Cage als Künstler einer anderen Kultur

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Heute will ich auf ein weiteres Konzert eingehen, aber auch den gestern aufgenommenen Faden der Erörterung weiterspinnen. Ich hatte referiert, aus welchem Grund John Cages Zufallsmusik für den Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger eine Freiheitsmusik ist: vor allem, weil Cage sich mit ihr von sich selbst befreit habe. Statt aus eigener Absicht etwas zu schaffen, das sich, einmal als Objekt vorhanden, nur hätte entfremden können, habe er selbstlos den Zufall entgegengenommen und sei eben dadurch frei geworden, ihn sich so anzueignen, wie er wahrhaft ist. Gegen die Musik vor und neben Cage wendet Metzger ein, sie habe immer nach größtmöglicher "Notwendigkeit" gestrebt, diese sei aber Schein gewesen und reiche an die in Freiheit umschlagende Notwendigkeit von Cages Zufallsmusik nicht heran.

Das sind fragwürdige Argumente. Besser steht es um andere, mit ihnen eng verbundene, immer noch in Metzgers Aufsatz John Cage oder Die freigelassene Musik (in: ders., Die freigelassene Musik. Schriften zu John Cage, Wien 2012): Cage habe gar nicht unfrei werden können im Verhältnis zu einem von ihm selbst geschaffenen Objekt, weil seine Musik sich n i c h t o b j e k t i v i e r e . Das ist als Beschreibung richtig und wichtig. Tatsächlich sind Cages Kompositionen oft nur Anweisungen, wie Musik gemacht werden soll, die allenfalls ungefähr ahnen lassen, wie sie sein wird, das heißt wie sie sich anhören wird. Darüber entscheiden nämlich erst die Interpreten und häufig die Instrumente, die so zugerichtet oder ungewöhnlich verwendet werden, dass eine von Cage in der Komposition vorgeschriebene Aktivität, ein Anschlag der Tasten des Klaviers zum Beispiel, den resultierenden Klang nicht voraussehen lässt. Cage erreicht damit in Metzgers Deutung zweierlei: Freiheit der Interpreten u n d Freiheit der Musik, die herauskommt. Die Musik ist frei, weil weder Cage noch die Interpreten sie letztendlich bestimmen.

Ich führe das Beispiel vom vorigen Sonntag vormittag an, wo unter anderm, dargeboten von Alexej Lubinov, einige von Cages Stücken für "präpariertes Klavier" aus den 1940er Jahren zu hören waren. Das gehört zu seinen frühesten Innovationen: Er baute zwischen den Saiten Hindernisse ein, so dass beide beim Anschlag zusammenstießen. Das Klavier klingt dann wie verstimmt. Es ist eine neue Hörerfahrung, weil die Verstimmung nicht mehr das Irreguläre ist, über das man hinwegzuhören versucht, sondern die Regel. Tatsächlich wäre es im Sinn Metzgers unmöglich, den genauen Verstimmungs-Klang vorauszusehen. Eine andere Seite der Sache ist aber die, dass man hier auf Klangereignisse horcht, die noch jenseits der vertrauten Opposition "konsonant" versus "dissonant" vorkommen. Und damit wendet sich unser Blick. Denn solcher Klang, der im Sinn des Konzertsaals unrein zu nennen wäre, kommt nicht nur vor, sondern macht weit mehr als 99 Prozent aller im wirklichen Leben vorkommenden Klänge aus. Damit d a s G e r ä u s c h auch im Konzertsaal vorkommen darf, muss es in der Tat "befreit" werden - von der Konvention, die es dort ausgeschlossen hat -, aber an sich bedarf es keiner Befreiung, sondern ist ohnehin da.

Der Cage, der in den 1940er und 50er Jahren solche Stücke schrieb, war zunächst noch gar nicht auf sein Prinzip der Zufallsgenerierung gestoßen, und er sah in seiner frühen Musik nicht vor allem einen Weg, die Klänge zu befreien. Eher wollte er die Orientierung der Menschen in der Welt ihrer Geräusche erleichtern. Er stellte sich vor, dass ein Zuhörer, der von seiner Musik geschult war, das Kreischen der Straßenbahnen und alles, was drum herum auch noch laut war, als eine Art Ordnung und nicht als Chaos wahrnehmen könne. "Meine Musik ist von therapeutischem Wert für Stadtbewohner", sagt er 1943 (David Revill, Tosende Stille. Eine John-Cage-Biographie, München Leipzig 1992, S. 87). Es gibt Kompositionen von ihm, die Verkehrsgeräusche zum Gegenstand haben. Angriffe, dergleichen sei keine Musik, hat Cage mit dem Satz pariert, dann mache er eben nicht Musik, sondern "Klangorganisation", ähnlich wie Bert Brecht einmal geschrieben hat, wenn man das, was er mache, nicht als Theater anerkennen wolle, dann sei es eben "Thaeter".

