Bürger in der Krise

Parteien Die Liberalen und die einstige Öko-Partei sind die Gewinner der jüngsten Wahlen. Bahnt sich da eine "bürgerliche" Reaktion auf die Wirtschaftskrise an? Wohl kaum

FDP und Grüne sind die Gewinner der Europawahl. Was zeigt das? Weil beide Parteien von überdurchschnittlich vielen „Besserverdienenden“, auch „Selbstständigen“ gewählt werden, legt sich der Gedanke nahe, es bahne sich da eine womöglich gemeinsame „bürgerliche“ Reaktion auf die derzeitige Wirtschaftskrise an, die zuletzt in eine Jamaika-Koalition einmünden könnte. Viel spricht aber nicht für eine solche Vermutung.

Gemeinsam politisch vertretene „Bürgerlichkeit“, verstanden als Eigenschaft nicht des Staatsbürgers (citoyen), sondern des Wirtschaftsbürgers (bourgeois), müsste sich an programmatischen Gemeinsamkeiten erweisen und noch mehr daran, wie die Programme im konkreten Entscheidungsfall angewandt werden. Da gibt die Debatte über Opel Anschauung.

Beide Parteien bekennen sich zwar in aller Deutlichkeit zum „freien Markt“, was man für ein Zeichen von Bürgerlichkeit halten wird. Aber in der Anwendung auf Opel tritt der Unterschied hervor, dass die FDP sich strikt gegen staatliche Hilfen wendet, während die Grünen sie unter der Bedingung befürworten, dass der Staat eine Ökologisierung des Autoherstellers durchsetzt. Nun kann man über die Harmlosigkeit der grünen Vorstellung von Ökologie enttäuscht sein: Sie schlagen kein anderes Verkehrssystem, sondern nur andere Autos vor. Aber die politische Linie als solche lässt sich schwer kritisieren, schon gar nicht auf „bürgerlichen“ Klassencharakter zurückführen, und der Unterschied zur FDP-Politik ist evident.

Ist denn eine Politik arbeiterfreundlich, die von der gewaltigen Auto-Überproduktion in Europa einfach absieht und mit dem Argument, die Arbeitsplätze müssten erhalten bleiben, alle Steuerzahler dafür haften lässt, dass statt der deutschen Opel-Arbeiter andere Europäer arbeitslos werden? Eine solche Politik ist eher nationalistisch. Es gibt im Interesse der Arbeiter gar keinen anderen Weg als den, die Produktion vernünftig umzubauen, so dass überall Produkte herauskommen, die sinnvoll sind und verkauft werden können, deshalb auch nicht arbeitslos machen.

Kein antistaatliches Coming Out

Zum Fall Arcandor äußerte sich die grüne Wirtschaftssprecherin Kerstin Andreae, diesem Unternehmen müsse privat statt staatlich geholfen werden. Vor dem Hintergrund der zahlreichen grünen Stellungnahmen zu Opel, zur Abwrackprämie und zur Wirtschaftspolitik in der Krise überhaupt wird deutlich, das ist kein antistaatliches Coming Out. Die Sprecherin hat nur nachgesprochen – schlimm genug –, was in Angela Merkels Mund so plausibel klingt: Bevor die Steuerzahler zur Kasse gebeten werden, sollen gefälligst die Eigentümer helfen, denn die sind verantwortlich. Schlimm genug, weil das Argument Einiges verhüllt. Es fügt sich mit dem anderen Argument zusammen, die Kaufhauswelt habe den Strukturwandel verschlafen, der Trend gehe zur Einkauf via Internet und so treffe es die Richtigen. Die Wirklichkeit ist ja viel einfacher: Die Angestellten von Karstadt müssen für Wuchermieten aufkommen. Da zeigt sich denn doch, dass Staatshilfe sinnvoll wäre, nämlich eine Enteignung des Vermieters nach Artikel 14 des Grundgesetzes. Schade, das haben die Grünen nicht gefordert, aber tat es denn statt ihrer die SPD?

Die gegenwärtigen Ereignisse sprechen nicht für eine „bürgerliche“ Reaktion der Grünen auf die Krise. Aber auch was die FDP derzeit fordert, ist durchaus keine typisch „bürgerliche“ Krisenreaktion. Wenn wir uns das klarmachen, kommen wir erst zum Kern der Sache. Das Bild der dreißiger Jahre schwebt vor: kleinbürgerliche Massen, die sich in der Krise nach rechts radikalisieren, weil sie den Eigentumsverlust, die Proletarisierung fürchten. Aber was war die Folge dieser Furcht? Dass sie nach dem starken Staat riefen und den denkbar stärksten bekamen. Wenn es eine typisch „bürgerliche“ Krisenreaktion gibt, dann ist es diese – wie man auch heute daran sieht, dass in Not geratene Unternehmen sich vom Staat helfen lassen wollen. Die Vorgängerparteien der FDP, die in der Weimarer Republik zunächst mächtig waren, bekamen an deren Ende fast keine Stimmen mehr, weil die Wähler in ihrer Angst auf die autoritäre Lösung setzten. So führt dieser Rückblick eher zu der Frage, wie lange sich die so stark scheinende FDP noch wird halten können.

Denn die Krise ist noch gar nicht recht ausgebrochen. Während in den Auftragsbüchern der Investitionsgüterindustrie gigantische Lücken klaffen, hören wir in den Nachrichten, die Arbeitslosigkeit sei niedriger als vor einem Jahr. Letzteres wird nicht so bleiben. Die Bundesregierung hat daran gearbeitet, und anscheinend mit Erfolg, die Krise bis zur Bundestagswahl unter dem Deckel zu halten. So haben die Wähler noch keinen Grund, mit den Wahlgewohnheiten zu brechen. Die Unternehmer spielen nach Kräften mit: Bisher sind viele Beschäftigte zu Kurzarbeitern, wenige noch zu Erwerbslosen geworden.

Die spannende Frage ist, was nach der Bundestagswahl passiert. Dann werden wir sehen, ob die Grünen bei ihrem ökologischen Programm bleiben, das Arbeiter wie „Bürger“ sollte überzeugen können. Und welche Formation an die Stelle der jetzigen FDP tritt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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