Boulez und Cage

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Die Erfindung der Aufzeichnungsfläche

Zur Komposition Cummings ist der Dichter für 16 Solostimmen und Orchester von Boulez, die gestern Abend neben Werken von Strawinsky und Furrer im Kammermusiksaal erklang, einen Höreindruck zu vermelden, wäre für mich eine Überforderung. Beat Furrer dirigierte selbst und hatte die kurzen Stücke der anderen wohl als Hintergrund seiner eigenen Musik eingeplant, des Musiktheaters BEGEHREN, das er im Anschluss an sie konzertant aufführte. BEGEHREN, veröffentlicht 2001, ist eine Adaption des Mythos von Orpheus und Eurydike, den Furrer mit seiner Musik sehr "hautnah" zu aktualisieren weiß, einer Musik, die körpergestische Spuren oft am Rand der Stummheit in den Klang ständig wechselnder Instrumenten-Minigruppen übersetzt. Dies soll hier aber nicht erörtert werden; wer sich dafür interessiert, sei auf das Buch Neue Musik und andere Künste verwiesen, Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt Bd. 50, Hg. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2010, das einen Unterschwerpunkt "Grenzgänge im Schaffen von Beat Furrer" enthält, wo man speziell auch über BEGEHREN einiges findet. Ich mag Furrers Musik, doch gestern deckte sie mir die Boulez-Musik zu und ließ sie mich vergessen, zumal ich sie nie vorher gehört hatte.

Überhaupt ist Boulez nicht leicht. Eine Musik wie die von Furrer kann man sofort "empfinden", bei Boulez gelingt es häufig nicht. Woran das aber liegt, das wenigstens kann ich gerade an Cummings ist der Dichter verständlich machen, indem ich nur wiedergebe, was Boulez selbst über sein Herangehen an diese Komposition mitteilt. Er komponiert gar nicht auf einer Ebene der "Empfindungen", vielmehr der Strukturen; im vorliegenden Fall ging es ihm um die Korrelierung zweier ganz verschiedener Sprachen, und zwar nicht gleich ihrer Bedeutungen, sondern der Zeichen, wie sie in ihrer jeweiligen Materialität begegnen: des gleichsam mit Röntgenstrahlen analysierten Englisch von Cummings - die erste Strophe seines Gedichts geht so: "birds( / here,inven / ting air / U / )sing" - und des musikalischen Idioms von Boulez. Dieser sagt:

"Übrigens geht Cummings weiter als Mallarmé: Mallarmé setzte die Worte auf neue Weise, suchte nach einer veränderten syntaktischen Wortverbindung, aber Cummings dringt in das Vokabular selbst ein, und in bestimmten Gedichten macht er einen wunderbaren Gebrauch vom Doppelsinn, von Mehrdeutigkeiten der Worte. Er benutzt auch die Klammer mit außerordentlicher Meisterschaft. Sie werden jetzt sagen, dass es schwierig scheint, die Klammer musikalisch anzuwenden, weil man sie nicht hören kann. Aber das Interessante für mich ist nicht die wörtliche Übersetzung seiner Welt in die meine." (Wille und Zufall. Gespräche mit Célestine Deliége und Hans Mayer, Stuttgart Zürich 1977, S. 111 f.)

Nicht die wörtliche Übersetzung, aber doch eine Übersetzung; und dabei geht es nicht darum, einen fremdsprachlich ausgesagten Sinn in der eigenen Sprache zu wiederholen, sondern darum, die Fremdsprache selber, wie sie sich zeigt im Vollzug der Sinn-(Wieder)gabe, mit der eigenen Sprache zu vergleichen und diese durch den Vergleich zu bereichern. Überhaupt muss man sich klarmachen, und die Komponisten Neuer Musik haben es sich klarer gemacht als die älteren Meister, dass Musik als Sprache sich nicht unmittelbar auf einen Sinn bezieht, sondern erst einmal als alternatives Signifikanten-System in Konkurrenz zur verbalen Sprache tritt, damit aber vor der Frage steht, wie sie zur verbalen Sprache ein reflektiertes Verhältnis gewinnen kann.