Yes we can

Wir beginnen hier zu ahnen, dass wir in Cage dem Vertreter einer uns nicht hundertprozentig vertrauten anderen Kultur, der US-amerikanischen, begegnen; das ist ein ganz anderer Ansatz, als wenn wir ihn mit Metzger eine Variante adornitischer Philosophie durchspielen lassen, und noch einmal ein anderer, als wenn wir sagen, denn auch dafür gibt es viel Evidenz, Cage habe sich der ostasiatischen Weisheit angenähert. Hatte nicht schon Charles Ives, der große amerikanische Komponist der vorausgegangenen Jahrhundertwende, Schritte zur Überführung von Konzertsaalmusik in Klangorganisation getan? In Ives' Sinfonie Holidays werden verschiedene Straßenfest-Musiken nachgebildet und simultan dargeboten.

Wenn wir uns daran erinnern, fällt uns auch anderes auf, das "amerikanisch" erscheint. Klischeehaft ist es vielleicht, in Cage den Selfmademan und Daniel Düsentrieb zu sehen, aber das ist er jedenfalls auch gewesen. Sein Vater war ein eifriger, nicht selten erfolgloser Erfinder, zum Beispiel hatte er an der Adaption von Verbrennungsmaschinen für den Gebrauch in Unterseebooten gearbeitet. Schon der Großvater war einer gewesen, er ließ sich einen Tastenschlüssel für Schreibmaschinen patentieren. Cage Junior, der Komponist, wurde nun auch Erfinder. Er sah sich selbst so: "'Mein Vater sagte zu mir', berichtet er, 'dass der Satz >Das kann ich nicht< einem zeigt, was zu tun ist.' [...] Jahre nach seinem Studium bei Schönberg wird er sich bewusst, dass Schönberg in ihm 'einen Erfinder - einen genialen Erfinder' gesehen hatte". Schönberg hatte gesagt, ein Komponist sei er zwar nicht, aber ein Erfinder. (Revill, a.a.O., S. 31 f., 68)

Zu den Stücken für präpariertes Klavier hatte sich Cage wirklich im Erfindergeist ertüchtigt: Er "versuchte, den Klang des Klaviers durch hineingesteckte Gegenstände zu verändern, wobei er in rascher Folge Zeitungen, Aschenbecher, Bücher und eine Pastetenplatte ausprobierte und immer einige Tasten anschlug, um das Ergebnis zu hören. Es zeigte sich, dass der Klang sich tatsächlich im gewünschten Sinne veränderte, dass aber die Gegenstände dabei dauernd im Resonanzkörper umherhüpften, so dass die Klänge nicht konstant blieben. Man musste eine Befestigung finden. Also steckte Cage einen Nagel zwischen die Saiten - er rüttelte sich los und fiel ab. Dann hatte er den Einfall, dass das Eindrehen einer Holzschraube zwischen jeweils zwei Saiten dafür sorgen würde, dass der Ton konstant bliebe. Nach längerem Herumprobieren schrieb er das Bacchanale" - 1940, erste Komposition für präpariertes Klavier, die sich Alexej Lubinov am Sonntag vormittag nicht entgehen ließ - "am Ende für ein Klavier mit einem kleinen Bolzen, Schrauben mit Muttern und einigen Dichtungsringen. 'Ich war begeistert, als ich merkte, dass mittels einer einzigen Präparation zwei verschiedene Klänge produziert werden konnten', erinnert sich Cage. 'Der eine war hallend und offen, der andere leise und gedämpft. Der leise wurde hörbar, wenn man das Pedal bediente.'" ( S. 94)

Bezeichnend aber auch, wie Cage Schönbergs Zwölfton"technik" adaptierte (der geläufige Ausdruck stammt nicht von Schönberg): wirklich als eine Technik, die dann auch beliebig umgebaut werden kann. Während Schönberg Konsequenzen aus der europäischen Musikentwicklung gezogen hatte, erfand Cage "Reihen", wie man Tastenschlüssel für Schreibmaschinen erfindet. Zum Beispiel, die ersten fünf Takte einer Komposition sollen im Dreivierteltakt, die zweiten im Fünfvierteltakt stehen, und so weiter. Mit der Idee aber, fast beliebige Klänge zu "organisieren", hatte der Selfmademan so etwas wie eine musikalische Marktlücke entdeckt. Dabei waren seine Kenntnisse und Fähigkeiten im musikalischen Metier, wenn man darunter das klassische Handwerk mit seinem jahrhundertealten Erfahrungsschatz versteht, eher bescheiden. Schönberg sagte ihm ins Gesicht, er habe kein Gespür für Harmonik (S. 74). Doch wie Revill schreibt: Was soll's, er machte dann eben Sachen, die er verstand. Und hatte nicht Schönberg selbst einmal gesagt, Kunst komme "nicht von Können, sondern von Müssen"?

