Carl Nielsen

Musikfest 2015 Dänemark war am Ersten Weltkrieg nicht beteiligt, doch hinterlässt er seine Spur im Werk des dänischen Komponisten. Nielsen lebte von 1865 bis 1931

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

In der Reihenfolge der Konzerte war zuerst Nielsens Sechste (am 9.9), dann seine Fünfte (14.9.) und schließlich die Dritte (16.9.) zu hören. Will man seine Musik verstehen, ist es besser, die Symphonien in der Entstehungsreihenfolge nachzuvollziehen.

Der dänische Komponist hat den meisten seiner Symphonien Beinamen gegeben. So hat er die Nr. 3 op. 27, entstanden 1910/11, „Sinfonia Espansiva“ genannt. In ihrem ungetrübten Jubelton ist sie für deutsche Ohren erst einmal schwer begreiflich. Man denke daran, was damals in Deutschland komponiert wurde: Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücke op. 16 (1909), Gustav Mahlers Adagio als Fragment seiner unvollendeten Zehnten (1910) – jedes in seiner Art ein Katastrophenwerk. Auch kann Nielsens tonale und recht unkomplizierte Musiksprache diesen Werken gegenüber altmodisch wirken. Aber so darf man nicht herangehen. In verschiedenen Ländern entfalten sich verschiedene Traditionen, und wenn sie sich auch gegenseitig beeinflussen, hat doch jede ihren eigenen Tonfall und ihre eigene Entwicklungsgeschwindigkeit. Von Nielsens Musik, wie sie sich hier in der Dritten zu hören gibt, kann man sagen, dass sie sich auf dem Niveau der frühen Symphonien von Charles Ives hält, dass Nielsen so wenig wie Ives Grund hat, Trübsal zu blasen, und dass auch diese Dritte, kann sie auch nicht als Frühwerk bezeichnet werden, denn Nielsen war bereits 45 Jahre alt, noch nicht seinen reifen Stil repräsentiert.

Dennoch ist sie ein guter Ausgangspunkt und durchaus gerade für deutsche Ohren. In der Mitte des ersten Satzes bricht ein gewaltiger „Wiener“ Walzer hervor – im Nachhinein begreift man, dass er sich schon in den ersten Takten angekündigt hat. Ja, dieser ganze Eröffnungssatz steht im schnellen Dreivierteltakt, was für Symphonien durchaus ungewöhnlich ist. Aber kommt es uns nicht bekannt vor? Natürlich – die Dritte von Brahms! Auch da schon (1883) gipfelt der erste Satz in einer Walzerszene, und zwar einer Wiener ohne Gänsefüße, wo man sich in einen k.u.k. Ballsaal hineinversetzt glaubt. Nicht jeder Dirigent macht es so deutlich wie Hermann Scherchen, aber man hört es doch immer heraus. Über Brahms‘ Walzer liegt freilich von vornherein viel Melancholie, die dann im dritten Satz schmerzlich in den Vordergrund tritt, vor dem katastrophischen vierten; mit dem Thema des dritten, einer trauernden Abwandlung jenes Walzerthemas, kommentiert sich durchgehend der Film Lieben Sie Brahms? nach dem Roman von Francoise Sagan. Wie anders der Walzer bei Nielsen! Er hat etwas wild Entschiedenes, soll man sagen Dionysisches; er springt in einem beträchtlichen Akkordumfang die Stufen herauf und herunter, wo man wieder an Ives denkt – ans Thema von dessen erster Symphonie (1898-1901), das nicht wild, sondern besinnlich ist, aber ebenfalls im Dreivierteltakt steht. Vergleichbar sowohl im Wilden als auch im akkordischen Stufenspringen sind die Seguidilla aus George Bizets Oper Carmen (1873/74) und der „Tanz der Ritter“ aus Sergej Prokofjews Ballettsuite Romeo und Julia (1935/36.). Hier wie bei Nielsen vermittelt das Springen ein Gefühl selbstsicherer, daher freier und fast verwegener Kraft.