Beim Anhören von Berios Stanze, über die ich gestern sprach, ist es nicht schwer, sich in der Problematik zurechtzufinden und sie direkt zu hören. Im ersten Teil, wo der Bariton das Gedicht Tenebrae von Celan vorträgt, schmiegen sich immer wieder Instrumentklänge seiner Stimme an, mal Streicher, mal Bläser, die sie direkt zu verlängern scheinen. Einmal aber erklungen, machen sie sich selbständig, erweitern den Stimmklang in Regionen, wo er nicht mehr Stimmklang ist, und setzen die derart neu gewonnenen Klangelemente neu zusammen. Aber hier bezieht sich auch das musikalische Signifikantensystem noch unmittelbar auf den Sinn - des Gedichts von Celan -, als wäre Musik die Sprache eines Wesens, das sich um so viel besser verständlich machen kann als der Mensch, wie dieser es besser kann als sein bellender Hund; Boulez hingegen verlässt gar nicht die signifikative Ebene, versucht keinen Sinn unmittelbar auszusprechen, weil es ihm erst einmal, so könnte man sagen, um den Sinn der Sprache selber geht.

Denn Sprache ist nicht unschuldig wie ein Hammer, mit dem man Nägel in die Wand treibt. Zumal nach dem Zweiten Weltkrieg ist sie es nicht mehr. Dazu sagt der Komponist Wolfgang Rihm, für Boulez sei "das Handwerk bereits als Erfindung des Handwerkszeugs integraler Bestandteil von Imagination [...] und nicht ein abgetrennt funktionabler mechanistischer Baukasten für jede Gelegenheit. Die Erfindung von Sprache - a l s Sprache, die Erfindung der Schrift - a l s Schrift; ja noch weiter gehend: nicht mehr die weiße Fläche als vierte Wand der Imagination, sondern die Erfindung von 'Weiß' und 'Fläche' als erster Schriftzug... Boulez mag ähnliche Gedanken [...] hin und her gewendet haben... Inhaltsästhetik und jede Art Auffassung von Kunst als eines Angewandten, im Dienste eines Eigentlich-damit-erst-Gemeinten, dürfte hierzu in scharfem Widerspruch stehen und sich bei näherer Befragung als das zeigen, was ihren Kern ausmacht: ein Vorkünstlerisches, gegenproduktiv und regressiv." (Laudatio auf Pierre Boulez. Zur Verleihung des Adorno-Preises 1992, in Musik-Konzepte 89/90, München 1995, S. 8 f. Vgl. auch Flo Menezes, der Berios Text-Musik-Konzeption mit der von Boulez vergleicht: Das 'laborinthische' [sic] Verhältnis von Text und Musik bei Luciano Berio, in Musik-Konzepte 128, München 2005, S. 23-41.)

Nicht architektonisch, sondern geflochten

Ich will Cummings ist der Dichter auch zum Anlass nehmen, über die Beziehung zwischen Boulez und John Cage etwas zu sagen. Durch diesen war er nämlich auf das Gedicht gestoßen, als beide "in New York eine Buchhandlung besuchte[n]. Ich fragte ihn, was es für interessante Dichter gäbe. 'Nehmen Sie diesen', sagte er und zeigte mir einen Band von Cummings. Ich habe den Band gelesen und war stark beeindruckt" (Wille und Zufall, a.a.O., S. 111). Obwohl die beiden Komponisten als Antipoden gelten und es auch tatsächlich sind, waren sie eine Zeitlang eng befreundet und lernten voneinander. Der 13 Jahre ältere Cage hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg mit Vorformen des Serialismus experimentiert, besonders auf dem Gebiet der Klänge, was Boulez dankbar aufnahm; es gehörte ebenso wie Messiaens Rhythmus-Forschungen zu den Voraussetzungen seines eigenen Wegs. In einem Brief an Cage aus dem Jahr 1950 schreibt er:

"Lass mich Dir sagen ..., dass Du der einzige bist, der meine Beunruhigung im Hinblick auf das Klangmaterial, das ich verwende, vergrößert hat. [...] Uns bleibt nur, das w a h r e 'Klangdelirium' zu erleben und mit den Tönen eine Erfahrung zu machen, die derjenigen von Joyce mit den Worten entspricht."

Joyce auch hier, wir waren ihm schon bei Berio, bei Eco begegnet. Cage hatte Boulez ein Exemplar von Finnegans Wake geschickt, wofür dieser sich zu Beginn des Briefes bedankt. Weiter Boulez:

"Im übrigen - und ich bin froh, diese Entdeckung zu machen - habe ich noch nichts erforscht und auf so verschiedenen Gebieten wie dem Ton, dem Rhythmus, dem Orchester, den Stimmen, der Architektur bleibt alles noch zu suchen. Uns bleibt nur übrig, eine klangliche 'Alchemie' (siehe Rimbaud) zu erzielen, die ich bisher höchstens präludiert habe und über die mich aufzuklären Du vieles beigetragen hast." (zitiert nach Hans Rudolf Zeller, Von einer (zeitweiligen) Korrespondenz. Zum Briefwechsel zwischen Pierre Boulez und John Cage, in Musik-Konzepte 89/90, a.a.O., S. 154-170, hier S. 158)

Man sieht daran, dass die serielle Musik keine europäische Erfindung ist, der eine ganz andere US-amerikanische Musikkultur gegenüberstünde. Nein, gerade Cage gehört zu denen, die sie mit vorbereitet haben. Man kann das leicht verkennen, weil es an und für sich schon richtig ist, Cage zu denen zu zählen, die sich von Europa abgrenzen wollten. Wir lesen dazu in dem Aufsatz Zufall und Klangkomposition von Walter-Wolfgang Sparrer, dass er mit den "abstrakten Expressionisten" in Verbindung stand, einer Gruppe New Yorker Maler, darunter Willem de Kooning, Barnett Newman, Jackson Pollock und Mark Rothko:

"Gemeinsamer Ausgangspunkt der 'New York School', wie die Künstler [...] später genannt wurden, war die Ablehnung regionalistischer und realistischer Tendenzen in der Malerei, darüber hinaus vor allem aber der dominierenden Richtungen der europäischen Malerei, von damals zu vermehrter Abstraktion tendierenden Formen in Nachfolge des Kubismus und Surrealismus. Dahinter stand die Kritik an jeglicher Europäisierung, jeglicher Vorherrschaft europäischen Denkens, europäischer Systematik und Hierarchien, die in den etablierten Strukturen akademischer Ausbildungssysteme in den USA und Europa wie selbstverständlich existierten. Abgelehnt wurden insbesondere auf geometrischer Abstraktion beruhende Verfahrensweisen, vor allem der auf bewusste und geplante strukturelle Beziehungen aufbauende Bildbegriff des Kubismus, d.h. 'die eng ineinander greifende Komposition aus variierten, klar umrissenen, flächenhaften Formen innerhalb fester Bildgrenzen'." (in Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1945-1975, Laaber 2005, S. 155)

Damit wird schlagartig klar, was etwa monochrome Gemälde mit solchen von Pollock gemeinsam haben. Um aber auf Boulez zurückzukommen, so darf man nicht vergessen, dass es ihm nun wirklich nicht darum ging, "Europa" nach dem Zweiten Weltkrieg zu verteidigen. Auf dieser Ebene konnte es nicht zum Konflikt mit amerikanischen Künstlern kommen, im Gegenteil. Man kann sich sogar fragen, ob seine Kompositionstechnik nicht der Maltechnik von Pollock vergleichbar ist, so wenn er 1954 in einem programmatischen Aufsatz schreibt, seine Musik sei "nicht mehr architektonisch gebaut, sondern g e f l o c h t e n " - dabei hatte er selbst noch 1950 von "Architektur" gesprochen, siehe oben -; "dieses Fehlen von 'Form' resultiert unserer Meinung nach aus einer radikal neuen Vorstellung von Gesamtstruktur, geknüpft an ein in ständiger Entwicklung begriffenes Material, bei dem keine Symmetrien mehr eintreten können, die mit dieser Evolution unvereinbar sind" (Nahsicht und Fernsicht, in Pierre Boulez, Werkstatt-Texte, Frankfurt/M. Berlin 1972, S. 58-75, hier S. 73).

Zur Entfremdung zwischen Boulez und Cage kommt es, als dieser I Ging und im Zusammenhang damit das kompositorische Zufallsprinzip ins Spiel bringt. In dem, was daraufhin geschieht, wird nach meinem Dafürhalten erst deutlich, was die Eigenart und den Rang des Pierre Boulez eigentlich ausmacht. Dazu schreibe ich etwas an einem der nächsten Tage. Konzerte werde ich erst nächste Woche wieder besuchen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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