Bestimmt nicht klischeehaft ist das Amerikanische, das Cage mit bildenden Künstlern wie Rauschenberg und Jasper Johns verbindet, mit denen er auch befreundet war; dazu habe ich schon früher einmal, in dem Eintrag Boulez und Cage aus dem Jahr 2010, die folgende Passage aus der Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert. 1945-1975 zitiert (Laaber 2005, S. 155): "Gemeinsamer Ausgangspunkt der 'New York School', wie die Künstler [...] später genannt wurden, war die Ablehnung [...] der dominierenden Richtungen der europäischen Malerei, von damals zu vermehrter Abstraktion tendierenden Formen in Nachfolge des Kubismus und Surrealismus. Dahinter stand die Kritik an jeglicher Europäisierung, jeglicher Vorherrschaft europäischen Denkens, europäischer Systematik und Hierarchien, die in den etablierten Strukturen akademischer Ausbildungssysteme in den USA und Europa wie selbstverständlich existierten."

Jeder auf eigene Faust

Damit sind wir von Metzger weit abgekommen. Zu Metzger führt es aber zurück, wenn wir uns fragen, ob nicht gerade auch die Vorstellung von Freiheit und Anarchismus, mit der sich Cage seit den 1950er Jahren immer wieder präsentiert, eher von der Eigenart amerikanischer Kultur herrührt, als dass sie sich aus Adornos allgemeiner Entfremdungsphilosophie begreifen ließe. Ich habe eingangs daran erinnert, wie Metzger Cage für seine Distanzierung von der Unfreiheit klassischer europäischer Musik beglückwünscht. Deren Notwendigkeit sei Schein und Cage habe es durchschaut, sagt Metzger. Wenn wir Cage selbst anhören, klingt es aber eher allgemein angelsächsisch, so nämlich, als habe er sagen wollen "There is no such thing as society": "Stellen Sie sich vor", wird er von Revill zitiert (a.a.O., S. 329), "dass die Musik, die Sie schreiben, keine Musik ist, sondern ein Geflecht von sozialen Beziehungen, und fragen Sie sich dann, ob Sie in jener Art von Gesellschaft leben möchten, die solche Musik in sich birgt", nämlich die überlieferte europäische Musik. "Ich entwerfe Verhältnisse, in denen jedermann auf eigene Faust lebt, und das kann schwierig sein, es sei denn, Sie glauben daran - es sei denn, Sie glauben an das Bedürfnis danach."

Ein Komponist wie Beethoven, so Cage, sei, "wenn man der Sache wirklich auf den Grund geht, einfach jemand [...], der anderen Leuten erzählt, was sie tun sollen. Ich halte das nicht für den elegantesten Weg, etwas durchzusetzen." (ebd.) Ja, will er denn etwa auch "etwas durchsetzen"? Hat er also doch Absichten und ist gar nicht darauf aus, sein Selbst von ihnen zu "befreien"?

Es scheint so, denn er sagt auch: "Ich dachte, wenn da ein Musiker wäre" - nämlich er selbst -, "der das öffentliche Beispiel gab, dass er das Unmögliche tat, würde er jemanden, der von dieser Aufführung beeindruckt war, dazu verleiten, die Welt zu verändern." (S. 335 f.) Wenn das so ist, fragt man sich, warum er sich dann von Beethoven überhaupt distanzieren muss, der doch genauso hätte sprechen können. Aber es ist ja wahr: Beethoven "erzählt mir" - sagt mir auf den Kopf zu -, was ich seiner Meinung nach tun soll. Und die Kultur, in der ich lebe, lässt mich nicht denken, das sei anmaßend und quasi der Versuch, mich meiner Freiheit zu berauben. Meine Freiheit sehe ich ja gerade darin, dass ich Zugang zu einem qualifizierten Vorschlag wie dem von Beethoven habe, und freilich auch darin, dass ich ihn so gut zurückweisen wie annehmen kann. Diese Freiheit s e t z t ein gesellschaftliches Band zwischen Beethoven und mir v o r a u s , und umgekehrt: Das ist ein Band, das mich nicht fesselt, sondern freier macht, als ich ohne es wäre. Bei Cage aber hört es sich so an, als liege Freiheit nur darin, dass jeder versuchen kann, im Wettbewerb seinen eigenen Vorschlag gegen den Vorschlag des anderen durchzusetzen.

Wenn wir so weit gelangt sind, sehen wir erneut die Gefahr des Klischees. Ob Metzgers Cage-Deutung angemessen ist, daran dürfen wir nun zweifeln, aber das muss nicht umgekehrt heißen, dass im O-Ton Cage Wesentliches über Cage erfasst sei. Nein, gerade weil sich das so gewöhnlich neoliberal anhört, möchte es geraten sein, es nicht allzu ernst zu nehmen. Wer sagt denn, dass Cage sich in Worten ebenso gut offenbaren kann wie in seiner "Klangorganisation"? Im übrigen ist durch alles, was ich jetzt angeführt habe, Cages entscheidende Idee, Musik aus dem Zufall zu generieren, immer noch nicht verständlicher geworden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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