Bruckners Scheitern

Ultraschall 2017 Anton Bruckner konnte seine neunte Symphonie nicht fertigstellen. Weil er starb oder weil er Unmögliches versuchte? Heinz Winbecks Rekonstruktion nimmt Stellung

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Über drei Konzerte will ich noch berichten und beginne mit dem letzten vom Sonntag Abend. Zwei Werke für großes Orchester wurden aufgeführt und schon das erste war so interessant, dass es das Publikum spaltete. Zuerst wurde gebuht, dann antwortete die Mehrzahl der Engagierten mit Bravorufen. Heinz Winbecks Fünfte Symphonie ‚Jetzt und in der Stunde des Todes‘ (2009) „nach Motiven insbesondere des Finales der IX. Symphonie von Anton Bruckner“ ist ein Werk, das sich Bruckner bereits in der Ausdehnung zum Vorbild nimmt, denn es dauert 55 Minuten. Da in ihm die tonalen Verläufe überwiegen, obwohl auch atonale Passagen vorkommen, kann es sich so viel Zeit nehmen wie Bruckner selbst, so dass sich die Länge wie von selbst ergibt.

Der Titel spielt auf den zweiten Teil des Ave Maria an, wo es heißt: „Heilige Maria, Mutter Gottes, / bitte für uns Sünder / jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Das Ave Maria ist unzählige Male vertont worden, sogar Karl May, lese ich in Wikipedia, hat eine Version beigesteuert, die „heute von zahlreichen Chören gesungen [wird]“, er prahlt also nicht nur, wenn er sich in Romanen wie Weihnacht als Liedmacher darstellt. Dabei hat May sich aber nur des Titels „Ave Maria“ bedient und einen anderen Text genommen, wie das auch Verdi und Wagner getan haben. Vergleichbar Winbeck, der im Titel ein Stück Text aus dem Ave Maria zitiert, das im Ablauf der Musik weder vorkommt noch eine Funktion hat außer der des Angebots, von ihm her das Werk zu interpretieren und darüber vermittelt auch dessen Gegenstand, Bruckners neunte Symphonie.

Weshalb er gerade „Jetzt und in der Stunde unseres Todes“ aus dem Text herausgeschnitten hat, kann mehrfach erklärt werden. Ein möglicher Grund ist, dass Bruckners Arbeit an dieser Symphonie nicht nur durch den Tod unterbrochen worden sein mag, sondern auch auf Probleme beim Komponieren verweisen könnte. Immerhin zwei Jahre waren Bruckner für den vierten Satz geblieben, bis er 1896 starb, nachdem er den dritten 1894 abgeschlossen hatte. Er war zwar krank, wollte die Neunte aber unbedingt vollenden: Er hoffe, soll er seinem Arzt gesagt haben, dass „der liebe Gott“ ihm Zeit dazu gebe, und widme es ihm ja schließlich auch. Ein anderer Grund wäre, dass Winbeck seine eigene Musik sicher nicht nur als Studie über den toten Bruckner verstanden wissen will, sondern auch als Sprechakt, der sich ans Jetztzeit-Publikum richtet.

Ausgangspunkt seiner Komposition sind die Versuche, den vierten Satz aus Bruckners Skizzen und Bruchstücken zu rekonstruieren. Wenn die Symphonie heute aufgeführt oder eingespielt wird, dann meistens viersätzig nach der Rekonstruktion von Nicola Samale und anderen, die ihre Version je nach dem Stand der Quellenfunde laufend aktualisiert haben. Während sich diese Version so eng wie möglich an die Vorlage hält, haben die Arbeiten Peter Jan Marthés und Gottfried von Einems den Charakter von Dialogen mit ihr, wie letzterer seine Komposition auch genannt hat (Bruckner-Dialog op. 39). Winbecks Herangehen, könnte man sagen, liegt dazwischen und radikalisiert beide Wege. Er sagte, sein Rekonstruktionsversuch sei gescheitert. Eigentlich aber hat er Bruckners Scheitern auskomponiert.

Was hatte Bruckner erreichen wollen? Jedenfalls eine Art Synthese, wenn auch keine so großumfängliche, wie Marthé sie dann angelegt hat. Marthé hat Bruckners Te Deum und siebte Sinfonie, das Zarathustra-Motiv von Richard Straus, Fragmente aus dem Adagio der zehnten und die Fanfare der ersten Sinfonie von Gustav Mahler zusammenzufügen versucht. Er meint, Bruckner selbst habe alle wichtigen Themen seiner fünften, siebenten, achten und neunten Sinfonie übereinanderschichten wollen. Einigermaßen sicher ist, dass Bruckner jedenfalls die Themen aller Sätze der Neunten selber noch einmal miteinander verbinden wollte. War das der Anspruch, zum Schluss gigantisch auftrumpfen zu können? Oder griff er im Gegenteil nach allen verfügbaren Mitteln, die „den lieben Gott“ in letzter Minute zum Erbarmen veranlassen sollten? Für das Zweite spricht, dass Bruckner selbst empfahl, sein Te Deum anstelle des vierten Satzes zu spielen, falls er diesen nicht würde fertigstellen können. Aber auch dann erscheint der Synthese-Versuch fragwürdig – sieh doch, „lieber Gott“, scheint er zu sagen, wie wahnsinnig viel ich geleistet habe! Dabei geht es wohl nicht bloß um Bruckners Ich, sondern um die Ahnung - die man auch in den späten Sinfonien von Brahms und Mahler zu hören glaubt -, dass die europäische Kultur auf eine Katastrophe zusteuerte. Sieh doch, wie Europas Kultur die Welt verändert hat. Selbst in Tokyo reißt man sich um europäische Opern.

