Bloß nicht stillsitzen müssen

MaerzMusik 2015 Im neu konzipierten Festival soll Raum sein "für das gemeinsame Nachdenken über unseren Umgang mit Zeit"

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Wenn die jährlich stattfindende Berliner MaerzMusik ein Seismograph für Entwicklungstendenzen der aktuellen Musikszene ist, dann scheint diese einen Umbruch größeren Ausmaßes zu erleiden. In den letzten Jahren schon nahm man etwas mit, das mir im Nachhinein recht zweideutig vorkommt: Einerseits wurde dokumentiert, wie sich die immanente Musikgeschichte fortsetzt, wobei sich die Vermehrung und Emanzipation der Schlagzeuge und mit ihnen verbunden die Freisetzung immer subtilerer Klänge als Haupttendenz zeigte. Andererseits wurde Musik mit anderen Medien gekreuzt: begleitende Videos, Instrumentalmusiker, die während des Spiels hin- und herlaufen, und Ähnliches. Im Vergleich mit jener Musikgeschichte, die ich „immanent“ nannte, erscheint die letztgenannte Tendenz als äußerliche. Natürlich stellt sich die Frage, ob es korrekt ist, so einen Dualismus zu behaupten. Wenn es ihn gibt, ist er jedenfalls nicht neu: Musikwerke, die auf Verdichtung und Stimmigkeit, Analyse und Synthese etwas hielten, und breite musikalische „Gesamtkunstwerke“ treten spätestens seit Richard Wagner auseinander. Oder ist nur die Benennung des Duals problematisch? Was ist „innen“ und „außen“? Handelt es sich vielleicht eher darum, dass seit dem 19. Jahrhundert der Komponist als Handwerker mit dem quasiindustriellen musikalischen Monteur konkurriert? Wenn das so wäre, müsste man sich wundern, dass er nicht längst niederkonkurriert ist.

Die diesjährige MaerzMusik hebt die Äußerlichkeit auf eine neue Stufe – womit ich kein negatives Werturteil aussprechen will. Sie begann gestern und dauert bis zum 29. März. Sie stellt sich unter Odo Polzer, ihrem neuen künstlerischen Leiter, erstmals als „Festival für Zeitfragen“ dar. Nicht mehr für Musik also? Wie es scheint, gehört Musik nur noch dazu. Das neu konzipierte Festival verstehe sich, so das Vorwort des Programmhefts, „als Ort für künstlerische Erfahrungen, für Begegnungen und das gemeinsame Nachdenken über unseren Umgang mit Zeit“; „Konzerte, Performances, Installationen, Filmpräsentationen und Diskursformate an acht Orten Berlins“ werden geboten. Die „Diskursformate“ sind eine durchgängige Konferenz, täglich ab 12 Uhr während des ganzen Festivals, in der „herrschende Zeitbegriffe, Zeitstrukturen und Zeiterfahrungen aus politischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Perspektive“ diagnostiziert und „neue politische Imaginationen für unseren Umgang mit Zeit“ gefunden werden sollen. Unter den Teilnehmern ist Antonio Negri der bekannteste Name, und obwohl man ihn gern hören möchte, kommt es zum einschlägigen Problem, dass man, eingestellt auf ein Musikfestival, mitten am Arbeitstag für ihn keine Zeit übrig hat.

Dies sind wahrlich interessante Vorgänge, hat doch Musik, rein für sich genommen, schon immer beansprucht, Zeitkunst zu sein: Man fragt sich, was die neuen Reflexions“formate“ ihr denn hinzufügen können. Musik hat immer historisch bestimmte Zeiterlebnisse gespiegelt oder vorausentworfen. Augustin zum Beispiel lässt nicht nur jene berühmte Bemerkung darüber fallen, was die Zeit sei – Wenn du mich fragst, was sie ist, weiß ich es nicht, wenn du mich nicht fragst, weiß ich es -, sondern zieht auch die Musik zur Veranschaulichung der Ewigkeit heran: Wer ein Lied singt oder hört, das er schon kennt, ist im Zeitfluss und weiß trotzdem nicht nur, was war, sondern auch, was kommen wird, so dass alles vom Ende her geschieht, Zeit und Ewigkeit dasselbe sind. Diese jüdisch-christliche Vorstellung trägt noch zum Verständnis der Musik des 19. Jahrhunderts bei, wo sie bürgerlich säkularisiert ist. Im 20. dann, besonders seit dem Zweiten Weltkrieg, kommt eine neue „architektonische“ Vorstellung von Musik auf, die sich nicht mehr „entwickelt“ wie ein bürgerlicher Bildungsroman, sondern eher wie etwas Statisches oder auch wie ein einziger in sich diffiziler Gefühlszustand erscheint, an dem nur das Ohr des Zuhörers zeitlich entlanggleitet, vergleichbar dem beweglichen Blick des Betrachters, der ein Gemälde erfaßt.

