Das Zwischenhoch der SPD ist vorüber. Kurz war der Moment, in dem man glaubte, der Kanzler sei unangreifbar; sogar an Hartz IV schienen sich nach sechs Wochen alle gewöhnt zu haben. Doch nun kommt es knüppeldick. Die Rekordzahl von 5,2 Millionen Arbeitslosen trifft mit dem Beliebtheits-Absturz des rot-grünen Maskottchens Joschka Fischer zusammen. Den Stimmenverlust in Schleswig-Holstein hatte die SPD nicht erwartet. Wenn bald in Nordrhein-Westfalen gewählt wird, warum sollte es nicht auch dort Stimmeinbußen geben? Am wenigsten beachtet und doch am wichtigsten ist ein weiteres Chaoselement: der Streit zwischen Wolfgang Clement und Hans Eichel um die Senkung der Unternehmenssteuern. Denn hier wird die Hilflosigkeit der politischen Klasse am deutlichsten.
Man begreift das Fatale all dieser Hiobsbotschaften am besten, werden sie aus der Perspektive der Wähler betrachtet. Der Streit der Bundesminister, um mit ihm anzufangen, interessiert die Wähler deshalb so wenig, weil er ein Problem betrifft, vor dem sie die Augen schließen: die Verlagerung von Arbeitsplätzen aus Deutschland nach Osteuropa. Deutschland ist zwar noch Exportweltmeister, aber da immer mehr Bestandteile von Exportwaren im Ausland hergestellt werden, wird dieser Status den Inländern immer weniger nützen. Die Unternehmer agieren als EU-Bürger; wer will es ihnen verdenken? Das Kapital strömt zu den profitabelsten Anlageplätzen im EU-Raum, also dorthin, wo die Arbeit am billigsten, die Steuern am niedrigsten sind. Deshalb der hilflose Streit zwischen Clement, der die Unternehmenssteuern senken will - als ob es möglich und sinnvoll wäre, Deutschland dem Standortniveau Litauens anzugleichen -, und Eichel, dessen Projekt einer europäischen Steuer-Harmonisierung bei relativ hohen Steuersätzen längst gescheitert ist. Es musste wohl scheitern, weil die EU den neuen Kalten Krieg, der diesmal zwischen Euro und Dollar ausgefochten wird, nur durch Deregulierung gewinnen zu können glaubt. Wie Rom Karthago einst dadurch besiegte, dass es selbst Karthago wurde, so meint die EU sich in ein Abbild der USA verwandeln zu müssen.
Die Bürger sind an diesem Prozess schon deshalb unbeteiligt, weil es noch immer keine Parteien gibt, die vordringlich auf EU-Ebene und erst in zweiter Linie national agieren. Dass die deutsche Innenpolitik zum Provinztheater wird, fällt den Beteiligten nicht einmal auf. Was aus Schröder wird, ob Fischer sich hält und Merkel vorankommt, diese Fragen sind ja nicht unwichtig. Aber sie werden ohne Bezug zur Substanz der Probleme wahrgenommen. Wenn es anders wäre, müssten die Wähler jetzt beide Parteiblöcke abstrafen, Schwarz-Gelb nicht anders als Rot-Grün. Die ostdeutschen Wähler taten das im vorigen Jahr, doch die westdeutschen folgen dem Beispiel nicht. Das zeigte die Wahl in Schleswig-Holstein. Im Westen ist der Glaube, die Union kenne den Weg, nicht schwächer geworden. Es sollte zwar ins Auge springen, wie wirklichkeitsfremd die Litanei der Schwarz-Gelben ist: Die Arbeitnehmer müssten sich ihrer Rechte begeben und zur Lohnsenkung bereit sein, dann blieben die Unternehmer im Lande. Als ob die Union mehr Chancen hätte als die SPD, einen Sieg in der Billigkonkurrenz gegen Litauen zu erringen.
Doch in die Augen von Wählern, die blind bleiben wollen, springen andere Dinge. Sie ahnen offenbar, welches Bild sich offenen Augen darbieten würde. Der Absturz Joschka Fischers ist eine bezeichnende Überraschung. Kann man es dem Außenminister verdenken, dass er die " Visa-Affäre" jahrelang nicht ernst nahm? Hätte sie sich nicht längst totgelaufen haben müssen, vergleichbar dem Untersuchungsausschuss zu Gerhard Schröders Wahllügen, den die Union nach der verlorenen Bundestagswahl einsetzte? Doch wenn eine berechtigte Angst sich nicht anders artikulieren kann, ist sie mit dem dümmsten Ventil zufrieden. Fischer büßt für die Konzeptionslosigkeit dieser Regierung, die von den Wählern zwar nicht in EU-weiten Fragen, dafür aber anhand von Hartz IV sehr gut begriffen wird.
Es ist ganz konsequent, den beliebtesten Mann der Regierung abstürzen zu lassen. Dass es egal ist, aus welchem Anlass sein Stern sinkt, haben all diese genialen Strategen, Fischer, Schröder, Müntefering, nicht vorausgesehen. Doch ganz egal ist der Anlass gar nicht, denn er bietet dem unbewussten Denken eine Möglichkeit, Osteuropa als Gefahr zu beschwören. Es ist wie beim Blinde-Kuh-Spielen: Da die meisten "Visa-Missbräuche" in Kiew geschahen, ruft etwas den Wählern "Heiß, heiß!" zu - eine osteuropäische Gefahr, die gleichwohl nicht von den Billiglohn- und Steuerdumping-Paradiesen EU-Osteuropas ausgeht. Da können sie das Problem haarscharf verschieben, in der Verschiebung entnennen und doch auch ihre Angst kommunizieren. Als ob es die "eingeschleusten Ukrainer" sind, die ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.
Zusammengenommen bedeuten all diese Hiobsbotschaften, dass ein Durchbruch zur Vernunft in nächster Zeit nicht zu erwarten ist. Denn wie es scheint, besteht die Mehrheit der Deutschen darauf, erst noch die Erfahrung des schwarz-gelben nach dem rot-grünen Scheitern zu machen. Die Frage bleibt, ob es sinnvoll ist, sie daran zu hindern. Unter den realistischen Möglichkeiten scheint die noch am wünschbarsten, dass neben der Union auch die Wahlalternative siegt. Dann wäre es der Konstellation von 1982 analog, als der zunächst so hoffnungsvolle Weg der Grünen begann. Ein Sieg der Union ist jetzt wahrscheinlicher geworden, weil der niedersächsische Ministerpräsident Wulff an die Spitze der Popularitätsskala gerückt ist. Angela Merkel hat ihrer Partei ein sinnvolles Opfer dargebracht: Ihre radikale Version von Neoliberalismus schadete zwar der eigenen Popularität, nährte aber den Irrglauben, die Union habe eine Linie der Problemlösung. Blind wie sie noch sind, können die Wähler mit der Verwirklichung der imaginären Linie einen anderen betrauen. Es wäre logisch, wenn Christian Wulff Kanzlerkandidat würde.
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