In Winbecks Ohren fällt dieser vierte Satz, dessen ungefährer Charakter ja hinreichend verbürgt ist, in zwei Hauptgesten auseinander. Das ist auch der Grund, weshalb er keinen einzelnen Satz, sondern eine dreisätzige Sinfonie komponiert hat. Bruckners beide Gesten verteilen sich auf den ersten und dritten Satz seiner Fünften. Der erste Satz, sagt er, „vollzieht in einer zunächst sehr stillen, vortastend suchenden Weise den Aufbruch zum Abschied“. Hier ist die Musik noch ganz mit sich eins. Vor allem der feierlich abwärts steigende Choral aus Bruckners viertem Satz inspiriert ihn. Im drittem Satz wird Bruckners fieberhafte Hinführung aufgenommen, die in der Tat mit dem ruhigen wenn auch konduktmäßigen Charakter des Chorals kaum vereinbar erscheint. Dass dieser dritte Satz „die allmähliche Auflösung der Zeit“ zeige, so Winbeck, habe ich allenfalls am Ende herausgehört. Doch die Unruhe überträgt sich. Der Satz trägt noch einmal speziell den Namen der Gesamtsinfonie.

Sehr interessant ist die Einflechtung eines Motivs der Trauermusik für Siegfried aus Richard Wagners Götterdämmerung. Es gibt da einen Doppel- oder Mehrfachschlag vor einem steil ansteigenden heftig ausgerufenen Ton, über den man schon bei Wagner rätselt und der jedenfalls keine „Verzierung“ ist, sondern das Gewicht des nachfolgenden Ausrufs vermehrt und diesen zugleich mit heimlichem Graus hinauszögert. Winbeck hat gerade ihm ein noch größeres Gewicht gegeben und einen Schatten in ihm gesehen, den atonale Musik auf Früheres vorauswerfen wird. Dies Verfahren trifft man auch sonst in der Neuen Musik gelegentlich an, in Luciano Berios Sinfonia zum Beispiel, der mit einem Thema von Mahler so umgeht. Man kann aber Winbecks Akzentsetzung auch als Rekurs auf den geheimnisvollen Triller in Franz Schuberts b-moll-Klaviersonate begreifen.

Der zweite Satz ist vielleicht am interessantesten. Winbeck hat ihm den Titel „Komm, heiliger Geist und entzünde...“ gegeben, womit er die Anfangsworte des altkirchlichen Chorals Veni creator spiritus übersetzt. Dieser Satz, sagt er, lege „die letzte große und vergebliche Kraftanstrengung fieberhaft taumelnd bloß“. Man war gespannt, was man zu hören bekommen würde, da es ja kaum denkbar war, dass Winbeck am Aufgreifen dieses Chorals in Mahlers achter Sinfonie vorübergehen würde. Und das tat er auch nicht. Er machte das Fugenthema aus dem letzten Satz von Bruckners fünfter Sinfonie zum Spiegel des Veni-Motivs von Mahler. Beide springen nach unten. Ein interessanter Fall von Intertextualität, wo man auch sieht, dass diese nicht allein an der strukturellen Übereinstimmung von Verlaufsteilen verschiedener Komposition zu messen ist. Winbeck negiert mit seiner Übernahme den Triumphgestus von Bruckners Motiv; wenn das Thema zuerst noch als triumphales zitiert wird, weiß man schon sofort, dass es ganz anders enden wird. Zunächst bringt Winbeck die Fuge in Bruckners Art, nur dass er sie, die schon selber begeistern will, mit Rausch und Taumel noch auflädt; das ist so kongenial, dass man sich die Winbeck-CD wünscht, um sie als Bruckner-Fan wiederholt zu hören. Der Satz hat aber schon befremdend begonnen. Ganz ruhig zunächst mit Streicherpizzicati, wie Bruckner sie dem langsamen Themenkomplex des ersten Satzes seiner Fünften beigegeben hat, doch kippen sie plötzlich in die gespenstischen Pizzicati um, die das Scherzo seiner Neunten zur Angstmusik machen.

Dass da Einige buhten, ist nachvollziehbar. Wie kann sich ein moderner Komponist so sehr der Tradition anverwandeln? Mir haben aber mehr die Bravorufe eingeleuchtet. Die traditionelle Musik ist immer noch wichtig genug, dass ihre schöpferische Analyse Gewinn verspricht. Ich würde mir wünschen, dass auch andere große Werke der Tradition in dieser Weise auseinandergenommen werden.

Es spielte das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Leitung von Dennis Russell Davies. Über das zweite Werk des Abends, triptico vertical (2012-14) für Stimme und Orchester von Philipp Maintz, habe ich in der Printausgabe geschrieben. Über die beiden Konzerte vom Freitag voriger Woche folgt morgen online ein letzter Bericht.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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