Bloß nicht die Geister rufen, die schon Hartz IV brachten

Parteitag der Grünen Die Debatte "Grundsicherung oder Grundeinkommen" war ein Weg, von Gerhard Schröders Agenda abzurücken

Vielen Medien ist es egal, was eine Partei will: Interessanter finden sie den Kampf um Führungsposten oder deren Verteidigung. Nun, das spielte in Nürnberg eine wichtige Rolle. Am Vorabend hatte Renate Künast erklärt, eine Ablehnung der Vorstandsvorlage zur Grundsicherung könne die Führung beschädigen und die Partei in eine Krise stürzen. Reinhard Bütikofer sagte dann zwar in der Debatteneinleitung, die Delegierten sollten sich hiervon nicht beeinflussen lassen, sondern in der Sache entscheiden. Doch allen war klar, Künast hatte recht. Es war Wunschdenken, wenn Claudia Roth meinte, in Göttingen beim Streit um die Afghanistan-Politik habe nur die Führung eine Niederlage erlitten, nicht die Partei. Das wäre richtig, wenn nicht anschließend die Bundestagsfraktion der Grünen ihre Distanz zum Göttinger Beschluss deutlich gemacht hätte. Daran drückte Roth sich vorbei und betonte nur, sie selbst habe mit dem Beschluss kein Problem gehabt. So kann man das Ansehen einer Führung, aber auch einer Partei nicht steigern.

Trotzdem ist die Abbildung vieler Medien falsch, im Streit "Grundsicherung oder Grundeinkommen" sei es um die Rettung von Hartz IV gegangen, die Führung, um sich im Sattel zu halten, habe daran festhalten müssen und den Kritikern nur einige Zugeständnisse gemacht. Man muss es anders sehen: Die Partei hat einen Weg gefunden, von Hartz IV abzurücken, ohne dass die Peinlichkeit überhand nahm. Der Weg bestand darin, dass sie nicht "Hartz IV ja oder nein" diskutierte, sondern "Grundsicherung oder Grundeinkommen". Im Rahmen dieser Frage konnten beide Seiten ohne Selbstbeschuldigung Gerhard Schröders "Agenda" anklagen. Manche taten es mit Formeln wie "Hartz IV muss weg", aber die Führung war kaum weniger wortkarg, so Bütikofer in der Debatteneinleitung: Wie sei es möglich, mit 2,50 Euro pro Tag ein Kind gesund zu ernähren! Oswald Metzger - der letzte Verteidiger von Hartz IV - solle das mal erklären! Bütikofers Erregung war glaubhaft. Neben mir murmelte zwar jemand mit Recht: "Ja, wer hat denn die 2,50 Euro beschlossen?" Aber es gibt Lernprozesse und Scham.

Völlig konträr zu Schröders Reformen

Nur auf den ersten Blick schien "Grundeinkommen" die radikalere Distanzierung von Hartz IV zu sein. Alle sollen es bedingungslos bekommen, sagen die Befürworter, darunter Hans-Christian Ströbele, und dadurch von jeder Bevormundung durch Ämter befreit sein. In einer Gesellschaft, die keine Vollbeschäftigung mehr erreiche und die lineare Arbeitsbiografie immer seltener ermögliche, führe an dieser Lösung nichts vorbei. Es ist wahr, die Einsicht steht zu Schröders "Agenda" total konträr. Denn Hartz IV wurde mit der Behauptung eingefädelt, die Arbeitslosigkeit zeige die Unfähigkeit der Arbeitslosen, den nächsten Job schnell genug zu ergreifen. Nächste Jobs waren aber gar nicht vorhanden. Jetzt sind einige da, weil es einen Konjunkturaufschwung gibt. Aber es reicht nicht für die meisten. Soll man dann Suchende in Ämter schicken, wo sie wie Delinquenten behandelt werden?

Natürlich kam wieder der Einwand, es sei doch genug nützliche Arbeit da, soziale wie ökologische, die nur nicht getan werde. Und kein Zweifel, hier ist ein Potential, für dessen Erschließung man kämpfen muss. Das ändert aber nichts daran, dass nützliche Arbeit sich auch an der Arbeitsproduktivität misst. Weil diese sich immer mehr steigert, wird Vollbeschäftigung immer unwahrscheinlicher. Es kommt hinzu, die nicht nur nützliche, sondern auch produktive Arbeit verteilt sich mehr als früher über die ganze Welt (Globalisierung). Das einzelne Land bekommt einen geringeren Teil davon ab.

