Bruckner und Brahms

Musikfest 2014 Musikalische Charaktere: fröhlicher Kehraus und tastender Neubeginn, Dampflok mit Landschaft und Entladung des Kraftfelds

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Energie

Im Konzert gestern Abend gab es die Achte von Bruckner (komponiert 1887/90) und vorher das concerto grosso Nr. 1 für vier Alphörner und großes Orchester von Georg Friedrich Haas (uraufgeführt 2013). Die Darbietung der Achten durch das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von Francois-Xavier Roth war überwältigend. Dazu trug wieder einmal die Zusammenstellung der Werke bei, die so überzeugend war - soll man sagen, obwohl Haas, geboren 1953, unser Zeitgenosse ist und Bruckner nicht, oder weil er es ist? -, dass man sich gewünscht hätte, das zweite Werk wäre ohne Konzertpause gleich nach dem ersten gespielt worden. Obwohl oder weil: Die Musik von Haas hat einen stark "energetischen" Charakter, und wenn man danach Bruckner hört, nimmt man denselben Charakter auch bei ihm wahr.

Das Stück von Haas ist so konzipiert, dass die Alphörner Töne vorgeben, die das Orchester auf seine Weise irgendwie fortsetzt. Es fühlt sich gleichsam aufgerufen, eine Bewegung zu beginnen, darin dem Orchester der Dritten von Gustav Mahler nach der choralartigen Eröffnungsfanfare vergleichbar. Wir hören am Anfang einfache lang anhaltende Töne, die vom Orchester mit einem peitschenden t a m tam tam tam t a m tam tam tam in mittlerer Lautstärke beantwortet werden, woran man sich erinnern wird, wenn in Bruckners Achter der vierte Satz beginnt. Die Orchestertonhöhen liegen eng beieinander, fast wie bei einem Cluster, trotzdem klingt das Ganze eher konsonant. Dazu trägt wohl die Instrumentierung bei. Alle Instrumente spielen mit, und doch hat man den Eindruck, ein einziges Instrument zu hören. Dabei dominieren die Streicher, immerzu aber heben sich andere Instrumente aus der Klangeinheit leicht heraus und setzen Akzente. Das sind am Anfang besonders die Schlagzeuge, und es ist faszinierend zu hören, wie sehr selbst sie sich darauf beschränken können, der Klangeinheit nur eine minimale zusätzliche Färbung zu geben. Durch dieses Szenario tritt umso deutlicher der Klanggegensatz zwischen den Alphörnern und allen anderen Instrumenten hervor. Sichtbar ist er sowieso - vier Meter lang dürften die dünnen Dinger sein und liegen pittoresk auf dem Boden vor den Geigern, bevor die Solisten kommen und sie aufheben. Später, wenn Bruckner an der Reihe ist, wird man finden, dass auch schon gewöhnliche Hörner dem sonstigen Klang wie transzendierend gegenübertreten.

Der Eindruck, den das ganze Stück vermittelte, war eine ungeheure Anhäufung von Kraft, die sich zwar nicht irgendwohin entlud, aber trotzdem eher freudig stimmte, statt zu frustrieren. Mit so viel Kraft wird sich doch etwas anfangen lassen! Ja, und wenn dann die Achte beginnt, ist es, als hörten wir Bruckners Frage: Wohin aber denn nur? Was soll geschehen? Er folgt immer noch irgendwie Beethoven, das heißt, es müsste vorangehen, aber - und nun braucht man gar nicht gleich die Nihilismus-Diagnose zu bemühen - inzwischen ist das Gesetz der Erhaltung der Energie entdeckt und wenn eine Musik das in sich aufnimmt, macht eine statische Tendenz sich geltend. In diesem Sinn ist nicht nur Haas unser Zeitgenosse, sondern schon Bruckner und man bekommt Lust, sein gesamtes Werk in dieser Perspektive zu hören. Ich hatte schon früher beim Anhören seiner Zweiten die Assoziation einer Dampflokomotive, die uns im ersten Satz über eine lange Strecke mitnimmt und den Blick aus dem Fenster auf vorübergleitende Landschaften gewährt, immer auch sich selbst mit ihrem t a m tada t a m tada t a m in Erinnerung haltend. Irgendwann aber ist die Energie von Bruckners Musik feldförmig geworden. Vielleicht von der Sechsten an? Die ist noch optimistisch. Die Frage "wohin" kann hier gleich zu Beginn beantwortet werden. Schon nach ein paar Takten ereignet sich ein herrlicher Aus- und Aufbruch, den man wie einen Sonnenaufgang erlebt.

