Carla del Ponte

Militärschlag Der öffentliche Diskurs über den Giftgasangriff vom 21. August verglichen mit den Normen, die ein Ankläger beachten muss, der vor Gericht jemanden beschuldigt

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Dieser Text ist nicht Ergebnis einer „Recherche“, da ich nur abschreibe, was heute jedermann in der F.A.Z. lesen kann. Es ist nicht mein Anliegen, über etwas zu informieren, vielmehr frage ich mich, was eigentlich das Anliegen unserer Leitmedien ist.

Wenn deren Titelseiten den Giftgaseinsatz vom 21. August in den Mittelpunkt stellen, liest man beständig, der Westen sei von der Schuld des Assad-Regimes überzeugt, die russische Regierung bestreite sie aber. Weiter nichts. Ist das Ausgewogenheit, Objektivität? Die russische Regierung bestreitet. Was soll ich als Zeitungsleser damit anfangen? Ich finde mich aufgefordert, zu fragen, wem ich mehr vertraue, Obama, Cameron und Hollande oder Putin. Man kann das eine rhetorische Frage nennen.

Die Titelseite der F.A.Z. von heute steht natürlich im Zeichen der morgigen Bundestagswahl. Zu Syrien findet sich da nur eine Randnotiz, des Inhalts, die Regierung des Landes habe in den Worten der OPCW (Organisation für das Verbot von Chemiewaffen) eine „erste Erklärung“ über das Giftgasarsenal übergeben. Was an anderen Tagen vorn stand, steht heute auf Seite 6 – es wird ja beständig wiederholt -: „Ohne Russland beim Namen zu nennen, wandte sich [US-Außenminister] Kerry energisch gegen Moskaus Versuche, den Bericht der UN-Chemiewaffeninspekteure und deren Objektivität in Frage zu stellen. ‚Sie sind mit mehreren entscheidenden Details zurückgekehrt, die bestätigen, dass das Assad-Regime schuldig ist, den Angriff (mit Sarin am 21. August) verübt zu haben, auch wenn das nicht das Mandat des Berichts war. Jeder, der die Tatsachen liest ..., versteht, was sie bedeuten‘, sagte Kerry.“

Weiter nichts.

Jeder, der die Tatsachen „liest“. Welche Tatsachen? Was kriege denn ich zu lesen? Schlage ich nicht die Zeitung auf, um über Tatsachen informiert zu werden? Nun, aber wenn nicht ich, hat ja Kerry „gelesen“.

Von dieser Meldung völlig abgetrennt erscheint auf Seite 10 ein Artikel von Rainer Hermann, in dem ich erfahre: „Viel weist darauf hin, dass das Verbrechen von der syrischen Armee begangen worden ist; andere Täter sind aber nicht auszuschließen. So hatte die türkische Staatsanwaltschaft in der vergangenen Woche Ermittlungen gegen fünf Syrer und einen türkischen Staatsbürger wegen des Verdachts eingeleitet, an der Herstellung von Sarin zu arbeiten.“ „Bereits im Mai hatte Carla del Ponte, die frühere Chefanklägerin des Internationalen Jugoslawien-Tribunals, gesagt, Giftgasangriffe würden in Syrien auch von Rebellen verübt.“

Ich erfahre aus demselben Artikel, dass Saudi-Arabien „die Rebellen – vor allem die Extremisten – mit Waffen bis hin zu Panzer- und Flugabwehrraketen“ beliefert, und zwar seit 2011. Darüber, was Flugabwehrraketen können, informiert zum Beispiel Wikipedia. Das sind Raketen, die andere Raketen entweder durch den bloßen Aufprall oder dadurch zerstören, dass sie einen Gefechtskopf enthalten, einen Sprengkopf, der gezündet wird. Allgemeiner betrachtet heißt das, sie enthalten etwas, das freigesetzt werden kann. Die letztgenannte Zerstörungsweise ist die konventionelle.

Es ist also nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht sicher zu entscheiden, von welcher Seite der Giftgasangriff vom 21. August ausging. Ob von der, die hofft, der Westen möge militärisch intervenieren, oder von der, die das vermeiden will. Aber warum steht das nicht auf der Titelseite, wenn es dort um den syrischen Bürgerkrieg geht? Warum lese ich da „Kerry ist sicher“ - doch „Russland bestreitet“ -, statt: „Obwohl andere Täter nicht auszuschließen sind, hat Kerry abermals erklärt, er sei sicher...“?

Man kann nicht sagen, die F.A.Z. – und für andere Leitmedien gilt dasselbe - informiere nicht. Sie informiert, sie stellt sogar richtig. Doch ihr Hauptanliegen ist beides anscheinend nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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