Kurzum, der Verfasser neigt selbst zum bedingungslosen Grundeineinkommen. Trotzdem hätte er in dieser Delegiertenkonferenz für den gegenteiligen Antrag des Vorstands gestimmt. Denn nach einigen Stunden Debatte gelang es besonders der Berliner Delegierten Sybille Klotz, den springenden Punkt herauszuschälen: Das Grundeinkommen, von seinen Befürwortern als notwendige Vision wortstark gefeiert, wurde doch nur in einer Höhe von 420 Euro gehandelt. Das war genau derselbe Betrag, den der Vorstandsantrag für die Grundsicherung vorsah, womit er sich übrigens in Übereinstimmung mit der Linkspartei befand. Wie soll denn aber jemandem, der 420 Euro bekommt, der Bittgang zum Amt erspart bleiben? Die Miete kann er doch damit nicht zahlen, er muss Wohngeld beantragen und also eine Bedürftigkeitsprüfung über sich ergehen lassen.

Kuhn bis Trittin: sozialdemokratisiert

Das fragte sich nicht nur Klotz, aber sie sprach die politische Pointe aus: "Ich habe schon bei Hartz IV erlebt, wie wir die Geister, die wir riefen, nicht wieder los wurden. Das möchte ich nicht noch mal erleben!" Die Delegierten verstanden die Andeutung: Hartz IV war von den Grünen als Einstieg in eine Grundsicherung mitgetragen worden; den Betrag fanden sie selbst zu niedrig, wollte ihn aber im Licht ihrer Vision sehen. Mit solcher Blauäugigkeit machten sie sich lächerlich oder wurden gar als Betrüger wahrgenommen. Würden sie jetzt 420 Euro "als Einstieg in ein Grundeinkommen" vorschlagen, es wäre dasselbe in grün.

Das war entscheidend für den Sieg des Vorstandsantrags. Aber der Streit ums Grundsätzliche, der die Debatte beherrschte, war auch sehr interessant. Katrin Göring-Eckardts demagogische Formel "Wenn der Mann dann sagt, ach Schatz, jetzt hast du doch das Grundeinkommen, bleib doch zuhause", ging nicht durch. Eine Delegierte fragte wütend zurück: Hat "der Schatz" nicht eine Ausbildung gehabt, wird er sie nicht in Tätigkeit umsetzen wollen? Andere ergänzten, dass es nicht immer falsch ist, wenn "der Schatz" - oder der Mann! - für die Kinder zu Hause bleiben kann, ohne sich ums Einkommen sorgen zu müssen. Zuletzt argumentierte Sybill Klotz, vom Erziehungsgeld wisse man doch, dass es Frauen vom Arbeitsmarkt entferne, und vom Grundeinkommen sei dasselbe eben auch zu erwarten.

Neben solchen Erkenntnis fördernden Einzelgefechten gab es die Gesamtstrategie der Parteiführung. Kernbotschaft: "Die Öffentlichkeit soll das Signal empfangen, dass wir für die Schwachen in dieser Gesellschaft eintreten; deshalb kein Grundeinkommen für alle, sondern Grundsicherung für die Bedürftigen." Und ferner: "Erwerbsarbeit ist notwendig, deshalb kann es kein Ziel sein, den Ausstieg aus ihr zu ermöglichen." Letzteres ließ man Frank Bsirske, den grünen Verdi-Vorsitzenden, vor der Debatte sagen. Die Führung zeigte damit wieder einmal, wie tief sie - von Kuhn bis Trittin - in der Schröder-Zeit sozialdemokratisch sozialisiert werden konnte. Ob das auf längere Sicht hilfreich ist? Der Gesellschaft dürfte mehr geholfen sein, wenn die andere, eher originär grüne Position der individuellen Emanzipation, hier also des bedingungslosen Grundeinkommens, mit so viel Sozialstaatlichkeit wie nötig kombiniert und gebändigt werden kann. Da war es wieder Sybill Klotz, die die richtigen Worte fand: "Der Sozialstaat ist doch nicht überwiegend mit Bedarfsprüfung beschäftigt in diesem Land!" Will sagen: Wer die Bevormundung kritisiert, kann trotzdem einräumen, dass nicht alles Bevormundung ist - und umgekehrt.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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