Mit einem Wort: Die Musik selbst reflektiert die Zeit; kann sie durch Reflexionen, die man ihr beigibt, noch gesteigert werden? Oder ist das gar nicht die Absicht? Was ist die Absicht? Oder was wird erlitten? Ich habe mir gestern das Eröffnungskonzert angehört, wenn man das ein „Konzert“ nennen kann. Liquid Room war der Titel: laut Programmheft „ein Konzertformat der besonderen Art, das die Konventionen des Konzerts aufbricht und eine Art Live-Streaming von Musik in Gang setzt“, „eine Komposition in Raum und Zeit, innerhalb derer sich die Besucher frei bewegen können“. „Ein Hybrid, der dem nomadischen Leben und seiner Logik der permanenten Verwandlung mehr zu entsprechen scheint als das Stillsitzen im abgedunkelten Konzertsaal.“ Das ist gut gebrüllt, oder angepriesen, aber geht es denn nur mir so, dass mir das Stillsitzen am runden Tisch einer Pariser Bar oder beim Lesen eines Buches, beim Gespräch mit Freunden oder Arbeitskollegen oder eben beim Musikhören noch nie auch nur das leiseste Problem bereitet hat?

Darüber, wie ich Liquid Room erlebt habe, möchte ich heute noch gar nichts sagen – nur so viel, es nahm sich in der Tat eher quasiindustriell als handwerklich aus -, sondern erst weitere „Konzerte“ des Wochenendes anhören, bevor ich, auch vergleichend, zu urteilen anfange. Doch aus einem Interview mit den Künstlern will ich zitieren: „Da Musik nichts anderes ist als ausgearbeitete Zeit, nimmt man die Zeit ganz anders wahr, je nachdem ob man gezwungenermaßen auf seinem Platz im Konzertsaal sitzenbleibt oder sich frei bewegen darf. Die Freiheit, sich autonom durch die Spielstätte bewegen zu können, erleichtert die Entscheidung, die Aufmerksamkeit – zumindest zeitweise – im Zeitablauf verweilen zu lassen.“ Selbst entscheiden, wem oder welcher Sache seine Aufmerksamkeit schenken will, ist eine gute Zielangabe. Obwohl die ganze Unterhaltungsindustrie dieser Autonomie entgegensteht, sollte man allerdings auf ihr bestehen. Wie sie hier aufgefasst wird, scheint mir aber doch etwas problematisch zu sein.

Wenn ich ein Buch lese, um bei diesem Beispiel zu bleiben - sagen wir einen Roman, von dem ich mir, und das ist nun wesentlich, etwas verspreche (dies das Kriterium meiner Aufmerksamkeitsentscheidung) -: dann werde ich es doch nicht bloß durchblättern, um hin und wieder auf einem Satz „zu verweilen“. Auch diese Vorstellung ist aber sehr interessant. Ich merke, wie meine Zeit abläuft, und trete manchmal ausnahmsweise aus ihr heraus? Man kann Rezipieren auch ganz anders verstehen, so nämlich, dass man die eigene Zeit, ja die Zeit überhaupt für längere Zeit ganz verlässt, um sich einer Problementfaltung zu überlassen. Eine Problementfaltung, so scheint mir, ist keine „ausgearbeitete Zeit“ und ist überhaupt kein Zeitablauf, ja hat mit Zeit im Grunde gar nichts zu tun – weder derart, dass spätere auf frühere Zeit folgte, noch derart, dass Zeit stillstünde (ganz offensichtlich steht eine Problementfaltung nicht still) -, und doch haben wir Menschen, als zeitliche Wesen, Zugang zu ihr. Zugang dazu, dass ein Problem, und eben nicht die Zeit, ausgearbeitet wird. Ob ich mich bewege oder stillsitze, das gehört zur Zeit, zu meiner Zeit. Aber wenn ich zuhöre, einem Freund oder der Musik, vergesse ich das. Das heißt nicht, dass die Zeit nicht weiterläuft. Aber es wirft die Frage auf, ob ich noch jemand bin, der zuhören kann, wenn ich mich auf meine Bewegung fokussiere.

Lassen wir es heute dabei bewenden. Vielleicht habe ich Dinge gesagt, die in die Irre führen. Dass auch die diesjährige MaerzMusik ein spannendes Projekt ist, wird jedenfalls deutlich geworden sein. Ich werde wie üblich fortlaufend berichten. Beim nächsten Mal nehmen wir von den Gedanken Odo Polzers, des künstlerischen Leiters, nähere Notiz.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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