Die Reise Sigmar Gabriels nach Saudi-Arabien Anfang März regt zum Nachdenken an. Schon allein wegen seiner dreifachen Rolle als SPD-Chef, Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister konnte er nicht anders, als ein Signal zu setzen: Keine Rüstungsgeschäfte mit diesem Staat und offene Kritik an einem grausamen Fall von Menschenrechtsverletzung. Dem Blogger Raif Badawi wird vorgeworfen, er habe den Islam beleidigt und mit der Gründung einer Online-Diskussionsplattform gegen saudische Gesetze verstoßen. Er wurde dafür nicht nur zu zehn Jahren Haft und einer Geldstrafe, sondern auch zu 1.000 Stockschlägen verurteilt. Nachdem er am 9. Januar die ersten 50 Schläge auf einem Platz in Dschidda erhalten hatte, wurde die Prozedur zunächst unterbrochen. Aus gesundheitlichen Gründen, wie es heißt. Inzwischen ist klar, dass der Prozess neu aufgerollt werden soll.
Bei seinem Besuch des neuen Königs Salman protestierte Gabriel scharf. Der König ließ später verlautbaren, dass Einmischungen in die inneren Angelegenheiten des Landes nicht geduldet würden. Soll man nun sagen, Gabriel habe aus der Situation das Beste gemacht? Zweck der Reise war es ja vor allem, die saudisch-deutsche Wirtschaftszusammenarbeit zu stärken. Weshalb Gabriel auch in Begleitung von 80 Unternehmern unterwegs war. Deutsche und saudische Unternehmer trafen sich auf einer Konferenz, wo der Vizekanzler ausführte, Deutschland könne einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung der saudischen Infrastruktur leisten.
Dass er aber nicht zu Geschäften um jeden Preis bereit ist, hat er bewiesen, denn gegen den Willen der Union und wohl auch der Bundeskanzlerin hat er keine Rüstungsindustriellen mitgenommen. Er lehnt den Export schwerer Waffen nach Saudi-Arabien ab. Geschäfte, wenn auch andere, werden aber gemacht – mit einem Land, in dem seit Jahresbeginn schon 40 Menschen hingerichtet worden sind. Wird man solchen Zuständen gerecht, indem man hinfährt zum business as usual und zwischendurch ein Wort des Protests fallen lässt? Wohl kaum.
Ai Weiwei und Pussy Riot
In einer Umfrage haben sich 60 Prozent der Deutschen dagegen ausgesprochen, überhaupt Geschäfte mit Saudi-Arabien zu machen. Das ist nicht überraschend: Wenn Russland nach einem umstrittenen Referendum die Krim besetzt, lesen die Bürger in der Zeitung, die nächste Fußball-WM, die in Russland stattfindet, müsse boykottiert werden. König Salman muss sich aber nur mal einen kritischen Satz anhören, der bald vergessen sein wird. Ihm drohen keine Wirtschaftssanktionen. Das befremdet die Bürger. Dabei ist ihnen die Doppelzüngigkeit des Westens, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, natürlich bekannt. Aber wer könnte sich damit abfinden? Geht es nur so? Was könnte, was müsste weltweit für die Stärkung der Menschenrechte getan werden? Auch wenn keine Aussicht besteht, schnell etwas daran zu ändern, darf die Frage nicht in Vergessenheit geraten.
Um mit der Struktur zu beginnen: Man sieht auf den ersten Blick, dass der Westen Menschenrechtsverletzungen groß herausstellt, wenn sie in gegnerischen Staaten geschehen – und leiser wird, wenn sich Freunde versündigen. So sind inhaftierte Regimekritiker ein Top-Thema fast aller Delegationen, die nach China reisen. Und wenn es um Russland geht, werden die Frauen von Pussy Riot schnell zu Heldinnen verklärt. Reisen aber Delegationen nach Israel, hört man wenig bis gar keine Kritik an den Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Palästinensern.
Menschenrechtsverletzungen weltweit
Raif Badawi wurde im Mai 2014 von einem Gericht in Saudi-Arabien zu zehn Jahren Haft und 1.000 Stockschlägen verurteilt. Der Blogger hatte eine Online-Plattform für politische Diskussionen gegründet. Trotz internationaler Proteste erhielt Badawi im Januar vor einer Moschee in Dschidda 50 Stockhiebe. Die weitere Vollstreckung der Prügelstrafe wurde aus medizinischen Gründen zunächst ausgesetzt. Sie kann aber jederzeit wieder aufgenommen werden.