Aber nur Nielsens Walzer verbindet so viel Rausch und Optimismus mit der Kraft. Wenn auch hier etwas wie dunkle Färbung mitaufgesetzt ist, was zeigt sie, wenn nicht Betrunkenheit und den Verlust der Individuation? Es war ein Glücksfall, dass die Symphonie von Marek Janowski und seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin dargeboten wurde. Janowski dirigierte so mitreißend, dass ein Teil des Publikums nach diesem ersten Satz bereits versehentlich zu applaudieren begann. Sicher waren das keine Konzertsaalneulinge, denn solche wären nicht gekommen, um sich Nielsen und vorher Mahler und Schönberg anzuhören. Das ganze Werk wurde unter Janowskis Händen zur Tanzsymphonie, denn auch im dritten Satz gestaltete er ein wild pochendes Thema so, dass er zwei erste Schläge des Viervierteltaktes betonen ließ, was etwa Sir Colin Davis in seiner CD-Einspielung nicht tut. Auch die Einspielung von Davis ist hervorragend, aber während Davis mehr ein tastendes musikalisches Reflektieren betont, ist bei Janowski vom Durchbruch des Walzers angefangen nur noch Jubel angesagt, der manchmal eine leicht pathetische Färbung annimmt – so im zweiten Satz, wenn sich eine Frauen- und eine Männerstimme dem Orchester wie weitere Instrumente hinzugesellen -, und man muss sagen, es überzeugt. Großartig etwa, wie nach dem erwähnten Quasitanz im dritten Satz die erste von etlichen Fugen kraftvoll einsetzt und nichts will, als den Jubel zu steigern.

Übrigens war auch die Programmgestaltung durchdacht, denn was vor Nielsen von Mahler erklang, war gerade jenes Adagio aus der unvollendeten Zehnten, das zur gleichen Zeit wie Nielsens Dritte komponiert wurde. Von Schönberg war das „Lied der Waldtaube“ aus den Gurreliedern, die ebenfalls 1911 abgeschlossen, wenn auch schon 1900 begonnen worden waren, zu hören. Hier freilich hörte man sie in der Fassung für Kammerorchester, die der Komponist 1922 hergestellt hatte. Karen Cargill, Mezzosopran, sang eindrucksvoll.

Nielsens Dritte ausführlich zu schildern, lag deshalb nahe, weil man sich fragen kann, wie ein so frohgestimmter, manche sagen: vitalistischer Komponist denn auf den Weltkrieg reagieren wird, der wenige Jahre später hereinbricht. Nun, an ihm hat Dänemark nicht teilgenommen. Und wenn man Nielsens während des Krieges komponierte Vierte hört, er nannte sie „Das Unauslöschliche“ (sie steht am Freitag, Samstag und Sonntag auf dem Programm), so ergibt sich, dass seine Lebensfreude ungebrochen ist. Die Musiksprache ist noch wenig verändert, allerdings fallen einige stark nachdenkliche Passagen auf – harte unaufgeregte Linien, die schneidend gegeneinander gesetzt sind. Die Fünfte dann, komponiert 1921/22, wurde am 14. September gegeben. Hier war Gelegenheit, das Royal Danish Orchestra, Europas ältestes, zu hören. Seine Präzision und farbliche Pracht waren bewundernswert, etwas weniger zufrieden war ich mit Michael Boder, der das Werk dirigierte. Doch ist das wohl Ansichtssache. Boder hob das Strukturelle der nun avancierteren Musiksprache des Komponisten hervor, so recht nachvollziehbar wurde mir das Werk aber nicht; der Nachvollzug gelingt mir besser, wenn ich die CD-Einspielung von Herbert Blomstedt höre. Und eins muss man wirklich kritisieren: Im ersten Satz spielt eine Trommel eine Hauptrolle und das Programmheft weist richtig darauf hin, dass ihre Schläge sich nicht im Gleichtakt mit dem Orchester halten. Diese ganz wichtige Geste hob Boder, anders als Blomstedt, fast gar nicht hervor.