Das krasse Gegenteil in der Achten. Schon ihr düsteres Moll lässt nichts Gutes ahnen. Ungeheure Kraft ballt sich in ihr zusammen, doch weiß sie sich erst im vierten Satz und dann in einer Weise zu äußern, dass man denkt, es hätte lieber unterbleiben sollen. Denn was da gezeichnet wird, ist etwas wie ein Weltende. Man kann es gar nicht destruktiv nennen - über die Art des Endes lässt sich Bruckner sozusagen nicht aus -, aber dass es ein Ende ist und zwar ein endgültiges, scheint klar, auch wenn die letzten Takte wieder zur Frage am Beginn des ersten Satzes zurückkehren. Frappierend übrigens, dass Johannes Brahms zur selben Zeit, genauer: kurz vorher (1885), auch so eine Symphonie geschrieben hat, seine Vierte. Wenn auch ohne "Energetismus" und überhaupt mit gänzlich anderen musikalischen Mitteln, unterstreicht schon Brahms auf dem Höhepunkt des letzten Satzes seiner Vierten das Ende. Sollte er Bruckner beeindruckt haben? Der emotionale Unterschied zwischen der Siebten und Achten von Bruckner ist auffallend.

Semantik

Auch die Matinee am Sonntag glänzte durch eine interessante Zusammenstellung der Werke. Das Orchester der deutschen Oper unter Donald Runnicles widmete sich dem Thema "Landschaft", wo dann so Verschiedenes aufeinander folgte wie Im Sommerwind von Anton Webern, das noch spätromantische Stück des Zwanzigjährigen, Aribert Reimanns Drei Lieder für Sopran und Orchester nach Gedichten von Edgar Allan Poe (großartig gesungen von Laura Aikin) und die Serenade Nr. 1 D-Dur op. 11 von Brahms. Brahms, der sich immer mehr als der heimliche rote Faden dieses Festivals entpuppt, das ja mit einer Gesamtaufführung aller vier Brahms-Symphonien, in vier Konzerten zusammen mit den vier Symphonien von Robert Schumann, durch die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle endet.

An der Serenade von Brahms könnte man gut diskutieren, ob es so etwas wie musikalische Semantik gibt und man sie zwar nicht "auf den Begriff bringen", aber doch mit kantischer "Einbildungskraft" umreißen und benennen kann. Im Programmheft schlägt Jörg Königsdorf vor, im Thema der Serenade das Thema des Schlusssatzes der Londoner Symphonie (Nr. 104) von Joseph Haydn wiederzuerkennen. Das ist interessant, und vielleicht kann man ihm folgen. Wenn man ihm folgt, liegt die Semantik auf der Hand. Das Thema bei Haydn hat nämlich den Charakter eines fröhlichen Kehraus - er hat sich wahrscheinlich eher ungern mit dieser Symphonie von London verabschiedet, will sich aber den Schluss nicht vermiesen -, während Brahms eine Melodie des Beginnens und nach etwas Strebens daraus macht. Dazu passt, dass er mit diesem Stück einen Neuanfang setzt, indem er als Romantiker zur Musik der Klassiker zurückkehrt und sich entschlossen zeigt, diese zu integrieren. Das ist auch der Gattung Serenade abzulesen, die Mozart so sehr gepflegt hatte und die Brahms nun überraschend wieder hervorkramt, sowie den Stellen, die Beethovens Sechster, der Pastorale ähneln.

Von einer Semantik kann man nur sprechen, wenn nicht nur Signifikanten gleiten, sondern diese irgendwo auch, an irgendeiner oder mehreren Stellen ihres Flusses, in einer Referenz verankert sind. Die Referenz wäre hier der Abschiedscharakter der Londoner Symphonie, von der man außermusikalisch weiß. Der "Kehraus" ist innermusikalisch und wird oft verwendet. Er muss nicht immer sinnhaft sein, klar ist aber, dass er sich zum Sinnträger eignet, und viel spricht dafür, dass Haydn ihn so eingesetzt hat. Und selbst wenn es nicht so wäre, kann Brahms ihn so aufgefasst haben. Wenn er das aber getan hat, hat er durch die Veränderung des Themas bei gleichbleibender Struktur dafür gesorgt, dass wiederum ein Sinneffekt und zwar ein anderer entstanden ist. Ist es Willkür, solche Möglichkeiten zu erwägen? Ja und nein. Ja, weil man nicht sicher sein kann. Nein, weil es im Grunde gar keine Rolle spielt. Man darf schöpferisch interpretieren, wenn die Komponisten es selber tun und man ihnen also eben dadurch gerecht wird, dass man vorgeht wie sie. Dass Brahms innerhalb eines Stücks von sich selbst ein späteres Thema als Antwort auf ein früheres auffasst, wird man ihm ja wohl gestatten müssen. Ebenso dann aber auch, dass er mit einen Stück auf ein anderes Stück von sich selbst oder auch von Haydn antwortet. Was aber der Interpret tut, ist letztlich nichts anderes.

Der Interpret verhält sich nicht wie ein Mantiker, der irgendwelche Dinge "vergleicht", zum Beispiel Sterne und Lebensläufe, die nichts miteinander zu tun haben, sondern befindet sich im Innern desselben Glasperlenspiels - Hermann Hesses wunderbare Metapher -, zu dem auch das Interpretierte gehört. Er komponiert zwar nicht, stellt aber Überlegungen an, die auch ein Komponist anstellen würde. Deshalb ist seine Interpretation sachlich, wenn auch nie alternativlos. Aber warum sollte sie alternativlos sein? Auch mit Haydns Londoner Symphonie verhält es sich nicht so, dass nur à la Brahms und sonst gar nicht geantwortet werden konnte. Das Modell für diese Auffassung von Interpretation finde ich bei Claude Lévi-Strauss. Er hat es leichter, weil bei seinem Material, das sind die ältesten Mythen, von vornherein klar ist, dass sie keinem anderen "Glasperlenspiel" angehören als seine Interpretation, die ja ebenfalls literarisch ist, wenn auch vom Mündlichen ins Schriftliche transponiert. Die Stelle, wo er schreibt, dass jede Interpretation eines Mythos die Kette der Varianten desselben um ein weiteres Glied fortsetzt, finde ich jetzt nicht wieder. Aber das ist der Punkt: Der Mythos entbehrt eh schon der Identität mit sich selbst, besteht vielmehr aus Varianten - wenn noch eine dazukommt, warum soll sie ihm nicht gemäß sein? (Was ich wiederfinde, ist die Einleitung, von ihm "Ouverture" genannt, zu seinem vierbändigen Hauptwerk Mythologica. Sie besteht fast nur aus Überlegungen zur Ähnlichkeit von Mythenlogik und musikalischer Logik, wie er sie sieht.)

Zurück zu Brahms: Brahms macht aus dem Haydn-Thema eine Melodie des Beginnens und nach etwas Strebens, die sich jedoch in der Serenade Nr. 1 begnügt, nur als solche ihr Haupt zu erheben, ohne schon wirklich einen Weg einzuschlagen. Aber alle sechs Sätze gehen von miteinander zusammenhängenden, einander antwortenden Themen aus. Sind sie hier (1858) nur nebeneinandergestellt, wird Brahms bald darauf, nämlich mit dem 1. Klavierkonzert in d-moll (1859), seine Methode der "entwickelnden Variation" gefunden haben, in der die zusammenhängenden Themen unmittelbar auseinander hervorgehen - ohne dass deshalb die symphonische Großform der Klassiker aufgegeben werden muss - , oder anders gesagt, in der die Variation eines Thema das ist, was von der nächsten Variation variiert wird, statt dass diese zum Ursprungsthema zurückkehrt. Da kann sich Brahms also wieder auf Wege machen. Dass die Wege auf ein Ende wie im Schlusssatz der Vierten zulaufen, war seiner Methode nicht vorausbestimmt. Da müssen sich die Zeitläufte eingemischt haben.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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