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Liu Xiaobo sitzt seit 2009 in einem chinesischen Gefängnis. Sein Vergehen: Der Intellektuelle hatte an einem Manifest mitgearbeitet, das politische Reformen sowie den Schutz der Menschenrechte in China einforderte. Kurz vor dessen Veröffentlichung wurde er verhaftet. 2010 wurde ihm in Abwesenheit der Friedensnobelpreis verliehen.
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Atena Farghadani befindet sich seit dem 9. Februar im Hungerstreik. Zurzeit schwebt sie in Lebensgefahr. Die iranische Malerin wurde im August 2014 inhaftiert, weil sie politische Gefangene besucht und mit einer Karikatur Parlamentsabgeordnete kritisiert hatte. Nach ihrer Freilassung im November wurde sie im Januar erneut festgenommen, weil sie in einem Video über Misshandlungen während ihrer ersten Haft gesprochen hatte.
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Chelsea Manning wurde im Juli 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt, weil sie Dokumente an die Enthüllungsplattform Wikileaks weitergeleitet hatte, die Kriegsverbrechen der USA belegten. Das Strafmaß fiel höher aus als bei Militärangehörigen, die wegen Mordes oder Vergewaltigung verurteilt worden waren. Nach frühestens zehn Jahren Haft kann Chelsea Manning auf Bewährung entlassen werden.
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Erkin Musaev arbeitete für die UN in Usbekistan, als er 2006 von Angehörigen des Nationalen Sicherheitsdienstes verhaftet wurde. Man klagte ihn wegen Spionage an, unter Folter gestand er und wurde zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund des erzwungenen Geständnisses wurde wiederholt abgelehnt.
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Die Struktur schließt auch ein, dass der Westen manche Menschenrechte lieber im Mund führt als andere. Er kritisiert gern den Mangel an Freiheit und Demokratie. Auf seine Demokratie ist er sehr stolz – und ist doch gerade dabei, sie der Marktlogik zu opfern. Es ist aber wahr, das Thema nimmt schon in der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution den breitesten Raum ein. Doch es gibt auch noch andere wichtige Themen – so die sozialen Menschenrechte, die in der Erklärung der Vereinten Nationen eine große Rolle spielen. Dass Katar sie massiv verletzt, Fremdarbeiter quasi als Sklaven hält, führt – jedenfalls bisher – nicht zur Empfehlung der deutschen Regierung, Deutschland solle die Fußball-WM 2022 boykottieren.
Und dann gibt es das Thema Körperqual. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, im Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen ganz eindeutig festgeschrieben, wird von vielen islamischen Staaten nur so weit anerkannt, wie es sich mit der Scharia verträgt. Das heißt: Es wird eben oft nicht anerkannt.
Saudi-Arabien, das die Scharia besonders konsequent anwendet, ist ein wichtiger Verbündeter des Westens, auch Deutschlands. Deshalb war die Union immer zur Lieferung schwerer Waffen bereit. Noch 2012 haben die Saudis Waffen für 1,2 Milliarden Euro erhalten, 2013 immerhin noch für 360 Millionen Euro. 2014 dann mussten sie sich, weil Gabriel intervenierte, die Leopard-Panzer von der konservativen spanischen Regierung besorgen. Sie hatten sich 2011 mit solchen Panzern an der Niederschlagung der Revolution in Bahrain beteiligt. Das sah der Westen nicht gern.
Heute aber ist Saudi-Arabien als Teil der Koalition gegen den IS gefragt. Deshalb kann die Union Gabriels Haltung nicht nachvollziehen. Ohnehin hat Angela Merkel immer wieder erklärt, die Weltordnung müsse auch durch deutsche Rüstungsexporte gestützt werden, so zum Beispiel 2011 in einer Grundsatzrede in Hamburg. Man sieht schon, es geht ums große Ganze: Niemand wird sagen, dagegen falle das Leiden des dreifachen Familienvaters Badawi nicht ins Gewicht, aber die Politiker verhalten sich schon oft so, als wenn es so wäre.
Was Jimmy Carter lehrt
Dahinter steht eine weitere Struktur: Der Westen würde gern überall Menschenrechte durchsetzen, aber das geht nicht, denn er hat ja auch „Interessen“. Und das sind zum Teil, man kann es nicht leugnen, Interessen von uns allen. Noch braucht der Westen das saudische Öl, und wenn der IS nicht gestoppt wird, müssen wir uns wohl an Morde wie bei Charlie Hebdo gewöhnen. Zwar wäre jeder Zeichner der französischen Zeitschrift in Saudi-Arabien zu mehr Stockschlägen verurteilt worden, als Badawi erhalten soll. Aber diese Widersprüche nehmen wir klaglos hin.