Die irreguläre Trommel, das ist nun doch ein Zeichen des Erschreckens vor dem gewesenen Weltkrieg. Man sagt auch, im Verlauf des ersten Satzes komme es zur „Katastrophe“, die dann im zweiten überwunden werde. Das würde ich so nicht unterschreiben. Der Reihe nach: Der erste Satz beginnt mit Naturlauten, wie ja hervorgehoben wird, dass Nielsens Lebensfreude vom Leben auf dem Land gespeist sei. Auch hier bricht dann etwas aus, das einem Tanz nicht ganz unähnlich ist; an Kraft, Rausch und Wildheit kann es sich mit dem Walzer der Dritten durchaus messen. Es ist kein Bolero, bewegt sich aber in der phrygischen Tonart, mit der Maurice Ravel in der zweiten Hälfte seines Boléro-Themenkomplexes (1928) das Spanische evoziert. Dazu schlägt die Trommel, wozu man Militärisches assoziiert. Es folgt etwas von der Art langsamer Mahler-Sätze wie in dessen Dritter oder Neunter, hier als Mittelteil noch des ersten Satzes. Ein Reflexionsstück, thematisch hervorgegangen aus den Anfangsgesten des Satzes. Danach wieder die Trommel, die sich nun immer mehr gegen den Orchestertakt verselbständigt. Die Orchestermusik wird laut und höchst dissonant. Das soll die „Katastrophe“ sein. Aber ist es eine? Ich höre eine gewaltige Akkordfolge, die völlig mit sich eins ist und ein gewisses Pathos verströmt, in die sich allerdings andere ebenso laute Klänge einmischen, Klänge anderer Tonart, so dass polytonale Dissonanz entsteht. Gelingt es ihnen, die Logik des akkordischen Hauptstroms in Zweifel zu ziehen? Nein. Wie ja auch die Trommel nichts ausrichtet.

Dass hier mehrere Musiken gleichzeitig erklingen, erinnert wieder an Ives, der diesen Weg ebenfalls gegangen und freilich bei noch viel komplexeren Gebilden angelangt ist. Ives mischt mehrere Szenen so zusammen, dass sie nicht einmal demselben Takt folgen. So weit geht Nielsen nicht. Vergleichbar ist es aber doch. Eine inhaltliche Deutung bietet sich an: Der Däne sieht, was der Krieg angerichtet hat, sieht es aber von Dänemark aus. Die Lebensfreude bleibt immer noch ungebrochen. Der zweite und letzte Satz mit seinen beiden Fugen macht das ganz deutlich, obwohl sich auch das Dissonante in Erinnerung bringt; man spricht von einer per aspera ad astra-Entwicklung, und der letzte langgezogene Akkord der Symphonie ist strahlendstes, man möchte sagen unverschämtestes Dur. Kann man sich so etwas denn anhören nach all den schlimmen Ereignissen, die Nielsens Fünfter gefolgt sind und immer noch folgen? Die Dänen jedenfalls dürfen ein gutes Gewissen dabei haben. Am Ersten Weltkrieg nahmen sie, wie gesagt, nicht teil. Im Zweiten haben sie sich geweigert, den Nazis ihre Juden auszuliefen. Der dänische König drohte, er würde sich selbst den Judenstern anstecken, wenn aus seinem Land Juden abtransportiert würden. Und die Nazis gaben klein bei. Hannah Arendt erzählt es in ihrem Eichmann-Buch.

Seiner Fünften hat Nielsen keinen Namen gegeben, die Sechste, komponiert 1924/25, nannte er „Sinfonia Semplice“. Sie wurde am 9. September in einer Fassung für Kammerorchester aufgeführt, die man auch deshalb wählte, weil sie dergestalt mit Alban Bergs ebenfalls bis 1925 fertig komponiertem Kammerkonzert für Klavier und Geige mit dreizehn Bläsern verglichen werden konnte. Im Konzertheft war denn auch zu lesen, manches bei Nielsen erinnere an Berg und gerade diese Symphonie sei voller atonaler Passagen. Ich glaube nicht, dass das stimmt. In der Fassung für Kammerorchester, die 2009 von Hans Abrahamsen eingerichtet wurde, hört es sich freilich so an, besonders weil man es auch so spielen kann, dass es sich so anhört. Das Original ist in dieser Hinsicht deutlicher; wenn da die Instrumentalgruppen gegeneinander spielen, hört man, dass es sich wieder um Polytonalität handelt. Die ist jetzt aber nicht mehr dazu da, Beunruhigung zu demonstrieren. Es ist ein wieder ganz unbekümmertes Werk, worin denn auch die eigentliche Nähe zu Bergs Kammerkonzert liegt, das ausnahmsweise einmal ebenso unbekümmert ist. Hervorstechend im Mahler Chamber Orchestra unter Thomas Sondergard, dem man gern zuhörte, war die brillant und leidenschaftlich vortragende Violinsolistin Isabelle Faust. Nebenbei trug sie eine interessante Blusenjacke, die vorn und hinten geometrische, an der Körpergestalt nicht orientierte Ausbuchtungen aufwies, als sei sie eine moderne Skulptur oder einem Science Fiction-Film entsprungen.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden