, ist es eine denkbar ungeschickte Anwendung. Es darf doch nicht herauskommen, dass Arbeitslosenhilfe-Empfänger unter das heutige Sozialhilfeniveau sinken. Das kann doch nicht mehr existenzsichernd genannt werden. Aber dies beiseite gelassen, scheint es ein Schritt in die richtige Richtung zu sein.

Warum erkennen sie nicht, dass Schröders Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe kein Anwendungsfall, sondern das Gegenteil existenzsichernder Grundsicherung ist? Warum sind sie unfähig zur politischen Gestaltwahrnehmung? Ist es wie in der Biologie, wo Gestaltwahrnehmung eine Funktion des Überlebens, das heißt des Interesses ist und dieses sich nach der Identität richtet? Wenn die Grünen keine Identität mehr hätten oder eine andere, als sie glauben, dann würden sie ja blind funktionieren.

Was sie für ihre Identität halten, macht ihr Entwurf des "Europawahlprogramms" deutlich. Er weist die gewohnten Qualitäten auf: wunderbar präzise Vorschläge zur ökologischen "Modernisierung", die man in keinem anderen Parteiprogramm findet; keine Befragung der Machtverhältnisse und der strategischen Situation, daher kein Gedanke, es könnte nötig sein, die nächsten Schritte jener "Modernisierung" realistisch zu beschreiben; ansonsten der Versuch, das Zauberwort "Nachhaltigkeit" zur Klammer des gesamten politischen Problemhaushalts zu machen. "Nachhaltigkeit" ist der Wert, in dem sie ihre Identität verbürgt sehen. Solange sie glauben können, der Kanzler verletze die "Nachhaltigkeit" nicht, brauchen sie ihm nicht davonzulaufen.

Es fällt auf, dass sie das Zauberwort längst nicht mehr erklären, geschweige denn definieren. Uns bleibt nichts übrig, als die Definition aus dem Kontext zu erschließen. Was ist unter der "ökologisch nachhaltigen Chemieindustrie" zu verstehen, die das Europaprogramm fordert? Antwort: "ein hohes Schutzniveau für menschliche Gesundheit und die Umwelt einerseits und die Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie andererseits". Denn nur wenn beides gewährleistet sei, habe die Chemieindustrie "in Europa auch ökonomisch eine Zukunft". Es geht also auch um Wettbewerbsfähigkeit. Und nun meinen ja manche: Um Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen oder zu steigern, müsse vielleicht der Kündigungsschutz gelockert und der Flächentarif aufgeweicht, auf jeden Fall aber eben die Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau abgesenkt werden.

Wenn wir von der ursprünglichen Definition "nachhaltiger Entwicklung" ausgehen, wie sie 1987 die Brundtland-Kommission formulierte, ist das ein erstaunlicher Bogen. Damals war eine Entwicklung gemeint, "die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen". Die Bedürfnisse der "Generationen" waren das Thema der Brundtland-Kommission. Von den ökologischen Bedürfnissen einer Generation wird man zwar nicht sinnvoll reden können, wenn man ihre ökonomischen Bedürfnisse nicht immer mit berücksichtigt. Aber hier werden die ökonomischen Bedürfnisse selber noch einmal auf die Bedürfnisse chemischer Unternehmen reduziert, als ob die Generation nicht auch aus Arbeitern und Erwerbslosen bestünde. Das macht diesen Nachhaltigkeitsbegriff endgültig, das heißt auch in ökonomischer Hinsicht kaputt.

Der definitionslose Gebrauch des Zauberworts "Nachhaltigkeit" ist vielleicht gar kein Zufall. Dass mit ihm keine Identität mehr verbürgt ist, muss verdeckt bleiben. Es würde den wahlpolitischen Absichten eher schaden, wenn das Europaprogramm verbreiten wollte, was eine Glanzbroschüre der Bundesregierung vom Juni 2002 den "strategischen Lösungsansatz der Nachhaltigen Entwicklung" nennt: "Er integriert die bisher getrennt betrachteten Handlungsfelder, um konkurrierende Ziele insgesamt optimaler erreichen zu können." Das Getrennte verbinden: Das ist Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist eigentlich Verbundenheit. Deshalb braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Broschüre als "Indikatoren" von Nachhaltigkeit zum Beispiel den Finanzierungssaldo des Staatssektors, das Bruttoinlandsprodukt und die Zahl der Wohnungseinbruchsdiebstähle aufzählt. Natürlich fällt auch die "Reform der Altersvorsorge" darunter, und spätestens hier begreift der letzte Grüne, dass "Nachhaltigkeit als roter Faden der Reformpolitik" eigentlich genau das ist, was alle Politik des Kanzlers im Innersten zusammenhält.

So brauchen die Kellner nicht nur nicht davonzulaufen. Sie können sich sogar in die Brust werfen: Ja, wir sind im richtigen Restaurant! Denn das Prinzip ist richtig, nur an der richtigen Ausführung arbeiten wir noch. Aber das geht nur, wenn ihr uns unterstützt. Bitte löffelt die Suppe aus. Wählt uns.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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