Führt ein Weg aus diesen Konfusionen heraus? Selbst wenn westliche Politiker ihn finden wollten, es wäre höllisch schwer. Das lehrt auch die Erinnerung an den US-Präsidenten Jimmy Carter, dem man wirklich unterstellen kann, dass er das Beste für die Moral herausholen wollte. Sogar er, der spätere Friedensnobelpreisträger, hat es nicht geschafft. Was von seiner Präsidentschaft am meisten in Erinnerung bleibt, ist der Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau. Da dieser in die Zeit der NATO-Nachrüstung fiel, war das eine Moralpolitik, die ungewollt mit dem Weltkrieg spielte. Was hatte die Sowjetunion verbrochen? Ja, sie war in Afghanistan einmarschiert, um mit Waffengewalt einer befreundeten Regierung zu helfen. Mit Indonesien aber blieb Carter trotz des Völkermords in Ost-Timor weiterhin befreundet.
Siehe Edward Snowden
Wir bleiben in der Konfusion gefangen, wenn wir das Problem nicht noch weiter zuspitzen: Der Westen selbst verletzt jede Woche grob die Menschenrechte. Auch das ist nicht gerade unbekannt. In den USA zum Beispiel wird zwar nicht die Scharia befolgt, wohl aber hat die CIA Menschen systematisch gefoltert. Und auch Regimekritiker haben mitunter einen schweren Stand, siehe Edward Snowden. Obwohl diese Struktur für den Westen besonders peinlich ist, lässt sich gerade an sie der Weg knüpfen, der beschritten werden müsste, um den Menschenrechten global zu helfen. Man kommt nämlich in der Welt, wie sie ist, nur voran, wenn über die Menschenrechte nicht mehr wie von Lehrer zu Schüler gesprochen wird, sondern auf Augenhöhe. Die ganze Welt weiß – und Autokraten weisen ja oft genug genüsslich darauf hin –, dass der Westen als Menschenrechtslehrer eine schwache Figur ist. Aber eine ständige Menschenrechtskonferenz, etwa zwischen den USA und China, die unabhängig von Wirtschaftsanlässen tagte und auch hochkarätig mit Regierungsvertretern besetzt wäre, das könnte weiterführen.
Eine solche Konferenz käme schnell darauf, dass man, was Menschenrechte angeht, ähnlich verfahren muss wie bei einer notwendigen Reform der Krankenkassen: Man wird analysieren, was im einen und anderen Land der Stand der Durchsetzung der Rechte ist – und daraus erreichbare nächste Schritte ableiten. So könnten die Chinesen vorschlagen, dass die Republikaner ihren Widerstand gegen Präsident Barack Obamas Gesundheitsreform aufgeben. Ja, das wäre eine Einmischung in innere Angelegenheiten, aber ein Eingehen darauf würde der Gegenseite auch ihr pauschales Abwehrargument nehmen, wenn man dort wiederum Verbesserungen anmahnte.
Die USA könnten umgekehrt erklären, wie das chinesische Riesenreich ohne zu zerfallen in eine Demokratie verwandelt werden soll. Oder wollen sie den Zerfall? Jedenfalls müssten beide Seiten anerkennen, dass „Interessen“ im Spiel sind. Sonst können solche Verhandlungen nicht erfolgreich sein. Ein Ausgleich muss gelingen. Dabei steht ein Teil der Interessen grundsätzlich auf dem Prüfstand: Wenn etwa ein Land sich nur um den Preis ökonomisch ausdehnen will, dass das andere schrumpft, ist kein Ausgleich möglich.
Zugegeben, eine solche Konferenz ist ein Gedankenspiel, dessen Verwirklichung noch weit in der Zukunft liegt. Aber der Fall, mit dem wir begonnen haben, ist einfach. Mit einem Staat, der das Recht auf körperliche Unversehrtheit missachtet, sollte man brechen, wo man es sich erlauben kann. Saudi-Arabien gegenüber wäre es möglich. Aber auch die USA sollten lauter kritisiert werden. Eine deutsch-amerikanische Menschenrechtskonferenz wäre vorstellbar. Da würde sich Deutschland dann vielleicht der Kritik ausgesetzt sehen, dass es sich lange gesträubt hat, die inhumane, aber unter dem Schutz der freien Religionsausübung stehende Scientology Church zuzulassen.
Auf eine solche Konferenz würde Saudi-Arabien sich wohl nicht einlassen. Doch dann wäre sie ohne saudische Regierungsteilnahme in Deutschland durchzuführen und über das Internet öffentlich zu machen. Denn es ist nicht falsch, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen – solange es friedlich und in aller Öffentlichkeit geschieht.
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